Ein Kind adoptieren – Eltern erzählen

Ein grosses Glück, aber kein Weg in eine heile Welt

Nun sind wir eine Familie – für Adop­tiv­el­tern und ihre Kinder ist der Weg dahin selten nur einfach. In dieser Serie erzäh­len zwei Eltern­paare vom beglü­cken­den Gefühl, aber auch von Belas­tun­gen und grossen Fragen, die sich bei Adop­tio­nen oft unwei­ger­lich stellen.


Billy* ist in den USA zur Welt gekom­men. Er wart wenige Wochen alt, als er mit seinen Adop­tiv­el­tern in die Schweiz kam. Ihre Geschichte sei nicht typisch, sagen Billys Adop­tiv­el­tern. Und sie hätten wahn­sin­nig viel Glück gehabt. Doch eine Erfah­rung hätten sie wohl gleich wie alle Adop­tiv­el­tern gemacht: Mit dem Weg der Adop­tion hätten sie keine heile Welt betre­ten. Im Folgen­den erzäh­len sie ihre Geschichte.

Sich um ein Kind «bewer­ben» – die USA als Adop­ti­ons­land

In den USA sind Adop­tio­nen über private Agen­tu­ren orga­ni­siert, wobei in der Regel un- oder neuge­bo­rene Kinder vermit­telt werden. Die leib­li­chen Mütter haben dabei das Recht, sich für ihr Kind Wunschad­op­tiv­el­tern auszu­su­chen. Als Adop­tiv­el­tern erstellt man folg­lich ein umfang­rei­ches Dossier, womit man sich sozu­sa­gen bei ihnen «bewirbt». Umge­kehrt erstel­len die Agen­tu­ren Dossiers für die schwan­ge­ren Frauen mit einem kurzen Abriss ihrer Geschichte.

Solche Dossiers wurden uns zuge­stellt, damit wir uns eine Bewer­bung über­le­gen konnten. Beim Durch­le­sen wurde uns schnell klar: Die Geschich­ten sind selten positiv, oft sind Drogen im Spiel. Da mussten wir für uns als Paar bald einmal fest­le­gen, wo unsere «rote Linie» ist. Denn kann man nur opti­male Umstände akzep­tie­ren, ist man prak­tisch chan­cen­los. Diese Linie zu finden, fanden wir zunächst schwie­rig. Wir führten viele Gesprä­che, auch mit Fach­leu­ten aus Genetik und Medizin, um mögli­che Auswir­kun­gen von Vorbe­las­tun­gen einschät­zen zu können. Irgend­wann setzten wir diese Linie recht hoch an. Wir wären offen für vieles gewesen, denn unser Wunsch war es, jeman­dem ein Zuhause zu geben.

Durch­hal­te­wille ist gefragt

Bis die Agentur unser Dossier abschlies­send geprüft hatte, die Eignungs­be­schei­ni­gung aus der Schweiz erstellt und alle Papiere inklu­sive Über­set­zun­gen bereit waren, vergin­gen Monate. Im Januar galten wir für unsere Agentur schliess­lich als vermit­tel­bar. In der Regel vergeht auch ab da viel Zeit, sofern sich über­haupt je eine Chance auf eine Vermitt­lung ergibt. Denn die Vorstel­lung, dass die Schweiz ein begehr­tes Land für die Auswahl sein könnte, ist ein Trug­schluss. Die über­wie­gende Mehr­heit der leib­li­chen Mütter wünscht sich eine Familie inner­halb der Landes­gren­zen. Wir stell­ten uns also auf eine lange und unge­wisse Warte­zeit ein. Doch Mitte April erhiel­ten wir völlig uner­war­tet den Bescheid: Eine Birth­mom hatte sich für uns entschie­den! Plötz­lich ging alles unglaub­lich schnell – denn die Geburt begann sieben Wochen zu früh. Wir liessen alles stehen und liegen und flogen mit dem nächs­ten Direkt­flug in die Staaten. Die Freude war natür­lich riesig. Gleich­zei­tig mussten wir aber damit rechnen, dass sich alles noch ändern konnte. Denn in diesem Bundes­staat steht es einer Birth­mom bis 72 Stunden nach Geburt zu, ihren Entscheid zu ändern.

Billy in unseren Armen – grosses Glück mit Unge­wiss­heit

Im Spital waren wir die Ersten, die Billy in unseren Armen halten durften. Ein unbe­schreib­li­ches Gefühl. Billy war gesund und wunder­schön, aber noch sehr klein. Er wog gerade einmal 1.6 Kilo­gramm. Neben dem Bangen um den defi­ni­ti­ven Entscheid von Billys Birth­mom waren wir daher auch in Unge­wiss­heit über Billys weitere Entwick­lung. Auch finan­zi­ell bedeu­tete das eine grosse Unsi­cher­heit für uns, denn Adop­tiv­el­tern verpflich­ten sich, für sämt­li­che unge­deck­ten Gesund­heits­kos­ten rund um die Geburt aufzu­kom­men. Je nach Verlauf hätte das unseren finan­zi­el­len Ruin bedeu­ten können – der Aufent­halt auf der Inten­siv­sta­tion ohne Kran­ken­kasse kostet im US-Gesund­heits­sys­tem 10‘000 bis 15‘000 Franken pro Tag. Schliess­lich hatten wir aber auch hier Glück. Billys leib­li­che Mutter blieb bei ihrem Entscheid und Billy nahm auch weiter­hin kräftig zu. Ausser­dem schaff­ten wir es, für ihn eine Kran­ken­kasse abzu­schlies­sen, die uns mehr Sicher­heit gab. Nach 18 Tagen konnten wir das Spital schliess­lich zu dritt als kleine Familie verlas­sen.

Admi­nis­tra­ti­ver Spiess­ru­ten­lauf

Insge­samt verbrach­ten wir 78 Tage in den Staaten, bis wir Billy mit uns nach Hause in die Schweiz nehmen durften. In dieser Zeit galt es, den Unmen­gen an behörd­li­chen Vorga­ben nach­zu­kom­men, vom kanto­na­len Migra­ti­ons­amt, der Justiz­be­hörde, der KESB, der Zentral­be­hörde Adop­tion in der Schweiz sowie vom Gericht in den USA. Allge­mein muss man sich bewusst sein: Adop­tion ist eine Doku­men­ten- und Papier­schlacht. Alles ist ein inten­si­ver Prozess, sowohl die Eignungs­ab­klä­rung in der Schweiz als auch die unzäh­li­gen Schritte danach. Dabei muss man seinen Wunsch unauf­hör­lich begrün­den und sich bewei­sen, zum Beispiel mit einem mehr­sei­ti­gen Gesund­heits­be­richt. Das braucht viel Schnauf sowie eine einwand­freie Selbst­or­ga­ni­sa­tion. Auch darf man sich nichts vorma­chen – die Kosten beim Herkunfts­land USA sind hoch. Sie müssen Bestand­teil der Planung sein. Doch die Recht­fer­ti­gun­gen, die Papiere, die Spiel­re­geln, die Kosten, all das stellt man besser nie in Frage. Denn letzt­lich geht es ja bei allem um eines: das Kindes­wohl. Mithilfe eines hervor­ra­gen­den Anwal­tes durften wir schliess­lich auch die admi­nis­tra­ti­ven Hürden in den USA über­win­den und unsere Anfangs­zeit als Familie trotz allem als etwas sehr Beson­de­res erleben. Kurz, es war eine über­wäl­ti­gende Zeit.

Das entspann­teste Baby, das man sich vorstel­len kann

Mitt­ler­weile ist Billy drei Jahre alt und entwi­ckelt sich präch­tig. Er und seine leib­li­che Mutter wurden beide bei der Geburt clean getes­tet, hierfür sind wir unend­lich dankbar. Wir haben die Kinder gehört, die in den Brut­käs­ten neben Billy lagen, so ein Frisch­ge­bo­re­nes auf Entzug, das geht nahe. Doch Billy war schon als Neuge­bo­re­ner das entspann­teste Baby, das man sich vorstel­len kann. Ihn aufwach­sen zu sehen, ist unglaub­lich schön – obwohl es natür­lich in seinem Alter wie bei allen Kindern auch manch­mal Nerven braucht.

Iden­ti­tät, Rassis­mus, Entwur­ze­lung – grosse Fragen an die Zukunft

Billy weiss, dass er in den USA zur Welt gekom­men und mit dem Flug­zeug herge­kom­men ist und dass es ein Bauch­mami gibt. Wir haben ihm dafür sein eigenes Lebens­buch erstellt, das wir regel­mäs­sig mit ihm anschauen. Trotz­dem gibt es für Billy bisher nur uns, für ihn sind wir klar seine Bezugs­per­so­nen, seine Eltern. Die Adop­tion wird als Thema sicher einmal kommen, darauf müssen wir uns vorbe­rei­ten – doch das muss ja nicht zwin­gend problem­be­haf­tet sein.

Ob wir es dann gut wegste­cken, falls uns Billy als Teen­ager einmal um die Ohren haut, wir hätten ihm nichts zu sagen, wir seien schliess­lich nicht seine Eltern? Wir werden sehen. Doch auch wir haben unseren Eltern Schlim­mes vorge­wor­fen, gar umge­kehrt, «Wär‘ ich bloss adop­tiert!». So haben wohl alle ihre Jugend­sätze, das gehört zur Jugend dazu. Mehr sorgt uns das Thema Rassis­mus. Neben unserem Sohn sehen wir bleich aus. Wie gut können wir ihm bei Diskri­mi­nie­rung Hilfe­stel­lung geben, ohne solche selbst erlebt zu haben? Auch seine Herkunft und Iden­ti­tät macht uns manch­mal nach­denk­lich. Durch unsere Adop­tion konnten wir Billy zwar eine Zukunft mit vielen Möglich­kei­ten geben. Trotz­dem beschäf­tigt uns der Gedanke, inwie­fern wir ihn damit bei aller Liebe auf eine Art entwur­zelt haben. Es bedeu­tet uns daher viel, dass wir ihm aufgrund seines Dossiers erzäh­len können, warum er bei uns lebt und dass wir sagen können: Dein Bauch­mami hat uns für dich ausge­wählt. Wie inter­es­siert er einmal an seinen Wurzeln sein wird, wird sich zeigen – wir werden ihn aber sicher bei all seinen Bedürf­nis­sen unter­stüt­zen.

*Name geän­dert