Case Management: Von den Anfängen, den Veränderungen und der Zukunft
Das Case-Management-Angebot Netz2 des Kantons Zürich wird 10 Jahre alt. Anlässlich dieses Jubiläums haben wir uns mit Matthias Fuszenecker, Mitgründer und Leiter von Netz2 über die Entwicklung des Angebots von den ersten Schritten bis zum heutigen Tag unterhalten. Er erzählt von der Arbeit der Case Manager, wie sich die Fälle verändert haben über diese Zeit und wo er mit Netz2 in weiteren 10 Jahren hin will. Sie lesen hier den ersten von zwei Teilen des grossen Interviews.
Das Case-Management-Angebot Netz2 existiert seit zehn Jahren. Warum wurde dieses Angebot damals ins Leben gerufen?
Matthias Fuszenecker: Die Ursprünge des Angebots liegen eigentlich in den 1990er Jahren, als die Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz ziemlich hoch war. Der Bund hat deswegen eine ganze Reihe von Massnahmen ergriffen, zum Beispiel die zweijährigen EBAs (Eidgenössisches Berufsattest) oder im Kanton Zürich das Mentoring Ithaka. Im Zuge dessen lancierte der Bund auch ein Projekt zum Aufbau eines Case Managements in jedem Schweizer Kanton. Zunächst kam die Finanzierung vom Bund, die Kantone haben sich dann daran beteiligt und schliesslich übernommen. So ging das los. Der Bund gab dabei verschiedene Meilensteine vor, die regelmässig überprüft wurden. Wir haben den Prozess zudem von der Berner Fachhochschule begleiten lassen. Und so sind wir im August 2010 gestartet.
Wie hat Eure Arbeit in dieser Anfangsphase ausgesehen?
Zunächst hat jeder von uns in seiner Region geschaut, was es bereits an Unterstützungsangeboten gibt und dann sind wir ganz simpel Klinken putzen gegangen, haben uns vorgestellt und erklärt, was wir machen. Wir haben dabei offene Türen eingerannt, denn das Thema Case Management in der Berufsbildung, war schon seit einigen Jahren in aller Munde. Die Leute haben nur darauf gewartet, dass da endlich etwas kommt.
Dann habt Ihr sofort genug Fälle zu bearbeiten gehabt?
Mehr als das. Wenn wir in Schulen gegangen sind und unser Angebot vorgestellt haben, sind zum Teil Sek-C-Lehrer gekommen und wollten uns gleich ihre ganze Klasse mitschicken. Aber da mussten wir dann schon genau schauen und differenzieren. Denn für die allermeisten Jugendlichen gab und gibt es schon andere gute Angebote, wo sie Unterstützung erhalten. Wir sind für jene Fälle da, in denen Jugendliche bereits mehrfach durch verschiedene Auffangnetze gefallen sind und die eine viel intensivere und engere Betreuung brauchen. Da gab es zu Beginn auch von Seiten der Politik andere Vorstellungen. Man ging davon aus, dass man mit einer 100-Prozent-Stelle 100 Jugendliche betreuen kann. Tatsächlich sind es bei einem vollen Pensum maximal etwa 30 Fälle parallel.
Was habt Ihr da gemacht, damit die richtigen Jugendlichen zu Euch kamen, jene die Eure Hilfe wirklich brauchen?
Wir haben zum Beispiel die Case Maker sehr gut geschult, (Fachpersonen in der Berufs-, Jugend- oder Familienberatung, bei Regionalen Arbeitsvermittlern (RAV) oder im Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst, die Red.) damit sie unsere Aufnahmekriterien sehr genau kennen und erkennen, ob Jugendliche, mit denen sie zu tun haben, ein Fall für ein Netz2-Case-Management wären. Aber auch so sind unsere Kapazitäten beschränkt und wir haben sehr viel mehr Anfragen, als dass wir Jugendliche aufnehmen können. Auf der Website von Netz2 ist bei allen Case Managern sichtbar, ob sie neue Klienten aufnehmen oder derzeit nur eine anonyme Fallbesprechung anbieten können.
Wie hat sich Eure Arbeit, das was Ihr macht und vor allem wie Ihr es macht, verändert?
Dazu muss ich zuerst zwei Sachen festhalten: Erstens, wir sind ein sehr stabiles und erfahrenes Team, das wenig personelle Veränderungen hatte in den ganzen zehn Jahren, wir kennen uns also sehr gut. Zweitens, wir sind dezentral organisiert und sehen uns persönlich im Alltag kaum. Jedes Jahr gehen wir für zwei Tage in Retraite und besprechen unsere Arbeitsweise, das Konzept, die Abläufe und so weiter. Da diskutieren wir dann sehr intensiv und analysieren, was funktioniert und was nicht. So passen wir dann immer wieder Dinge an und versuchen Abläufe zu optimieren. Grosse Veränderungen haben wir zwar nie gemacht, aber immer wieder feine, gezielte Anpassungen vorgenommen.
Haben sich auf der anderen Seite denn die Probleme der Jugendlichen in dieser Zeit verändert? Sind Problemfelder weggefallen oder neue dazugekommen?
Ja auf jeden Fall. Früher hatten wir oft die klassischen, ich nenn es mal «Schulhaus-Querschläger», bei denen alle Leute im Umfeld gesagt haben, «ja ja, der oder die schon wieder». Heute betreuen wir fast jede/n zweite/n Jugendlichen zusammen mit der IV. So viele psychiatrische Diagnosen wie heute, hatten wir früher definitiv noch nicht.
Woran liegt das? Seht Ihr Auslöser für diese Veränderung?
Schwierig zu sagen. Wir sehen ja nur ganz wenige aller Jugendlichen im Kanton. Womöglich liegt es auch daran, dass auch die Case Maker durch die zehn Jahre Erfahrung noch präziser erkennen, welche Jugendlichen zu uns kommen sollten, und welche an anderen Orten besser aufgehoben sind. Denn das muss ich auch betonen, es gibt im Kanton Zürich ganz viele verschiedene sehr gute Angebote für Jugendliche mit unterschiedlichen Herausforderungen und längst nicht alle brauchen ein Case Management.
Ihr müsst viele Jugendliche ablehnen, weil Ihr keine Kapazitäten frei habt. Wie sieht eigentlich das Verhältnis von Angebot und Nachfrage aus?
Vor zehn Jahren, als wir angefangen haben, wurde einmal erhoben, dass im Kanton Zürich pro Jahr zwischen 500 und 1000 Jugendliche von dem Angebot Gebrauch machen könnten. Im Durchschnitt können wir mit unseren Kapazitäten ungefähr 70 Jugendliche pro Jahr aufnehmen. Der Bedarf nach unserem Angebot ist also riesig. Wir könnten unsere Kapazitäten verdoppeln und müssten immer noch Jugendliche ablehnen. Wir bieten aber immer ein Gespräch mit dem Case Maker oder den Eltern an, wenn sich jemand bei uns meldet, und beraten darin so gut wie möglich. Und dann schauen wir, wer statt uns helfen könnte.
Uns wurde auch schon angekreidet, dass wir im Kanton Zürich Fälle nicht systematischer aufnehmen. Andere Kantone machen das so, dass nach der dritten Sek alle Jugendlichen, die keine Lehrstelle haben, geprüft werden, ob sie das Case Management brauchen. Das ist aber mit den Schülerzahlen im Kanton Zürich gar nicht möglich.
Das Fazit nach zehn Jahren Netz2 fällt positiv aus. Ihr habt euch gut entwickelt und bietet ein Angebot, das grosse Nachfrage erzeugt. Wo steht Ihr in noch einmal zehn Jahren?
Grundsätzlich basiert unsere Arbeit auf einem guten, erprobten Konzept. Was wir in zehn Jahren hoffentlich haben, ist einen gemeinsamen, zentralen Standort, wo das ganze Team zusammenarbeitet. Wenn wir näher beieinander sind, denke ich, werden wir als Team noch besser zusammenarbeiten und davon werden auch unsere betreuten Jugendlichen profitieren. Jetzt sitzen wir oft alleine in einem biz, ohne täglichen Austausch mit anderen Case Managern. Das fehlt heute schon. Diese spontanen fachlichen Gespräche und Fragen, wenn einen irgendein Problem beschäftigt, die kommen jetzt kaum vor. Auf diese Zentralisierung freue ich mich sehr. Ich hoffe und glaube, dass wir in den nächsten zehn Jahren als Team noch einmal wachsen werden. Und was auch immer besser klappt, ist die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. Da werden wir davon profitieren, dass wir in den letzten Jahren sehr viel Grundlagenarbeit geleistet haben. Heute schauen nicht mehr alle auf ihre eigenen Gärtchen, wodurch die vernetzte Zusammenarbeit einfacher wird. Inzwischen werden wir nicht mehr skeptisch oder fragend empfangen, sondern positiv und offen, weil die Leute inzwischen wissen, wenn die Netz2-Leute kommen, dann kommt Bewegung in die manchmal ausweglos erscheinende Situation.