«Die Gefühle waren einfach da, von Anfang an»
Sonja und Peter wünschten sich sehr, Eltern zu werden. Nach jahrelanger Vorbereitung wurde ihre Sehnsucht Realität: Vor zehn Jahren konnten sie Kleinkind Tigest und Baby Bruk aus Äthiopien zu sich nehmen. Wie leben sie hier?
Bevor man im Villa-Kunterbunt-ähnlichen Haus den Kindern begegnet, die hier zu Hause sind, kann man sich bereits ein gutes Bild von ihnen machen: An Türen und Wänden lachen sie einem entgegen – auf Ponys reitend, beim Baden, im Sandkasten, turnend; in jedem Lebensjahr. Zwei fröhliche, hübsche Kinder. Auf manchen der Fotos sieht man auch ihre Eltern Sonja (50) und Peter (57). Alle miteinander eine heitere Durchschnittsfamilie – die trotzdem auffällt im Quartier. Erstens, weil es nicht ganz alltäglich ist, wenn Eltern und Kinder nicht die gleiche Hautfarbe haben, zweitens weil Tigest (12) auf alle zugeht und schon als Kleinkind den Labrador der Nachbarn Gassi führte (der viel grösser war als sie selber). Und drittens, weil Bruk (11) ein schlauer Kerl im besten Flegelalter ist.
Bruk war sechs Monate und Tigest 21 Monate alt, als das Schweizer Ehepaar die beiden Kinder in einem Waisenhaus in Addis Abeba, der Hauptstadt Äthiopiens, erstmals auf den Arm nahm, jeder eines. Tigest liess sich zuerst nur von der neuen Mutter halten – und die durfte sie ab da nicht mehr loslassen. Beide Kinder waren zuvor sich selbst überlassen gefunden worden, unabhängig voneinander, so hingelegt, dass man sie nicht übersehen konnte. Ein Freund der Familie reiste mit und dokumentierte mit der Kamera alles: die erste Begegnung, die weiteren Tage in Äthiopien, die Fundorte der Kinder. Sonja und Peter zeigten ihnen den Film dann bereits, als sie noch ganz klein waren. Und immer wieder. «Ich fragte mich schon mal kurz, ob das gescheit ist», erzählt Peter, «heute weiss ich: Es war goldrichtig. Es ist ihre Geschichte. So wachsen sie ganz selbstverständlich mit ihr auf.»
Über einen Verein in Zürich sind Familien mit adoptierten Kindern aus Äthiopien miteinander verbunden. Und jedes Jahr schreiben die Eltern einen Rapport zuhanden der Behörde im Herkunftsland. Darin steht, wie sich die Kinder entwickeln, was sie erlebt haben, wie die Beziehungen sind. «Dadurch überlegen wir uns jeweils selbst, was wichtig war in dem Jahr», sagt Sonja. Etwas, das wohl wenige Eltern machen. Überhaupt, das Nachdenken über die Beziehung zum Kind und die eigene Elternrolle: Da passiert vieles, das für Eltern leiblicher Kinder nicht selbstverständlich ist. Es fing bei den Vorbereitungen aufs Elternsein an, eine eigentliche Bewerbung sei das gewesen, erzählen die beiden. «Das Gute daran: In diesen langwierigen und aufwendigen Prozess ist der Mann genauso stark involviert, wir waren also miteinander schwanger.»
Lange bevor sie Tigest und Bruk abholten, wurden die Lehrerin und der Personalfachmann nervös, sie fragten sich: «Wie werden sie auf uns reagieren? Werden sie uns gefallen? Kann man zu adoptierten Kindern dieselbe enge Beziehung haben wie zu leiblichen?» Im Moment des Kennenlernens waren – schwups – alle Ängste und Bedenken vergessen. Und zehn Jahre später erzählen sie: «Vergleichen können wir ja nicht. Aber es ist verrückt: Du schaust das Kind an und da sind sofort starke Gefühle. Vom ersten Moment an.» Und wie ist es mit den Ansprüchen, die man an sich selber hat, als Eltern? Peter nickt: «Oh ja, die sind hoch! Man will möglichst viel da sein für die Kinder.» Sonja: «Du machst dir ja Gedanken wegen der Bindung, die du erst mit Verspätung aufbauen konntest.»
Man hat hohe Ansprüche an sich als Eltern, will möglichst viel für die Kinder da sein.
Tigest ist zurück und setzt sich an den Küchentisch. Ist die Adoption ein Thema in ihrem Leben? «Nein. Nur wenn ich einen Aufsatz schreiben muss, so wie gerade jetzt.» Sie greift nach einem Papier, das auf dem Tisch liegt und liest vor: «Wo wurdest du geboren? Wie setzt sich deine Familie zusammen?» Die 12-Jährige verdreht die Augen. «Ich werde schreiben, dass ich in Afrika geboren bin, meine Mama Sonja heisst und mein Baba Peter, dass ich einen heiss geliebten Bruder habe, der gerne Mist baut. Ist es okay, wenn ich jetzt wieder gehe?» Es ist okay. Peter zu Sonja: «Nicht wahr, wir freuen uns auf die Pubertät, die nächstes Jahr beginnt.» Sie pflegen den Galgenhumor ganz normaler Eltern, die ahnen, dass noch etwas auf sie zukommt.
Text: Esther Banz