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Zum kjz-BeratungsangebotBabyglück ohne Glücksgefühle
Veröffentlicht am von Martina Friedli
Nicht immer führt ein neugeborenes Kind zu Eltern im Babyglück: Rund 15 Prozent aller Frauen entwickeln nach der Geburt eine postpartale Depression. Auch die Väter kann es treffen. Vera Tomaschett, Mütter- und Väterberaterin im kjz Meilen, führt aus, wie das Wissen um die Herausforderungen der Elternschaft helfen kann.
Die Vorstellung vom Babyglück ist, dass es automatisch auch zu Elternglück führt. Warum ist das nicht immer der Fall?
Vera Tomaschett: Ich denke, das Bewusstsein ist in der Gesellschaft zu wenig verankert, dass die Elternschaft eine der grössten Veränderungen im Leben überhaupt bedeutet: Die bekannte Welt wird einmal komplett auf den Kopf gestellt. Allein die körperliche und hormonelle Umstellung ist enorm, dazu kommt, dass die Beanspruchung durch das Baby hoch ist. Oft fehlt es an Schlaf und der Fokus kann sich unerwartet weit weg vom bisher Bekannten verschieben. Darüber hinaus befindet man sich von heute auf morgen in einer ganz neuen Rolle. Auch in der Partnerschaft ist das ungewohnt. Ausserdem kommen allgemein Unmengen an Unbekanntem auf einen zu. Das birgt einen wunderbaren Zauber, aber auch grösste Herausforderungen. Diese können einen unerwartet überrumpeln.
Wie äussert sich die postpartale Depression?
Oft äussert sie sich durch grosse Ängste und Überforderung. Die Mütter sind gereizt oder traurig, müssen viel weinen und die Betreuung des Babys wächst ihnen über den Kopf und fühlt sich mehr als Last an, als dass sie – wie vielleicht zuvor vorgestellt – beflügelt. Ihre Erschöpfung ist gross und oft leiden sie unter Schlafproblemen. Es ist ein hochsensibler Zustand, in dem ein einziges falsches Wort die Mütter komplett an den Anschlag bringen kann. In vielen Fällen plagt sie die tiefe Sorge: Ich sehe mein Baby an und weiss, ich sollte Freude und Glück fühlen, empfinde das aber einfach nicht. Eine postpartale Depression ist aber behandelbar und je früher sie erkannt wird, desto besser.
Es ist ein hochsensibler Zustand, in dem ein einziges falsches Wort die Mütter komplett an den Anschlag bringen kann.
Welche Faktoren spielen mit bei der Entwicklung einer postpartalen Depression?
Viele verschiedene. Dabei sind nicht alle bekannt und längst nicht alle können beeinflusst werden. Zu den bekannten Faktoren gehören: Eine hohe Stressbelastung in der Schwangerschaft sowie auch während und nach der Geburt, Geburtskomplikationen, psychische Vorerkrankungen in der Familie, Schlafmangel oder ein ungenügendes soziales Netzwerk. Eine Depression kann aber jede Mutter und jeden Vater treffen, auch nach glücklichen Schwangerschaften. Denn wie gesagt, der Übergang in die Elternschaft ist in vielerlei Hinsicht eine enorme Herausforderung.
Gibt es Schutzfaktoren?
Es ist sicher hilfreich, während der Schwangerschaft chronischen Stress zu umgehen und wenn man sich allgemein sicher und wohl fühlt. Genügend Schlaf ist dabei immer ein Schutzfaktor. Trägt man im Vorfeld allerdings ausschliesslich die rosarote Brille, ist es schwierig, mögliche auftretende Schwierigkeiten zu akzeptieren. Ich würde daher sagen, auch eine realistische Erwartung an die Elternschaft ist ein wichtiger Schutzfaktor. Denn je besser sich Eltern bewusst auf alle bevorstehenden Herausforderungen einstellen können, desto einfacher können sie ihre Ressourcen aktivieren. Hierbei hilft das Wissen um die ganze Kette an möglichen Versorgungsgliedern.
Was meinen Sie damit?
Frisch gewordene Eltern brauchen fachliche Unterstützung, kaum jemand kann alle Herausforderungen alleine meistern. Den meisten ist klar, dass zu dieser Versorgungskette der Frauenarzt oder die Frauenärztin, die Hebamme und bestimmte Vorbereitungskurse gehören. Doch die Kette hat noch viele Glieder mehr. Das Pflegefachpersonal auf dem Wochenbett, die Stillberatung, die Babymassage oder ein Tragetuchkurs gehören genauso dazu wie psychologische Anlaufstellen oder auch unsere Mütter- und Väterberatung. Je besser Eltern die vorhandene Versorgungskette kennen, desto sicherer können sie die Zeit nach der Geburt angehen. Auf Seite der Fachpersonen ist wiederum wichtig, dass alle an der Kette Beteiligten verstehen, was zu ihrer Aufgabe gehört; nämlich den Eltern nicht nur Fachwissen zu vermitteln, sondern auch emotionalen Halt, Wertschätzung und individuelle Unterstützung.
Je besser sich Eltern auf Herausforderungen einstellen können, desto einfacher können sie ihre Ressourcen aktivieren.
Was kann alles eine Ressource sein?
Eine unterstützende Beziehung ist sicher bedeutsam, besonders, wenn die Stressbewältigung gemeinsam gut funktioniert. Ähnlich können aber auch die eigenen Eltern, Geschwister, Nachbarn oder Freunde sowie der Austausch in Chats, Gruppen oder mit Vertrauenspersonen wertvoll sein. Bewegung an der frischen Luft und Sport, aber auch beispielsweise Optimismus und spiritueller Halt sind immer gute Ressourcen. Und natürlich der strukturelle Rahmen. Dazu gehören auch eine ausreichende Elternzeit, gute Organisation und ein ausgeglichenes Arbeitsmodell. Auch sämtliche Unterstützung im Alltag hilft, dass wieder mehr eigene Kräfte frei werden. Es ist aber auch ganz wichtig, dass jeder um seine eigenen Möglichkeiten zur Selbsthilfe Bescheid weiss.
Was meinen Sie mit «Selbsthilfe»?
Wir alle sind nicht nur abhängig vom Umfeld, sondern können – zu einem Teil – auch selbst Einfluss auf unsere psychische Gesundheit nehmen. Dies gelingt uns, indem wir gut auf unseren eigenen Bedarf achten, uns Zeit und Raum für uns selbst nehmen und uns bei neuen Herausforderungen genug Erholung gönnen. Zwischendurch dürfen wir ruhig auch einmal innehalten und stolz auf die eigene Leistung sein.
In meinen Beratungen sehe ich auch immer wieder, wie hilfreich erlebte Selbstwirksamkeit ist. Vor allem zu Beginn, wenn alles ganz neu ist, ist man als Eltern in so vielen Dingen unsicher. Alle reden mit, doch gleichzeitig sagt jeder etwas anderes. So können kleinste Dinge grösste Zweifel auslösen und aus der Bahn werfen, wie beispielsweise alleine die Frage nach dem «richtigen» Nuggi. Positive Erlebnisse und das Gefühl von Gestaltungsspielraum bei den eigenen Entscheidungen helfen enorm viel, damit sich die Herausforderungen bewältigbar anfühlen.
Wir können – zu einem Teil – auch selbst Einfluss auf unsere psychische Gesundheit nehmen.
Wie schätzen Sie die unzähligen Elternratgeber, Podcasts, Blogs etc. ein – sind das noch Ressourcen oder führen diese eher zu Druck und Verunsicherung?
Ich denke, das ganze beschleunigte Lebensmodell heute ist verunsichernd. Die Idee oder der Anspruch besteht, sei es von den Eltern an sich selbst oder auch von der Gesellschaft, dass alle Eltern sämtliche Aufgaben einfach so beherrschen: Langes und erfolgreiches Stillen, die ideale Kindererziehung und Ernährung, die veränderten Rollenbilder, der reibungslose Ablauf zuhause, aber auch die Balance zwischen Beruf und Alltag. Doch das sind enorme Herausforderungen und die Mehrfachbelastung der Mütter und Väter ist gross. Dabei leben die wenigsten heute noch in einer Grossfamilie und sind damit stark auf sich alleine gestellt, bemühen sich aber enorm, alles richtig zu machen. Durch die Flut von Ansprüchen und wohl auch die zahllosen Ratgeber sind die Verunsicherung und der Druck tatsächlich oft hoch.
Welche Bedeutung hat eine postpartale Depression für die Neugeborenen?
Für die Entwicklung des Kindes ist es ganz wichtig, dass sich die Mutter oder der Vater feinfühlig auf seine momentane Befindlichkeit einlassen können und seine Signale erkennen. So werden die Bedürfnisse des Kindes nach Geborgenheit und Zuwendung befriedigt und die Eltern-Kind-Beziehung gestärkt. Wenn nun beispielsweise die Mutter eine Depression hat, nimmt sie die kindlichen Signale vielleicht nicht sofort wahr oder es gelingt ihr nicht immer, passend darauf zu reagieren. Diese Aufgabe kann aber vorübergehend auch vom Vater, der Grossmutter oder einer anderen nahestehenden Person übernommen werden.
Was ist bekannt zur postpartalen Depression bei Vätern?
Dazu gibt es noch wenig Forschung. Bekannt ist, dass sich die Depression oft anders als bei Frauen zeigt und sie seltener Hilfe in Anspruch nehmen. Besonders häufig kommen Alkoholmissbrauch, Aggressivität und Ruhelosigkeit vor. Auch weiss man, dass das Risiko einer Depression erhöht ist, wenn die Kindsmutter an einer postpartalen Depression erkrankt. Allgemein fühlen sich viele Männer rund um die Geburt und in der Zeit danach oft zu wenig unterstützt, eingebunden und ernst genommen. Deshalb ist es umso wichtiger, dass man sie bei allen Vorbereitungsschritten und insbesondere in den Beratungsgesprächen besser miteinbezieht. So sind beispielsweise bei Hausbesuchen der Beziehungsaufbau zum Vater und die Frage nach seinem Befinden genauso wichtig wie das Wohlbefinden der Mutter.
Wie unterstützen Sie als Mütter-und Väterberaterin betroffene Eltern?
In unserer Tätigkeit ist es wichtig, eine konstante Begleitung anbieten zu können. Wir versuchen, emotionalen Halt zu geben und mit unserem Fachwissen zu unterstützen. Dabei mache ich Eltern Mut, über die grosse Veränderung der Lebenssituation zu reden und eigene Bedürfnisse und Ängste zu äussern. Wenn es mir gelingt, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, kann ich auch Themen wie die Depression oder Partnerschaft ansprechen, die noch viel zu oft Tabuthemen sind. Mit unseren entwicklungspsychologischen Beratungen können wir betroffene Mütter zudem in ihren mütterlichen Kompetenzen stärken. In der Depression werden die Zeichen des Kindes wie bereits erwähnt manchmal nicht oder verzögert wahrgenommen. In diesen Fällen üben wir beispielsweise zusammen, wie die Mutter die Signale ihres Babys richtig deuten und entsprechend reagieren kann. Das kann ihr dabei helfen, den verlässlichen und feinfühligen Bezug zu ihrem Kind weiter aufzubauen.
Wie kann das Umfeld unterstützen?
Das Umfeld kann sich über die postpartale Depression informieren, um in der eigenen Einschätzung sicherer zu werden und die Betroffenen mit dem Wissen zu unterstützen. Wichtig ist es, die Depression als Krankheit zu akzeptieren. Das bedeutet: feinfühlig zu bleiben und keine Vorwürfe zu machen. Auch ist wichtig, offen über die Belastungen zu reden. Denn aufgrund der typischen Symptome haben Betroffene selbst oft Mühe, von sich aus darüber zu reden und aktiv zu werden.
Wichtig ist es, die Depression als Krankheit zu akzeptieren.
Darüber hinaus ist jede Entlastung eine Unterstützung, beispielsweise beim Haushalt oder Einkaufen. Dabei können allein schon das Verständnis und die Anerkennung der Herausforderung entlastend sein. Auch regelmässige warme Mahlzeiten helfen oftmals viel. Hier habe ich schon Freundeskreise erlebt, die sich dafür mit einem Doodle organisiert haben. Allgemein kann das Umfeld da Aufmerksamkeit schenken, wo sie vorübergehend fehlt und kleine Inseln schaffen, in denen die Eltern Zeit für sich erhalten. Beispielsweise indem man ihnen im Alltag etwas abnimmt, sie an wichtige Termine begleitet oder gemeinsam spazieren geht.
Welchen persönlichen Tipp würden Sie angehenden Eltern mitgeben?
Für mich ist der Übergang von der Partnerschaft zur Elternschaft entscheidend. Beide Elternteile sollten ein Bewusstsein für diese grundlegende Veränderung haben und auch gemeinsam darüber reden, was es bedeutet, plötzlich nicht mehr nur zu zweit zu sein und dabei eine neue Rolle mit noch nie dagewesenen Anforderungen einzunehmen. Dabei lege ich es angehenden Eltern ans Herz, mögliche Unterstützung bereits im Voraus zu organisieren, offen über Belastungen zu reden und die Hilfe bei Bedarf auch wirklich aktiv zu holen. Auch bedeutsam finde ich es, sich immer wieder wohltuende Ruheinseln zu schaffen – als Paar, aber auch für sich selbst.
Ein Flyer der Gesundheitsförderung Kanton Zürich mit Informationen zur psychischen Gesundheit von Eltern während der Schwangerschaft und nach der Geburt. Der Flyer sensibilisiert für das Thema postpartale Depression und enthält einen Selbstcheck.
Zum FlyerEine Anlaufstelle für Eltern am Anschlag, angeboten von Fachpersonen des Kinderspitals Zürich, des Marie Meierhofer Instituts für das Kind und Pro Juventute.
Zu re-feel.org