Das sagt die kjz-Expertin

«Eltern von Schreibabys brauchen Hilfe»

Eltern­wer­den verbin­den viele mit Eltern­glück, ein freu­di­ges Ereig­nis! Weint ein Säug­ling fast durch­ge­hend, ist die Reali­tät aber eine andere. «Das ist Über­for­de­rung und Stress pur», sagt kjz-Exper­tin Nadine Lampar­ter. Doch es gibt Hilfe. Mehr dazu im Gespräch.

Nadine Lampar­ter, wie erleben Sie Eltern in Ihren Bera­tun­gen, deren Babys viel weinen?
Sie sind oft enorm verun­si­chert und verzwei­felt. Schliess­lich versu­chen sie alles, um ihr Kind zu beru­hi­gen. Doch nichts hilft und wenn, dann höchs­tens für wenige Minuten. Ihr Selbst­ver­trauen schwin­det, sie sind müde, da unter perma­nen­ter Anspan­nung, fühlen sich ohnmäch­tig oder frus­triert, manch­mal gar abge­lehnt vom eigenen Kind. Viele machen sich grosse Vorwürfe, meinen, sie würden etwas falsch machen. Das Weinen kann auch Wut und Aggres­sion auslö­sen. Wichtig ist, dass sie darüber reden. Gerade auch über diese Gefühle.

Fehlt jenen Babys etwas, die nicht zur Ruhe kommen können?
In den aller­meis­ten Fällen fehlt ihnen nichts Körper­li­ches. Auch die oft genann­ten Drei­mo­nats­ko­li­ken sind als allei­nige Ursache wissen­schaft­lich nicht belegt. Bei einigen Kindern dauert es zwar länger, bis sich ihre Verdau­ung einge­pen­delt hat, was einen Einfluss haben kann. Doch es ist ein Zusam­men­spiel mehre­rer Kompo­nen­ten. Trotz­dem sollten bei exzes­si­vem Weinen immer auch körper­li­che Ursa­chen ausge­schlos­sen werden. Meist geht es diesen Babys aber gut, was bei den Eltern umso mehr das Gefühl auslöst, etwas falsch zu machen.

Viele Eltern sind müde. Sie fühlen sich ohnmäch­tig, manch­mal gar abge­lehnt vom eigenen Kind.

Machen Sie denn etwas falsch?
Ich würde nicht sagen falsch. Aber oftmals zu viel. Das ist aber sehr verständ­lich – die Eltern möchten ja, dass es ihrem Kind gutgeht. Sie möchten es beru­hi­gen, testen die unter­schied­lichs­ten Stra­te­gien aus und wenn eine nicht wirkt, greifen sie zur nächs­ten. Sie wippen das Kind, hüpfen auf dem Ball, stillen es immer wieder. Das beru­higt die Situa­tion für den Moment. Gleich­zei­tig wird das Kind aber immer wieder aufs Neue mit Reizen konfron­tiert. Und genau mit vielen Reizen können diese Kinder noch nicht so gut umgehen.

Wie meinen Sie das?
In der Fach­spra­che sagt man, dass diese Babys «reiz­of­fen» sind. Es handelt sich meist um sehr sensi­ble Kinder, die sich für alles um sie herum inter­es­sie­ren. Manch­mal hört man auch den Ausdruck «Augen­kin­der». Sie saugen alle Eindrü­cke regel­recht in sich auf. Während andere Babys in den Schlaf fliehen, wenn es ihnen zu viel wird, ist es bei diesen Babys genau umge­kehrt: Sie lassen sich immer wieder auf Spiel­an­ge­bote und Anre­gun­gen ein, obwohl sie schon längst gesät­tigt oder müde wären – bis dann die emotio­nale Balance zusam­men­bricht.

Gibt es Fakto­ren, die das Risiko für exzes­si­ves oder ausge­präg­tes Weinen bei sensi­blen Kindern erhöhen?
Zunächst muss man sagen, dass Babys mit unter­schied­li­chem Tempe­ra­ment auf die Welt kommen. Sie reagie­ren also alle verschie­den auf ihre Umwelt. Zwar können gewisse Fakto­ren das Risiko erhöhen. Babys nach trau­ma­ti­schen Gebur­ten oder Früh­ge­bo­rene brau­chen zum Beispiel oft mehr Unter­stüt­zung in der Regu­la­tion, also um sich zu beru­hi­gen, beim Einschla­fen oder Aufwa­chen oder im Austausch mit ihrer Umwelt. Auch die Befind­lich­keit der Eltern und verfüg­ba­ren Ressour­cen spielen eine Rolle. Eine postpar­tale Depres­sion oder Ressour­cen wie die fami­liäre Unter­stüt­zung können zum Beispiel verstär­kend oder ausglei­chend wirken. Doch es kommt wie gesagt auf das Zusam­men­tref­fen mehre­rer Fakto­ren an. Eine Schuld­frage ist es nie. Viel­mehr geht es darum, das Zusam­men­spiel zwischen Eltern und Kind fein­füh­lig anzu­schauen.

Wie können Sie Eltern in der Mütter- und Väter­be­ra­tung helfen?
Gerade weil diese Kinder so sensi­bel auf ihre Umwelt reagie­ren, sind sie oftmals schwie­ri­ger zu «lesen» als viel­leicht andere Babys. Doch sie zeigen schon auch, wenn es ihnen zu viel wird. Gemein­sam mit den Eltern gehen wir daher auf die Suche nach diesen Signa­len und nach geeig­ne­ten Stra­te­gien, die das Kind beim Beru­hi­gen unter­stüt­zen. Die video­ge­stützte Bera­tung eignet sich hier sehr gut, um gemein­sam mit den Eltern genau hinzu­schauen.

Schreiba­bys sind meist sehr sensi­ble Kinder, die sich für alles um sie herum inter­es­sie­ren.

Betrof­fene Eltern reagie­ren viel­fach sehr schnell auf kleinste Unmuts­be­kun­dun­gen, damit sie ja keine weitere Eska­la­tion riskie­ren. Auch das ist verständ­lich. So lernen die Säug­linge aller­dings nicht, dass sie fähig sind, unan­ge­nehme Gefühle einen Moment lang auszu­hal­ten oder gar zu über­win­den. Mit der Zeit kann das Weinen dadurch einen soge­nannt habi­tu­el­len Charak­ter bekom­men.

Was meinen Sie mit «habi­tu­el­lem Charak­ter»?
Weinen ist eigent­lich ein Alarm- und Bindungs­si­gnal an die Eltern. Allmäh­lich können sich aber Muster ausbil­den. Das heisst nicht, dass die Kinder mit Absicht weinen oder weinen, um zu ärgern. Aber sie entwi­ckeln gewisse Erwar­tun­gen, wie die Umwelt auf ihre Bedürf­nisse reagiert. Solche Muster zu durch­bre­chen ist oft schwie­rig. Wir beglei­ten Eltern deshalb dabei, das Weinen einen Moment lang zusam­men auszu­hal­ten. Das ist anspruchs­voll! Ein Kind, das nur schon für kurze Zeit weint, macht unruhig und löst einen starken Hand­lungs­drang aus. Es alleine weinen zu lassen, ist keine Option, wir unter­stüt­zen die Eltern aber dabei, es liebe­voll zu beglei­ten.

Gemein­sam mit den Eltern gehen wir auf die Suche nach den Signa­len des Kindes.

Wann sollten Eltern Hilfe holen?
Früh! Die Drei­er­re­gel von «Drei Stunden, an mindes­tens drei Tagen die Woche, über mindes­tens drei Wochen», die vor allem früher oft als Diagno­se­instru­ment beigezo­gen wurde, sollten Eltern in meinen Augen verges­sen. Viel­mehr ist ihr elter­li­ches Erleben entschei­dend. Wenn sie spüren, dass sie das Weinen nur schwer aushal­ten, sollten sie sich bei einer Fach­stelle melden: bei den Bera­tungs­stel­len Mütter- und Väter­be­ra­te­rin­nen in Ihrer Nähe, dem Kinder­arzt oder der Kinder­ärz­tin, bei der Pro Juven­tute Eltern­be­ra­tung oder in der Nacht beim Eltern­not­ruf. Es ist wichtig, dass sie ernst genom­men werden und schnell Unter­stüt­zung bekom­men.

Schüt­teln Sie auf keinen Fall Ihr Kind!

  • Selbst leich­tes Schüt­teln des Kindes kann lebens­ge­fähr­lich sein.
  • Wenn Sie am Ende Ihrer Kräfte sind und wütend auf das Kind werden, legen Sie es ins Bett oder an einen siche­ren Ort und verlas­sen Sie das Zimmer. Es ist besser, das Kind kurz weinen zu lassen, als etwas Unüber­leg­tes zu tun.
  • Zögern Sie nicht, Hilfe anzu­neh­men!

Weitere Infor­ma­tio­nen finden Eltern im kjz-Ratge­ber Mein Kind hört nicht auf zu schreien.

Nadine Lamparter arbeitet seit 2014 als Mütter- und Väterberaterin im kjz Dübendorf

Nadine Lampar­ter

Nadine Lamparter arbeitet seit 2014 als Mütter- und Väterberaterin im kjz Dübendorf und war davor Stellvertreterin in den kjz Horgen und Dietikon. Sie hat einen Abschluss als Pflegefachfrau FH und hat während mehrerer Jahre in den Kinderspitälern Zürich und Lausanne gearbeitet. 2021 schloss sie zusätzlich zum Nachdiplomstudium Mütter- und Väterberatung ein CAS in entwicklungspsychologischer Beratung ab.

Fach­stel­len

Bei folgen­den Fach­stel­len finden Eltern in Not im Kanton Zürich Unter­stüt­zung: