«Die Einführung der ‹Ehe für alle› am 1. Juli 2022 war ein Meilenstein»
In der Schweiz möchten jedes Jahr tausende Paare und Einzelpersonen eine fortpflanzungsmedizinische Behandlung in Anspruch nehmen. Für sie stellen sich nebst persönlichen und medizinischen auch rechtliche Fragen. RA lic. iur. Karin Hochl, Rechtsexpertin im Bereich Fortpflanzungsmedizin, gibt Auskunft. Sie weiss auch, welchen Stellenwert das Kindswohl im schweizerischen Fortpflanzungsmedizingesetz hat.
Frau Hochl, was sind die Grundzüge des schweizerischen Fortpflanzungsmedizingesetzes?
Das schweizerische Fortpflanzungsmedizingesetz erklärt das Kindeswohl zum obersten Grundsatz. Unter diesem Aspekt legt die Schweiz Wert darauf, dass durch Samenspende gezeugte Kinder Kenntnis über ihre Abstammung erhalten können. Die Personalien des Spenders werden beim Eidgenössischen Amt für Zivilstandswesen im Spendendatenregister registriert. Das Kind hat ab dem 18. Altersjahr Anspruch, selbständig Auskunft über die Person des Spenders zu erhalten.
Auch im Rahmen des Kindeswohls verbietet die Schweiz zum Beispiel die Eizellenspende und Leihmutterschaft. Nur Paare, die auf Grund ihres Alters und ihrer persönlichen Verhältnisse voraussichtlich bis zur Volljährigkeit des Kindes für dessen Pflege und Erziehung sorgen können, dürfen Fortpflanzungsverfahren in Anspruch nehmen. Einzelpersonen und unverheiratete Paare haben beispielsweise keinen Zugang zur Samenspende.
Ist die Schweizer Gesetzgebung restriktiv und nicht mehr zeitgemäss?
Das schweizerische Fortpflanzungsmedizingesetz ist seit 2001 in Kraft und wurde seither nur geringfügig revidiert. Viele der Verbote sind nach heutiger Anschauung nicht mehr gerechtfertigt. Beispielsweise kennen in Westeuropa nur noch die Schweiz und Deutschland das Verbot der Eizellenspende. Zurzeit ist jedoch eine Motion im Parlament zur Legalisierung ebendieser hängig. Der Nationalrat hat ihr kürzlich zugestimmt.
Die Schweiz hat im Vergleich zum Ausland ein strenges und nicht mehr zeitgemässes Fortpflanzungsmedizingesetz.
Mit der Annahme der «Ehe für alle» im September 2021 hat sich die Zielgruppe der modernen Fortpflanzungsverfahren schlagartig vergrössert. Was hat sich rechtlich geändert?
Die Einführung der «Ehe für alle» am 1. Juli 2022 war ein Meilenstein. Wird ein Kind durch Samenspende gezeugt, gilt nun die Ehefrau der gebärenden Mutter als der andere Elternteil, sofern die Zeugung nach den Bestimmungen des schweizerischen Fortpflanzungsmedizingesetzes stattgefunden hat. Damit ist es erstmals möglich, dass zwei gleichgeschlechtliche Personen in der Schweiz von Geburt an gemeinsam die rechtlichen Eltern eines Kindes sind. Die Leihmutterschaft bleibt aber weiterhin sowohl für hetero- als auch für homosexuelle Paare verboten.
Das Thema «Leihmutterschaft im Ausland» beschäftigt viele Schweizerinnen und Schweizer. Was gilt es zu beachten?
Frauen, die im Ausland eine Eizellenspende empfangen und das Kind in der Schweiz gebären, fallen kaum in den Fokus des Staates. Anders bei der Leihmutterschaft: Personen, die im Ausland eine Leihmutterschaft durchführen, werden je nachdem bereits bei der Einreise mit dem Kind in die Schweiz mit Problemen konfrontiert oder aber später, wenn sie die Eintragung des Kindes ins Zivilstandsregister beantragen.
Wie sollten Paare vorgehen, wenn sie eine Leihmutterschaft im Ausland ins Auge fassen?
Ich empfehle Paaren oder Personen, die eine Leihmutterschaft im Ausland in Erwägungen ziehen, eine vorgängige rechtliche Beratung sowie sorgfältige Planung und Vorbereitung. Wesentliche Punkte, die vorher geklärt werden sollten, sind die Einreise mit dem Kind sowie die Anerkennung der Elternschaft in der Schweiz.
Gelten die Regelungen des schweizerischen Fortpflanzungsmedizingesetzes für alle Personen, die in der Schweiz wohnen – unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft?
Ja. Nicht die Staatsbürgerschaft, sondern der Wohnsitz ist massgebend dafür, welches Recht angewandt wird. Alle Personen mit Wohnsitz in der Schweiz unterstehen daher dem schweizerischen Fortpflanzungsmedizingesetz.
Der Wunsch, ein Kind zu bekommen, ist ein berechtigtes Anliegen – auch von nicht verheirateten Paaren, gleichgeschlechtlichen Paaren und Einzelpersonen.
Wie beurteilen Sie die Rolle des Staates in Bezug zur modernen Fortpflanzungsmedizin?
Der Wunsch, ein Kind zu bekommen, ist ein berechtigtes Anliegen – auch von nicht verheirateten Paaren, gleichgeschlechtlichen Paaren und Einzelpersonen. Neben der traditionellen Familie gibt es heute zahlreiche andere Familien- und Lebensformen wie Ein-Eltern-Familien, unverheiratete Paare mit Kindern, Familien, die durch Fortpflanzungsmedizin entstanden sind, Regenbogenfamilien, Fortsetzungsfamilien etc. Meines Erachtens sollte der Staat verschiedene Lebensstile zulassen und möglichst wenig eingreifen, solange keine Rechtsgüter und Rechte von anderen tangiert werden. Das Merkmal unserer Gesellschaft ist ihre Vielfalt.
Erleben Sie Unterschiede bei der Beratung von homo- und heterosexuellen Paaren bzw. von Paaren und Einzelpersonen?
Die Themen und Bedürfnisse sind je nach Konstellation unterschiedlich. Heterosexuelle Paare und Männerpaare beraten wir oft im Hinblick auf eine Leihmutterschaft im Ausland. Bei Frauenpaaren geht es häufig um die Planung eines Kindes mittels Samenspende. Diese haben vorab zu entscheiden, ob die Zeugung in der Schweiz nach schweizerischem Fortpflanzungsmedizingesetz, im Ausland oder mittels privater Samenspende stattfinden soll. Weiter stellen sich Fragen zum Umgang mit der KESB oder der Adoptionsbehörde und zur Absicherung des Kindes, bis das Kindesverhältnis zur Co-Mutter erstellt ist. Personen, die eine Einelternschaft planen, geraten ebenfalls in den Fokus der KESB und möchten in der Regel ihr Kind für ihren Todesfall absichern.
Eine neue Herausforderung sind Mehrelternschaften, wo mehr als zwei Personen vor der Zeugung vereinbaren, gemeinsam Verantwortung für ein Kind zu übernehmen.