Die Fachstelle für Adoptionsprozesse und die Herkunftssuche im Kanton Zürich
Zur Adoption im Kanton Zürich«Wenn ihr dann genug habt, werft ihr mich weg»
Nun sind wir eine Familie – für Adoptiveltern und ihre Kinder ist der Weg dahin selten nur einfach. In dieser Serie erzählen zwei Elternpaare vom beglückenden Gefühl, aber auch von Belastungen und grossen Fragen, die sich bei Adoptionen oft unweigerlich stellen.
Kira* kam mit zehn Jahren aus Russland zu ihren Adoptiveltern in die Schweiz. Zuvor hatte sie bereits vier Pflegefamilien durchlaufen müssen. Ihre Adoptivmutter erzählt, wie Kira langsam wieder Vertrauen in andere fasst.
«Wenn ihr dann genug habt, werft ihr mich weg!» - Das war der Satz, der für uns fast am schlimmsten war. Kein Kind sollte doch so denken müssen. Aber Kira sagte den Satz immer wieder. Die Psychologen haben uns mehrfach vorgewarnt. Sie meinten, ein Kind mit so vielen Traumata und abgebrochenen Beziehungen würde uns erst kräftig testen wollen, um zu wissen, ob wir wirklich anders wären oder nicht. Und das hat sie. Glauben Sie uns, das hat sie wirklich. Auch heute brauchen wir alle immer einmal wieder Geduld. Dass die Angewöhnungszeit so schwer werden würde, hätten wir aber nie gedacht.
Was eine Adoption bedeutet, ist im Voraus nur schlecht vorstellbar
Ein Kind adoptieren wollte ich schon seit ich etwa vierzehn Jahre alt war, mit einer Freundin besuchte ich damals ein Kinderheim. Die Kinder spielten im Innenhof und als sie uns sahen, rannten sie von allen Seiten herbei und riefen übermütig «Mama, Mama!». Als ihnen das Erziehungspersonal erklärte, dass wir selbst noch Kinder wären und nicht ihre Mütter werden könnten, spielten sie traurig und enttäuscht weiter. Da habe ich mir geschworen: Wenn ich einmal gross bin, werde ich ein oder zwei Kinder aus diesem Kinderheim adoptieren. Als ich nach einem Unfall keine leiblichen Kinder bekommen konnte, war für mich und meinen Mann klar, was wir tun wollten.
Bei all den Abklärungen, die für die Adoption notwendig waren, wurde uns immer wieder gesagt, dass eine Adoption eine grosse Aufgabe ist. Was das wirklich bedeutet, konnte ich mir im Voraus aber trotzdem nur in unscharfen Zügen vorstellen. Unterdessen weiss ich, dass viele Adoptiveltern vor erheblichen Herausforderungen stehen. Dennoch denke ich, dass Kira mit ihrer Prägung eine besonders anspruchsvolle Geschichte mitgebracht hat.
Kira war zehn Jahre alt, als wir sie nach einem 3-jährigen, ausführlichen Verfahren in Russland abholen durften. In Russland läuft der Adoptionsprozess über ein Gericht, wobei allen Beteiligten ihre Rechte und Pflichten erklärt werden und ältere Kinder auch danach gefragt werden, ob sie diese Adoption möchten. Bereits vor Gericht hat uns Kira warnend angekündigt: «Macht das nicht! Adoptiert mich nicht. Ihr werdet nur enttäuscht sein, denn ich werde euer Leben ruinieren.»
Odyssee an Pflegefamilien und Kinderheimen
Kira wuchs an keinem schönen Ort auf. Einem Ort, an dem mein Mann und ich uns beim ersten Besuch dachten, dass wir da nicht einmal begraben sein möchten. Sie wurde ihren Eltern als fürsorgliche Entzugsmassnahme weggenommen als sie eineinhalb Jahr alt war und hatte danach bereits mehrere Pflegefamilien und Kinderheime durchlaufen müssen, bevor sie zu uns kam. Auf dieser Odyssee muss man ihr einmal eingebläut haben, dass sie Familien ruiniere – und paradoxerweise versuchte sie wohl, diese Prophezeiung bei uns zu überprüfen. Genau wie bei allen anderen Familien auch, bestimmt sie seither unseren ganzen Rhythmus. Im Unterschied zu anderen Familien bestimmt sie ihn aber zusätzlich mit ihrem ganzen Rucksack.
Paradoxerweise versuchte Kira wohl, diese Prophezeiung bei uns
zu überprüfen.
Die Schwierigkeiten zeigten sich bereits zu Beginn. Kira floh sogleich in ihr Zimmer, sobald mein Mann heimkam, und auch sonst näherte sie sich ihm auf maximal zwei Meter. Emotional zeigte sie anfänglich praktisch keine Regungen. Sie konnte sich Kinderfilme mit traurigen Szenen ansehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Mit der Zeit zeigte sie allerdings mehr und mehr zwei Seiten: Abends vor meinem Mann konnte sie unglaublich angepasst sein, zurückhaltend, fröhlich. Auch in der Schule waren die Lehrpersonen begeistert von ihr. Wenn Kira jedoch mit mir alleine war, tat sie alles, um mich an meine Grenzen zu bringen. Nie hätte ich mir vorstellen können, wie ein Kind Unsicherheiten und Ängste in Form von Wut ausleben kann. Und nie hätte ich von mir gedacht, dass es einmal von Vorteil sein würde, wenn ich mich für einen Moment in mein eigenes Badezimmer einschliesse. Doch diese Momente gab es, sogar mehrmals.
Zweifel an der eigenen Zurechnungsfähigkeit
Ich glaube, als ihre Mutter, die die meiste Zeit mit ihr verbracht hat, habe ich von diesem Rucksack am meisten abbekommen. Immer wieder habe ich spüren müssen, wie sie mich eigentlich braucht und meine Nähe sucht, wie schwierig es aber für sie gleichzeitig ist, sich auf die Bindung einzulassen. Zu oft muss sie zuvor wohl schon verletzt worden sein, zu selten die Erfahrung gemacht haben, dass jemand für sie da ist und das auch bleibt. Ich glaube, ihre Zerrissenheit und ihre Angst sind für Aussenstehende kaum nachvollziehbar. Abends hat mir selbst mein Mann meine Erlebnisse manchmal kaum geglaubt. Das war für mich fast das Schwerste. Denn so begann ich, an meiner eigenen Wahrnehmung und Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln. Die Adoption war damit auch für die Beziehung ein Stresstest; die Belastungen waren allgemein gross, darüber hinaus hatte Kira aber auch ein gutes Gespür dafür, uns gegenseitig auszuspielen und gegeneinander aufzubringen.
Ihre Zerrissenheit und Angst sind für Aussenstehende kaum nachvollziehbar.
Sicher spielt das Alter bei der Adoption eine Rolle, wie tief die Prägung ist. Ich glaube aber, dass kaum ein Adoptivkind ganz ohne Rucksack in eine neue Familie kommt. Ein grosses Wissen um Eigenheiten von traumatisierten Kindern finde ich daher enorm wichtig; nur so werden manche Verhaltensmuster überhaupt erst verständlich. Inmitten all dieser Alltagsherausforderungen darf man aber auch niemals vergessen auf sich selbst zu achten. Denn bei einer Adoption ordnet man sein ganzes Leben dem Kindeswohl unter – hat man aber seine Grenzen erreicht und die eigenen Reserven aufgebraucht, funktioniert nichts mehr. Daher darf oder muss man bei allem Verständnis für das Kind unbedingt auch bei sich selbst Nachsicht zeigen. Hätte mein Mann mir nicht eines Tages gesagt, ich müsse nun Ferien nehmen – und zwar alleine, ohne ihn und unsere Tochter – ich wüsste nicht, ob ich die schwierigsten Zeiten durchgestanden hätte.
Unterstützung ist wichtig
Die Beschäftigung mit dem Thema und die Einschätzungen von Fachpersonen haben mir sehr geholfen, Kiras Verhalten einordnen zu können und auch zu verstehen, dass es für einen regulären Entwicklungsverlauf vielleicht aussergewöhnlich, für Adoptivkinder aber normal sein kann. Auch psychologische Begleitung finde ich unglaublich wichtig. Darüber hinaus sind die Unterstützung anderer Adoptiveltern sowie Familie und Freunde enorm wertvoll. Geht man diesen Weg alleine, stelle ich es mir sehr schwer vor.
Psychologische Begleitung finde ich unglaublich wichtig.
Unser Weg war auch mit guter Unterstützung steinig und wir alle haben viel lernen müssen. Jeder für sich und gemeinsam als Familie. Es war kein einfacher Beginn, aber wir möchten Kira auf keinen Fall mehr missen in unserem Leben. Sie ist emotional so reif, macht sich Gedanken über Dinge, die sich andere Kinder in ihrem Alter noch lange keine machen, und sie muss einen unglaublichen Überlebenswillen haben. Denn ohne hätte sie ihrer Vergangenheit wohl kaum trotzen mögen. Das sind enorme Stärken, die Kira auszeichnen. Und dafür lieben wir sie. Dass wir nicht vorhaben, sie je wieder wegzuschicken, glaubt Kira aber bis heute nicht ganz.
Egal was noch kommt, wir geben Kira nicht wieder her
Fachleute sagen, es brauche fünf bis sieben Jahre, bis ein Adoptivkind richtig Vertrauen fassen und sich wie ein leibliches Kind fühlen kann. Nun, nach bald drei Jahren, ist es ruhiger geworden. Die intensiven Phasen kommen noch, aber nicht mehr täglich wie früher, sondern vielleicht einmal im Monat, was sich richtig entspannt anfühlt. Allerdings glauben wir, dass sich mittlerweile bereits die ersten Anzeichen der Pubertät zeigen … Doch wenn wir als Familie die ersten zwei Jahre durchgestanden haben, dann halten wir auch das aus. Denn Kira gehört zu uns. Mit all ihren Eigenheiten.
*Name geändert
Dieser Familie waren folgende Literatur- und Medienempfehlungen im Prozess eine Unterstützung:
- Bruce Duncan Perry, Maia Szalavitz (2012): Für die Liebe geboren. Warum Einfühlung und Empathie so wesentlich sind.
- For Parents or Caregivers of Children from Hard Places – Trauma Lens Care
Eine Seite für Bezugspersonen von Kindern mit schwieriger Vergangenheit. Auf Englisch - Natalie L. Colich et al. (2020): Biological Aging in Childhood and Adolescence Following Experiences of Threat and Deprivation, A Systematic Review and Meta-Analysis.
Ein Beitrag aus der Forschung, um Entwicklungsschritte von Kindern mit schwieriger Vergangenheit besser zu verstehen. Auf Englisch