Postpartale Depression – Das sagt die kjz-Expertin

Babyglück ohne Glücksgefühle

Nicht immer führt ein neuge­bo­re­nes Kind zu Eltern im Baby­glück: Rund 15 Prozent aller Frauen entwi­ckeln nach der Geburt eine postpar­tale Depres­sion. Auch die Väter kann es treffen. Vera Toma­schett, Mütter- und Väter­be­ra­te­rin im kjz Meilen, sagt: Das Wissen um die Heraus­for­de­run­gen von Eltern­schaft kann helfen.

Vera Toma­schett, die Vorstel­lung vom Baby­glück ist, dass es auto­ma­tisch auch zu Eltern­glück führt. Warum ist das nicht immer der Fall?
Ich denke, das Bewusst­sein ist in der Gesell­schaft zu wenig veran­kert, dass Eltern­schaft eine der gröss­ten Verän­de­run­gen im Leben über­haupt bedeu­tet: Die bekannte Welt wird einmal komplett auf den Kopf gestellt. Allein die körper­li­che und hormo­nelle Umstel­lung ist enorm. Hinzu kommt, dass die Bean­spru­chung durch das Baby hoch ist. Oft fehlt es an Schlaf und der Fokus kann sich uner­war­tet weit weg vom bisher Bekann­ten verschie­ben. Darüber hinaus befin­det man sich von heute auf morgen in einer ganz neuen Rolle. Auch in der Part­ner­schaft ist das unge­wohnt. Ausser­dem kommen allge­mein Unmen­gen an Unbe­kann­tem auf einen zu. Das birgt einen wunder­ba­ren Zauber, aber auch grösste Heraus­for­de­run­gen. Diese können einen über­rum­peln.

Wie äussert sich die postpar­tale Depres­sion?
Oft äussert sie sich durch grosse Ängste und Über­for­de­rung. Die Mütter sind gereizt oder traurig, müssen viel weinen und die Betreu­ung des Babys wächst ihnen über den Kopf und fühlt sich mehr als Last an, als dass sie – wie viel­leicht zuvor vorge­stellt – beflü­gelt. Oft leiden sie unter Schlaf­pro­ble­men und sind schwer erschöpft. Es ist ein hoch­sen­si­bler Zustand, in dem ein einzi­ges falsches Wort die Mütter komplett an den Anschlag bringen kann. In vielen Fällen plagt sie die tiefe Sorge: Ich sehe mein Baby an und weiss, ich sollte Freude und Glück fühlen, empfinde das aber einfach nicht. Wichtig ist aber: Eine postpar­tale Depres­sion ist behan­del­bar. Und je früher sie erkannt wird, desto besser.

Es ist ein hoch­sen­si­bler Zustand, in dem ein einzi­ges falsches Wort die Mütter komplett an den Anschlag bringen kann.

Welche Fakto­ren spielen mit bei der Entwick­lung einer postpar­ta­len Depres­sion?
Viele verschie­dene. Dabei sind nicht alle bekannt und längst nicht alle können beein­flusst werden. Zu den bekann­ten Fakto­ren gehören: Eine hohe Stress­be­las­tung in der Schwan­ger­schaft sowie auch während und nach der Geburt, Geburts­kom­pli­ka­tio­nen, psychi­sche Vorer­kran­kun­gen in der Familie, Schlaf­man­gel oder ein unge­nü­gen­des sozia­les Netz­werk. Eine Depres­sion kann aber jede Mutter und jeden Vater treffen, auch nach glück­li­chen Schwan­ger­schaf­ten. Denn wie gesagt, der Über­gang in die Eltern­schaft ist in vieler­lei Hinsicht eine enorme Heraus­for­de­rung.

Gibt es Schutz­fak­to­ren?
Es ist sicher hilf­reich, während der Schwan­ger­schaft chro­ni­schen Stress zu umgehen und wenn man sich allge­mein sicher und wohl fühlt. Genü­gend Schlaf ist dabei immer ein Schutz­fak­tor. Trägt man im Vorfeld aller­dings ausschliess­lich die rosa­rote Brille, ist es schwie­rig, mögli­che auftre­tende Schwie­rig­kei­ten zu akzep­tie­ren. Ich würde daher sagen, auch eine realis­ti­sche Erwar­tung an die Eltern­schaft ist ein wich­ti­ger Schutz­fak­tor. Denn je mehr sich Eltern auf mögli­che Heraus­for­de­run­gen einstel­len, desto einfa­cher können sie ihre Ressour­cen akti­vie­ren. Hierbei hilft das Wissen um die Kette an mögli­chen Versor­gungs­glie­dern.

Was meinen Sie damit?
Frisch gewor­dene Eltern brau­chen fach­li­che Unter­stüt­zung. Kaum jemand kann alle Heraus­for­de­run­gen alleine meis­tern. Den meisten ist klar, dass zu dieser Versor­gungs­kette der Frau­en­arzt oder die Frau­en­ärz­tin, die Hebamme und bestimmte Vorbe­rei­tungs­kurse gehören. Doch die Kette hat noch viele Glieder mehr. Das Pfle­ge­fach­per­so­nal auf dem Wochen­bett, die Still­be­ra­tung, die Baby­mas­sage oder ein Trage­tuch­kurs gehören genauso dazu wie psycho­lo­gi­sche Anlauf­stel­len oder auch unsere Mütter- und Väter­be­ra­tung. Je besser Eltern die vorhan­dene Versor­gungs­kette kennen, desto siche­rer können sie die Zeit nach der Geburt angehen. Auf Seite der Fach­per­so­nen ist wiederum wichtig, dass alle an der Kette Betei­lig­ten verste­hen, was zu ihrer Aufgabe gehört; nämlich den Eltern nicht nur Fach­wis­sen vermit­teln, sondern ihnen auch emotio­nal Halt geben, Wert­schät­zung entge­gen­brin­gen und indi­vi­du­ell auf ihre Fragen einge­hen.

Je mehr sich Eltern auf mögli­che Heraus­for­de­run­gen einstel­len, desto einfa­cher können sie ihre Ressour­cen akti­vie­ren.

Was kann eine Ressource sein?
Eine unter­stüt­zende Bezie­hung ist sicher bedeut­sam, beson­ders, wenn die Stress­be­wäl­ti­gung gemein­sam gut funk­tio­niert. Ähnlich können aber auch die eigenen Eltern, Geschwis­ter, Nach­barn oder Freunde sowie der Austausch in Chats, Gruppen oder mit Vertrau­ens­per­so­nen wert­voll sein. Bewe­gung an der frischen Luft und Sport, aber auch Opti­mis­mus und spiri­tu­el­ler Halt sind gute Ressour­cen. Und natür­lich der struk­tu­relle Rahmen. Dazu gehören auch eine ausrei­chende Eltern­zeit, gute Orga­ni­sa­tion und ein ausge­gli­che­nes Arbeits­mo­dell. Auch sämt­li­che Unter­stüt­zung im Alltag hilft, dass wieder mehr eigene Kräfte frei werden. Es ist aber auch ganz wichtig, dass jeder um seine eigenen Möglich­kei­ten zur Selbst­hilfe Bescheid weiss.

Was meinen Sie mit Selbst­hilfe?
Wir alle sind nicht nur abhän­gig vom Umfeld, sondern können – zu einem Teil – auch selbst Einfluss auf unsere psychi­sche Gesund­heit nehmen. Dies gelingt uns, indem wir gut auf unseren eigenen Bedarf achten, uns Zeit und Raum für uns selbst nehmen und uns bei neuen Heraus­for­de­run­gen genug Erho­lung gönnen. Zwischen­durch dürfen wir ruhig auch einmal inne­hal­ten und stolz auf die eigene Leis­tung sein. In meinen Bera­tun­gen sehe ich immer wieder, wie hilf­reich erlebte Selbst­wirk­sam­keit ist. Vor allem zu Beginn, wenn alles ganz neu ist, ist man als Eltern in so vielen Dingen unsi­cher. Alle reden mit, doch gleich­zei­tig sagt jeder etwas anderes. So können kleinste Dinge grösste Zweifel auslö­sen und aus der Bahn werfen, etwa alleine die Frage nach dem «rich­ti­gen» Nuggi. Haben Eltern das Gefühl von Gestal­tungs­spiel­raum bei ihren Entschei­dun­gen und posi­tive Erleb­nisse, fühlen sich die Heraus­for­de­run­gen viel eher bewäl­tig­bar an.

Wir können – zu einem Teil – auch selbst Einfluss auf unsere psychi­sche Gesund­heit nehmen.

Wie schät­zen Sie die vielen Eltern­rat­ge­ber, Podcasts, Blogs usw. ein – sind das Ressour­cen? Oder führen sie eher zu Druck oder Verun­si­che­rung?
Ich denke, das ganze beschleu­nigte Lebens­mo­dell heute ist verun­si­chernd. Die Idee oder der Anspruch besteht, sei es von den Eltern an sich selbst oder auch von der Gesell­schaft, dass alle Eltern sämt­li­che Aufga­ben einfach so beherr­schen: Langes und erfolg­rei­ches Stillen, die ideale Kinder­er­zie­hung und Ernäh­rung, die verän­der­ten Rollen­bil­der, der reibungs­lose Ablauf zuhause, aber auch die Balance zwischen Beruf und Alltag. Doch das sind enorme Heraus­for­de­run­gen und die Mehr­fach­be­las­tung der Mütter und Väter ist gross. Dabei leben die wenigs­ten heute noch in Gross­fa­mi­lien. Statt­des­sen sind sie stark auf sich alleine gestellt, bemühen sich aber enorm, alles richtig zu machen. Diese hohen Ansprü­che werden wohl durch die vielen Ratge­ber eher noch geför­dert.

Welche Bedeu­tung hat eine postpar­tale Depres­sion für die Neuge­bo­re­nen?
Für die Entwick­lung des Kindes ist es ganz wichtig, dass sich die Mutter oder der Vater fein­füh­lig auf seine momen­tane Befind­lich­keit einlas­sen kann und seine Signale erkennt. So erfährt das Kind Gebor­gen­heit und Zuwen­dung. Wenn nun beispiels­weise die Mutter eine Depres­sion hat, nimmt sie die kind­li­chen Signale manch­mal nicht sofort wahr oder es gelingt ihr nicht immer, passend darauf zu reagie­ren. Diese Aufgabe kann aber vorüber­ge­hend auch vom Vater, der Gross­mutter oder einer anderen nahe­ste­hen­den Person über­nom­men werden.

Was ist bekannt zur postpar­ta­len Depres­sion bei Vätern?
Dazu gibt es noch wenig Forschung. Bekannt ist, dass die Symptome oft anders sind als bei Frauen und dass Väter selte­ner Hilfe in Anspruch nehmen. Beson­ders häufig kommen Alko­hol­miss­brauch, Aggres­si­vi­tät und Ruhe­lo­sig­keit vor. Auch weiss man, dass das Risiko einer Depres­sion bei Vätern erhöht ist, wenn die Kinds­mut­ter an einer postpar­ta­len Depres­sion erkrankt. Allge­mein fühlen sich viele Männer rund um die Geburt und in der Zeit danach oft zu wenig unter­stützt, einge­bun­den und ernst genom­men. Deshalb ist es umso wich­ti­ger, dass man sie bei allen Vorbe­rei­tungs­schrit­ten und insbe­son­dere in den Bera­tungs­ge­sprä­chen besser einbe­zieht.

Wie unter­stüt­zen Sie Eltern als Mütter-und Väter­be­ra­te­rin?
In unserer Tätig­keit ist es wichtig, eine konstante und vertrau­ens­volle Beglei­tung anzu­bie­ten. Wir versu­chen, Eltern emotio­nal Halt zu geben und sie mit unserem Fach­wis­sen zu unter­stüt­zen. Dabei mache ich Eltern Mut, über Verän­de­run­gen zu reden und eigene Bedürf­nisse und Ängste zu äussern. Wenn es mir gelingt, ein Vertrau­ens­ver­hält­nis aufzu­bauen, kann ich auch Themen wie Depres­sion oder Part­ner­schaft anspre­chen, die noch viel zu oft Tabu­the­men sind. Mit unseren entwick­lungs­psy­cho­lo­gi­schen Bera­tun­gen können wir die Eltern zudem in ihren elter­li­chen Kompe­ten­zen stärken. In der Depres­sion werden die Zeichen des Kindes wie bereits erwähnt manch­mal nicht oder verzö­gert wahr­ge­nom­men. Dann können wir beispiels­weise zusam­men üben, wie die Signale des Babys gelesen werden können.

Wichtig ist es, die Depres­sion als Krank­heit zu akzep­tie­ren.

Wie kann das Umfeld unter­stüt­zen?
Das Umfeld kann sich über die postpar­tale Depres­sion infor­mie­ren, um in der eigenen Einschät­zung siche­rer zu werden und die Betrof­fe­nen mit dem Wissen zu unter­stüt­zen. Wichtig ist es, die Depres­sion als Krank­heit zu akzep­tie­ren. Das bedeu­tet: fein­füh­lig zu bleiben und keine Vorwürfe zu machen. Auch ist wichtig, offen über Belas­tun­gen zu reden. Denn aufgrund der typi­schen Symptome haben Betrof­fene selbst oft Mühe, von sich aus darüber zu reden und aktiv zu werden.

Darüber hinaus ist jede Entlas­tung eine Unter­stüt­zung, sei es im Haus­halt oder beim Einkau­fen. Dabei kann es bereits entlas­ten, wenn das Umfeld Verständ­nis für die Heraus­for­de­run­gen zeigt. Auch regel­mäs­sige warme Mahl­zei­ten helfen oftmals viel. Hier habe ich schon Freun­des­kreise erlebt, die sich dafür mit einem Doodle orga­ni­siert haben. Allge­mein kann das Umfeld da Aufmerk­sam­keit schen­ken, wo sie vorüber­ge­hend fehlt und kleine Inseln schaf­fen, in denen die Eltern Zeit für sich bekom­men. Beispiels­weise indem man ihnen im Alltag etwas abnimmt, sie an wich­tige Termine beglei­tet oder gemein­sam spazie­ren geht.

Welchen persön­li­chen Tipp würden Sie ange­hen­den Eltern mitge­ben?
Für mich ist der Über­gang von der Part­ner­schaft zur Eltern­schaft entschei­dend. Beide Eltern­teile sollten ein Bewusst­sein für diese grund­le­gende Verän­de­rung haben und gemein­sam darüber reden: Was bedeu­tet das für uns, nicht mehr nur zu zweit zu sein und dabei eine neue Rolle mit ganz neuen Anfor­de­run­gen einzu­neh­men? Auch lege ich es ange­hen­den Eltern ans Herz, mögli­che Unter­stüt­zung bereits im Voraus zu orga­ni­sie­ren, offen über Belas­tun­gen zu reden und bei Bedarf auch wirk­lich aktiv um Hilfe zu bitten. Auch bedeut­sam finde ich es, sich immer wieder wohl­tu­ende Ruhe­inseln zu schaf­fen – als Paar, aber auch für sich selbst.

Vera Toma­schett

Vera Tomaschett arbeitet seit 2010 als Mütter- und Väterberaterin im Kinder- und Jugendhilfezentrum (kjz) Meilen. Davor hat sie viele Jahre auf dem Wochenbett in der Frauenklinik Triemli gearbeitet und Frauen nach der Geburt begleitet.