Theo Wehner im Gespräch

Die Arbeitswelt nach einem Jahr Homeoffice

Covid-19 und Home­of­fice haben unsere Arbeits­welt verän­dert und hatten damit auch Einfluss auf uns als Arbeit­neh­mende. Theo Wehner, emeri­tier­ter Profes­sor für Arbeits- und Orga­ni­sa­ti­ons­psy­cho­lo­gie, über verpasste Chancen, hybride Lösun­gen und soziale Nähe.

Herr Wehner, die Pande­mie hatte einen grossen Einfluss auf die Arbeits­welt. Wo stellen Sie Verän­de­run­gen fest?
Theo Wehner: Es ist meines Erach­tens (viel) zu früh, von nach­hal­ti­gen Verän­de­run­gen zu spre­chen. Nach der Schock­phase zu Beginn der Pande­mie und der anschlies­sen­den Gewöh­nungs­phase, in der viele auch die Vorteile vom Home­of­fice kennen­ge­lernt und mitun­ter sehr kreativ expe­ri­men­tiert hatten, kam im Winter eine Ermü­dungs­phase. Nun sollten wir in eine Refle­xi­ons- und Lern­phase eintre­ten. Nur weil wir etwas – mehr oder weniger gut – über­stan­den haben, haben wir noch lange nicht gelernt. Erst müssen wir die indi­vi­du­el­len Erfah­run­gen sammeln und auswer­ten. Dabei sollten wir den Fokus auf die Arbeits­or­ga­ni­sa­tion, die Führungs­kul­tur und auf arbeits­po­li­ti­sche Fragen legen – und die Diskus­sion nicht von IT-Proble­men domi­nie­ren lassen.

Wie lautet Ihr Fazit, ist den Schwei­zer Unter­neh­men die Heraus­for­de­rung insge­samt gelun­gen?
Wenn man nicht nur die Erfah­rung von einzel­nen Orga­ni­sa­tio­nen in den Blick nimmt, die bestimmt wert­volle Schlüsse aus der Krise gezogen und diese auch umge­setzt haben, so spricht eine aktu­elle Schwei­zer Studie mit Führungs­kräf­ten aus 534 Firmen davon, dass Schwei­zer Unter­neh­men eine grosse Chance verpasst haben, ihre Orga­ni­sa­tion fit für die Heraus­for­de­run­gen der Zukunft zu machen. Ihr Resümee: Ein Prozess des Umden­kens der Arbeits­or­ga­ni­sa­tion und der Führungs­kul­tur habe bei den Unter­neh­men trotz Ausnah­me­si­tua­tion nicht statt­ge­fun­den.

Beein­druckt haben mich dabei die Selbst­zwei­fel vieler Führungs­kräfte. Sie berich­ten unum­wun­den von eigenen Schwie­rig­kei­ten mit der Situa­tion sowie mit der Defi­ni­tion ihres neuen Rollen­ver­ständ­nis­ses und stell­ten fest, dass ihren Mitar­bei­ten­den die Heraus­for­de­rung eindeu­tig besser gelun­gen ist. Und das, obwohl nur 40 Prozent der Orga­ni­sa­tio­nen Trai­nings­pro­gramme und andere Unter­stüt­zungs­for­men orga­ni­siert hatten.

Um E-Mails zu beant­wor­ten oder Fleiss­ar­bei­ten zu erle­di­gen kann man Mitar­bei­tende heute kaum mehr von einer zwin­gen­den Anfahrt ins Büro über­zeu­gen. Wie kann eine hybride Lösung funk­tio­nie­ren?
Der «feste» Arbeits­platz, womög­lich noch im Einzel­büro mit Sitz­ecke, ist schon längst ins Wanken geraten und das ist gut so. Alleine schon aus ökono­mi­schen und ökolo­gi­schen Gründen. Der Arbeits­in­halt muss entschei­den, von wo aus er am besten zu erle­di­gen ist. Ob die Teil­neh­men­den jedes Mal mit hundert Prozent Lebend­ge­wicht an Sitzun­gen erschei­nen müssen, bezweifle ich schon lange und oft hätte ich mir schon gewünscht, mich in eine Bespre­chung einwäh­len zu können – parti­ell, voll konzen­triert und sicher leis­tungs­fä­hi­ger.

Für hybride Lösun­gen müssen aber natür­lich Voraus­set­zun­gen erfüllt sein: Führungs­ver­ant­wort­li­che müssen endlich besser dele­gie­ren lernen und – noch wich­ti­ger – ihren Mitar­bei­ten­den mehr zutrauen. Das errei­chen sie, wenn sie deren Hand­lungs­spiel­raum erhöhen und Entschei­dungs­kom­pe­ten­zen abgeben. Mitar­bei­tende hinge­gen müssen bereit sein, ihre Kompe­tenz­be­rei­che à jour zu halten und (mehr) Verant­wor­tung für den eigenen Bereich zu über­neh­men. Das führt zu mehr Sinnerle­ben, Zufrie­den­heit und Selbst­ver­trauen, selbst dann, wenn mal was schief geht – und das wird es. Weiter braucht es Rege­lun­gen: Wer ist für die Ergo­no­mie, den Arbeits- und Gesund­heits­schutz oder versi­che­rungs­tech­ni­sche Fragen am heimi­schen Arbeits­platz zustän­dig? Stan­dard­lö­sun­gen gibt es hierfür keine und bei der Beant­wor­tung der Fragen müssen alle Orga­ni­sa­ti­ons­mit­glie­der einbe­zo­gen werden.

Was sagt die Wissen­schaft, wie viel Home­of­fice ist pro Woche «gut»?
Die Forschung hierzu ist umfang­reich, eindeu­tig und gut 15 Jahre alt: Die opti­male Zeit liegt bei zwei bis maximal drei Tagen Home­of­fice pro Woche. Die posi­ti­ven Auswir­kun­gen sind dabei sehr indi­vi­du­ell. Allge­mein sind es mehr Flexi­bi­li­tät und Selbst­be­stim­mung sowie deut­lich weniger Stress. Befunde zeigen aber auch klar auf, dass es Übung und Schu­lun­gen braucht, um lang­fris­tig posi­tive Effekte zu errei­chen.

Werden die zwei bis drei Tage pro Woche über­schrit­ten, berich­ten verschie­dene Studien von Demo­ti­va­tion und Koor­di­na­ti­ons­pro­ble­men sowie einer rasan­ten Abnahme der Quali­tät der Bezie­hun­gen zum Team. Ein Befund aus 2014 zeigt zudem, dass sich auch die Work-Life-Balance verschlech­tert und das Zuge­hö­rig­keits­er­le­ben zur Orga­ni­sa­tion – das soge­nannte «affek­tive Commit­ment» – abnimmt. Diese uner­wünsch­ten Neben­wir­kun­gen müssen meines Erach­tens aber nicht zwangs­läu­fig eintre­ten, wenn sich die notwen­di­gen Struk­tu­ren einmal etabliert haben.

Neben­bei bemerkt: Diese Befunde hätten in den letzten 15 Monaten genauso beach­tet werden können, wie etwa die Quaran­tä­ne­re­geln. Das ist nicht gleich einfach, aber im Nach­hin­ein eine vertane Chance, die bei den Betrof­fe­nen Frus­tra­tion und auch sozia­les und orga­ni­sa­tio­na­les Entfrem­dungs­er­le­ben nach sich gezogen hat.

Home­of­fice wird sich zukünf­tig also vermut­lich weiter etablie­ren. Dennoch – wie wichtig ist räum­li­che Nähe bei der Arbeit?
Wir sind soziale Wesen. Von daher sind Begeg­nun­gen und Nähe sehr wichtig. Wer davon ausge­schlos­sen ist, fühlt sich auch so, gerät unter Umstän­den in soziale Verein­sa­mung und eine sich selbst­ver­stär­kende Nega­tiv­spi­rale bis bin zu Depres­sio­nen. Unaus­weich­li­che Nähe kann aber auch destruk­tiv werden, was bei Mobbing­fäl­len und tenden­zi­ell auch beim Burnout ersicht­lich wird. Damit es zu einer opti­ma­len Balance kommt, muss an der Unter­neh­mens­kul­tur gear­bei­tet werden – vom HR, von den Führungs­kräf­ten und auch von den Mitar­bei­ten­den. Für Mitar­bei­tende gilt: Kolle­gia­li­tät geschieht nicht durch stän­dige Anwe­sen­heit, sondern durch gezielte Verab­re­dun­gen. Das ist im Home­of­fice genauso möglich wie im Geschäfts­all­tag, aber eine Heraus­for­de­rung in hybri­den Forma­ten.

Beson­ders die Führungs­kräfte sollten sich auf der Suche nach der Balance unbe­dingt dem soge­nann­ten «Proxi­mity Bias» bewusst sein. Dieser besagt: Wer da ist, wird auch gesehen. Wer abwe­send ist, ist aus den Augen und leider häufig auch aus dem Sinn. Für Mitar­bei­tende hat das Nach­teile, wenn es um persön­li­ches Feed­back, Wert­schät­zung oder beruf­li­che Förde­rung geht. Der Effekt kommt daher, dass wir meist das bevor­zu­gen und stärker gewich­ten, was uns am nächs­ten ist, während wir die abwe­sen­den Perso­nen aus dem Blick verlie­ren, obwohl auch sie zum Team gehören. Das Bewusst­sein darum darf aber wiederum auch nicht zu reinem «Präsen­tis­mus», dem Zwang zur Anwe­sen­heit, führen.

Inwie­fern kann die Vermi­schung von Arbeit und Privat­le­ben bei erhöh­ter Home­of­fice-Praxis auch proble­ma­tisch sein?
Aus arbeits­psy­cho­lo­gi­scher Sicht empfiehlt sich, sich auch im Home­of­fice Arbeits­zei­ten und auf jeden Fall feste Pausen zu verord­nen. Ob man sich auch einen Dress­code aufer­le­gen sollte, ist Privat­sa­che; Empfeh­lun­gen hierzu sind meines Erach­tens nicht nötig und wirken oft klein­ka­riert. Die Heraus­bil­dung von öffent­li­chem Raum versus Privat­heit und Intim­sphäre sind jedoch sensi­ble, lang­an­dau­ernde soziale Prozesse, die den Indi­vi­duen Schutz bieten sollen. Von daher sollten sie nicht ohne Not aufge­ge­ben werden – was sich heute jedoch zuneh­mend beob­ach­ten lässt. Nämlich dort, wo der öffent­li­che Raum zum Gross­raum­büro bezie­hungs­weise zur öffent­li­chen Tele­fon­zelle gewor­den ist.

Prof. Dr. Theo Wehner ist emeritierter Professor für Arbeits-​und Organisationspsychologie an der ETH Zürich.

Theo Wehner

Prof. em. Dr. Theo Wehner ist emeritierter Professor für Arbeits- ​und Organisationspsychologie an der ETH Zürich. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit sind die psychologische Fehlerforschung, das Verhältnis von Erfahrung und Wissen, kooperatives Handeln und psychologische Sicherheitsforschung.