Die Fachstelle für Sexualpädagogik und Beratung. Ein Angebot der Schulgesundheitsdienste der Stadt Zürich, für Jugendliche und Fachpersonen.
Zu Lust und FrustAufgeklärte Jugendliche – wie vorgehen?
Aufklärung ist wichtig. Doch wie geht man sie als Eltern am besten an? Der Sohn möchte lieber im Erdboden versinken, als mit uns über Sexualität reden, die Tochter will es genauer wissen, als uns eigentlich lieb ist – und jetzt? kjz-Expertin Katharina Beerli und Linda Bär von der Fachstelle Lust und Frust geben Antworten.
Sexualerziehung beginnt nicht erst mit der Aufklärung über die erste Monatsblutung, Kondome oder den Stimmbruch. Wann beginnt sie eigentlich?
Katharina Beerli: Die Sexualität gehört von Anfang an zum Leben eines Kindes dazu. Schon Babys entdecken ihren Körper und erleben dabei Gefühle, die spannend oder anregend sind. Bewusst oder unbewusst beginnt Sexualerziehung daher bereits ab Geburt. Denn je nachdem wie wir Eltern darauf reagieren, steuern wir diese Entwicklung. Je offener wir damit umgehen, desto unbeschwerter kann sie ablaufen.
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Was heisst das konkret, offen damit umgehen?
Linda Bär: Das heisst zum Beispiel, dass wir Körperteile richtig benennen: Penis, Vulva, Po etc. Oder dass Periodenprodukte nicht versteckt sind und Mütter beispielsweise erklären, warum sie gerade Bauchschmerzen haben. Neben dieser Offenheit ist aber genauso wichtig, Kinder von Anfang an in ihrem Empfinden für die eigenen Grenzen zu stärken. Also dass wir sie etwa nicht gegen ihren Willen umarmen oder ihnen Küsse aufdrücken, sondern stets die Zustimmung einholen und respektieren, wenn ihnen gerade nicht danach ist.
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Dennoch ist die Pubertät eine Art Zäsur. Wann ist ein guter Zeitpunkt, um auf neu aufkommende Themen rund um die Sexualität einzugehen?
KB: Das ist sehr individuell. «Den» Zeitpunkt gibt es nicht und das Vorgehen hängt stark von der Familienkultur und dem bisherigen Umgang mit Sexualität ab. Wenn man davon ausgeht, dass die ganze Breite der Gefühlswelt seit Kindesjahren Platz hat, erübrigt sich die Frage des Zeitpunkts aber eigentlich. Im besten Fall kommt das Kind so von sich aus mit seinen Fragen und immer stets dann, wenn es auch bereit für die Antworten ist. Alle Themen auf ein einziges Aufklärungsgespräch zu kondensieren, empfehle ich nicht. Das kann sehr belastend sein für beide Seiten und der Erfolgsdruck ist enorm.
LB: Die Themen können auch ohne spezifische Fragen der Kinder im Alltag präsent sein. Zum Beispiel in Geschichten, Liedern oder Bildern, in denen es nicht offensichtlich um Aufklärung geht, die sich aber für Gespräche über Körper, Gefühle, Beziehungen etc. anbieten. Für Kinder gibt es wunderbare Bücher dafür, für Jugendliche ist das Angebot enorm breit. Was einen als Eltern anspricht, kann man zuhause gut zugänglich aufliegen lassen. Bei allen Antworten rund um Aufklärung muss übrigens nicht immer die Frage «Wie ist es denn bei dir?» oder die Erfahrung der Eltern im Zentrum stehen. Über andere zu sprechen, eben etwa Figuren aus einem Buch, Film oder Song, allenfalls Bekannte und Verwandte, kann manchmal ein leichterer Zugang sein.
Und wenn die Fragen ausbleiben?
KB: Als Eltern haben wir die Verantwortung dafür, dass unser Kind an alle notwendigen Informationen kommt, die es braucht, um sich selbst zu schützen. Dazu gehört auch die Sexualität. Ab der Mittelstufe oder ab Beginn der Oberstufe dürfen Eltern ruhig ab und zu nachfragen: «Was interessiert dich? Was weisst du schon und wo brauchst du noch Informationen? Kann ich dir diese geben oder ist es dir lieber, wenn du sie anderweitig holst?» Je nach Reaktion des Kindes merkt man schnell, ob der Moment gerade passt oder nicht.
LB: Vielleicht kann man auch einmal fragen, warum keine Fragen kommen.
KB: Und bei schüchternen Kindern könnte man zum Beispiel Vorschläge machen. «Wenn ich dich wäre, würde mich vielleicht diese Frage interessieren. Was meinst du?» Man kennt ja sein Kind und kann etwa abschätzen, wie viel Information es wann verträgt.
In der Pubertät ist die Abgrenzung zu uns Eltern ein grosses Thema. Sind wir dennoch die richtigen Ansprechpersonen?
KB: Das ist nicht so einfach zu beantworten. Ja und nein. Die Eltern sind einerseits Vertrauenspersonen und je offener der Umgang in der Familie von Beginn an ist, desto eher wenden sich Kinder auch in der Pubertät mit Fragen an die Eltern. Andererseits ist jedes Kind anders und nicht alle Eltern fühlen sich gleich wohl mit dem Thema. Hinzu kommt, dass Kindern nun sowieso vieles grundlegend peinlich und unangenehm ist, im Zusammenhang mit den Eltern sowieso. Bei der Frage, ob wir nun die Richtigen sind oder nicht, ist daher in jedem Fall wichtig, dass wir das Kind und seine Bedürfnisse in den Fokus stellen, und nicht uns selber.
Was empfehlen Sie Eltern im Weiteren?
LB: Zunächst klären sie am besten mit sich selbst, wie sie das Thema genau angehen möchten. Dazu gehören Fragen wie: Wie habe ich Aufklärung selber erlebt? Was war gut, was hätte ich mir anders gewünscht? Welche Themen sind mir besonders wichtig und warum? In einem zweiten Schritt geht es darum, wie man das nun in Einklang bringen kann mit den Bedürfnissen des Kindes. Wichtig finde ich ausserdem, dass nicht nur über Gefahren gesprochen wird, sondern auch über die schönen Seiten der Sexualität. Etwa über Zärtlichkeit und Lust. Beobachtet ein Kind zum Beispiel ein Pärchen beim Küssen, kann man das positiv thematisieren: «Gell, das macht den beiden sicher gerade Spass.» Bei Sexszenen in Filmen könnte man besprechen, dass das auch zum Zuschauen aufregend ist oder in den Genitalien schöne Empfindungen auslösen kann.
Wichtig ist, dass wir das Kind und seine Bedürfnisse in den Fokus stellen, und nicht uns selber.
Katharina Beerli, kjz-Expertin
Nicht mit allen Themen mögen wir uns gleich wohl fühlen. Gerade den ersten Samenerguss zu thematisieren mag für eine Mutter etwas weniger Vertrautes sein, wie für einen Vater die Monatsblutung. Wie können sie damit umgehen?
LB: Ich würde dazu raten, diese Unsicherheit anzusprechen. Vielleicht zuerst mit dem anderen Elternteil oder anderen Vertrauenspersonen und dann gegenüber dem Kind: «Hey, es ist mir unangenehm darüber zu reden, aber eigentlich ist es ja ganz normal, alle erleben das in der Pubertät. Es ist nichts, wofür man sich schämen muss. Wenn es passiert, dann bedeutet dies …»
Für alle Veränderungen der Pubertät gilt: Kinder müssen wissen, was auf sie zukommt, bevor es so weit ist. Da passiert so vieles, Intimhaare spriessen, Penis, Hoden und Brüste wachsen, der Schweiss verändert sich, Pickel können entstehen und es kommt eben auch der erste Samenerguss oder die erste Monatsblutung. Deshalb werden diese Themen auch vom Lehrplan abgedeckt. Samenerguss und Monatsblutung werden im Zyklus 2 (3. bis 6. Primarschule) thematisiert. Dies könnte ein Aufhänger für ein Gespräch zuhause sein.
Was gilt es bei einem Gespräch über Verhütung zu beachten?
LB: Auch Verhütung soll thematisiert werden, bevor die Jugendlichen sexuell aktiv werden. Das werden sie alle zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Studien sagen, dass etwa die Hälfte der Jugendlichen bis 16-jährig sexuelle Erfahrungen gemacht haben und die andere Hälfte nicht. In der Schule wird Verhütung im Zyklus 3 (1.-3. Sekundarstufe) durchgenommen. Das erachte ich als sinnvollen Zeitpunkt. Dabei müssen zwei Themen abgedeckt werden: Schutz vor ungeplanter Schwangerschaft und vor Geschlechtskrankheiten. Wählt man dafür das Gespräch, empfehle ich grundsätzlich, nicht die Perspektive des Kindes in den Fokus zu stellen. Also nicht «wenn du dann Sex hast», sondern «wenn zwei Personen miteinander Sex haben».
Welche weiteren Punkte finden Sie wichtig beim Austausch zum «ersten Mal»?
LB: Grenzen und Zustimmung haben wir schon angesprochen – im Idealfall hören alle Beteiligten gut auf sich selber, tun nichts, was sie nicht wollen, und handeln, wenn sich etwas nicht gut anfühlt. Die Schulung dieser Gefühlswahrnehmungen bei sich und anderen beginnt allerdings lange vor den ersten sexuellen Erfahrungen und hört, glaube ich, ein Leben lang nicht auf. Im Weiteren würde ich wegkommen vom Ausdruck «erstes Mal». Es gibt ganz viele erste Male, erster Zungenkuss, erstes Verliebtsein, erste intime Berührungen, erster Orgasmus mit sich selbst, mit anderen usw. Was genau ist mit erstem Mal gemeint? Sexualität beginnt nicht erst, wenn sich eine Vagina um einen Penis schliesst, sie kann ganz ohne Penetration auskommen. Ausserdem gibt es viele Mythen rund um dieses sogenannte erste Mal. Da finde ich es wichtig, Kinder und Jugendliche richtig aufzuklären. Es gibt zum Beispiel kein Jungfernhäutchen, das beim ersten Mal reisst. Entsprechend gibt es auch keinen körperlichen Beweis für Jungfräulichkeit. Die Öffnung der Vagina ist dehnbar. Wenn es blutet oder schmerzt beim Sex, hat das häufig nichts mit dem Hymen zu tun – der Fachbegriff für das, was eben fälschlicherweise Jungfernhäutchen genannt wird.
Für alle Veränderungen der Pubertät gilt: Kinder müssen wissen, was auf sie zukommt, bevor es so weit ist.
Linda Bär, Fachstelle Lust und Frust
Und wenn das Kind nicht mit uns über Sexualität reden möchte?
KB: Dann gilt es das zu respektieren. Als Eltern sollten wir keine Ansprüche erheben auf ein schambesetztes Thema. Wir dürfen aber unsere Verfügbarkeit deutlich machen im Sinne von: Ich bin da, wenn du mich brauchst. Aber du musst nicht mit mir reden, wenn du nicht möchtest. Auch Angebote zu machen ist erlaubt: «Welche Fragen beschäftigen dich? Möchtest du mit jemandem darüber reden? Soll ich mich kundig machen oder möchtest du dir die Antworten selbst organisieren?» Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass alle Veränderungen in der Pubertät überfordernd sein können. Kinder brauchen eine emotionale Stütze. Deshalb dürfen Eltern auch den Mut haben, in mehreren Anläufen Angebote zu machen – solange sie die Grenzen des Kindes respektieren.
Wie können wir sicherstellen, dass Kinder alle notwendigen Informationen erhalten, wenn das Kind nicht mit uns darüber reden möchte?
LB: Indem Eltern von klein auf über diese Themen reden, noch bevor sie schambesetzt sind. Da Aufklärung auch im Lehrplan 21 verankert ist, gibt uns das eine weitere Absicherung. Darüber hinaus finden Jugendliche natürlich auch fast alle relevanten Informationen im Internet. Trotzdem können Eltern Websites, Bücher, Filme etc. oder allenfalls andere Bezugspersonen für Gespräche vorschlagen.
KB: Die Eltern dürfen auch zeigen, dass sie sich sorgen und ihr Kind schützen möchten: «Mir ist es wichtig, dass es dir gut geht und dass du genug informiert bist, damit du weisst, wie du gut zu dir selber schauen kannst.»
Was, wenn Eltern sich bei Fragen rund um die Sexualität selbst nicht ganz wohl fühlen?
LB: Auch das ist in Ordnung. Die eigene Unsicherheit kann gut angesprochen und dem Kind transparent gemacht werden. Kinder merken das so oder so genau. Auch hier können wir Kontakte zu anderen Vertrauenspersonen, Fachstellen oder Fachpersonen an den Schulen vermitteln.
Und noch zum Thema Internet – wie sollen Eltern damit umgehen, dass Kinder heute so leichten Zugang zu Pornografie haben?
LB: Es stimmt, sobald Kinder alleine ins Internet gehen können, haben sie Zugang zu Pornografie. Sei es gewollt oder ungewollt. Deshalb gilt: Sobald ein Kind sein erstes Smartphone erhält, muss darüber geredet werden. Was sieht man in einem Porno? Wieso gibt es das? Warum schauen das einige Leute gerne, warum finden es andere abschreckend? Eltern können thematisieren, dass Pornos nicht die Realität abbilden, dass sie von und für Erwachsene produziert sind und wie andere Filme meist einem vorgeschriebenen Skript folgen. Auch wer Altersbeschränkungen auf dem Handy seiner Kinder einrichtet oder Apps, um gewisse Inhalte zu blockieren, sollte den Grund dafür erklären. Im Weiteren können Eltern die Kinder bitten, dass sie erzählen, wenn sie darauf stossen. Dass sich viele Jugendliche für Sexualität interessieren, sollte uns nicht verwundern. Das Wichtigste ist, dass wir mit ihnen im Gespräch bleiben.
Medienempfehlungen
Eine Auswahl möglicher Aufklärungsbücher für Kinder und Jugendliche, empfohlen von den Interviewpartnerinnen. Zu finden in den Bibliotheken des Kantons Zürich
- Klär mich auf, 101 echte Kinderfragen (2015) | Die wichtigsten Kinderfragen beantwortet mit Gespür für das, was Kinder wirklich wissen wollen | Das Folgebuch heisst Klär mich weiter auf (2018) | Ab 8 Jahren
- Kriegen das eigentlich alle? (2022) | Aufklärungsbuch mit echten Kinderfragen | Ab 9 Jahren
- Make love (2017) | Ein Aufklärungsbuch, das mit irreführenden Idealen, falscher Perfektion und Internetwissen aufräumt und stattdessen auf Intimität, Liebe, Kommunikation eingeht | Expliziter, ab 12 bis 16 Jahren
Informationen und Fachstellen für Jugendliche
- feel-ok.ch
Umfangreiches Online-Portal, u. a. zu Liebe und Sexualität - Hey You
Broschüre zur Sexualaufklärung für Jugendliche ab 12 Jahren, von Sexuelle Gesundheit Schweiz - Hoppel poppel aber mit Recht – Deine Gesundheit, deine Rechte
Informationsbroschüre zur sexuellen Gesundheit für Jugendliche, von Sexuelle Gesundheit Schweiz - lilli.ch
Umfangreiches Online-Portal, u. a. zu Liebe und Sexualität. Fragen einreichen möglich - Lust und Frust
Fachstelle für Sexualpädagogik und Beratung der Stadt Zürich
Eine Auswahl empfohlen vom Amt für Jugend und Berufsberatung (AJB) Zürich
Weitere Informationen für Eltern
- sexualerziehung-eltern.ch
Umfangreiche Informationsplattform der Stiftung Kinderschutz Schweiz und der Dachorganisation Sexuelle Gesundheit. Für Eltern von Kindern im Alter von 0 bis 18 Jahren - Mehr zum Thema Entwicklung des Kindes von 13 bis 18 Jahren
- Mehr zum Thema Gebrauchsanweisung Pubertät
Kinder in ihrer sexuellen Entwicklung altersgerecht begleiten: Eine reichhaltige Informationsplattform für Eltern von Kindern im Alter von 0 bis 18 Jahren der Stiftung Kinderschutz Schweiz und der Dachorganisation Sexuelle Gesundheit.
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