Fehlende Zuwendung und Fürsorge

Emotionale Vernachlässigung – Anzeichen und Handlungstipps für das Umfeld

Die Freun­din Ihres Kindes wird beun­ru­hi­gend schnell extrem? Der Nach­bars­junge traut sich kaum, Ihnen in die Augen zu schauen? Die Anzei­chen von emotio­na­ler Vernach­läs­si­gung sind viel­sei­tig und manch­mal subtil. Doch Hinschauen und Handeln lohnt sich.

Mitt­woch­nach­mit­tag. Ihre Tochter (11) hat eine Schul­kol­le­gin einge­la­den. Das Mädchen ist neu an der Schule und Sie freuen sich, dass Ihre Tochter so offen ist. Die Kolle­gin, nennen wir sie Natalie, kommt, die Kinder ziehen sich ins Zimmer zurück. Als Nächs­tes hören Sie einen Streit. Sie sehen nach und hören, wie Natalie Ihre Tochter anfährt: «Bisch du behin­dert? Ey, figg di!»

Ein norma­ler Streit? Möglich. Ihre Tochter erzählt, sie habe gar nicht viel gemacht, nur etwas anderes machen wollen, und dann sei Natalie so extrem gewor­den. Sie habe fast Angst bekom­men.

Grund­sätz­lich lässt diese Ausgangs­lage keine gewich­ti­gen Schlüsse zu. Aber immer­hin dürfen Sie fest­hal­ten: Natalie benimmt sich auffäl­lig. Und so will Ihre Tochter Natalie nicht mehr einla­den. Sie fragen sich, wie kommt es, dass ein elfjäh­ri­ges Mädchen andere so schnell so heftig belei­digt? Es gibt viele mögli­che Gründe für Nata­lies Verhal­ten. Ein Grund, woran man viel­leicht nicht als Erstes denkt, ist emotio­nale Vernach­läs­si­gung.

Emotio­nale Vernach­läs­si­gung als Form von Gewalt

Emotio­nale (auch: psychi­sche) Vernach­läs­si­gung gilt als eine von fünf Formen häus­li­cher Gewalt gegen­über Kindern. Mit dazu gehören die psychi­sche, physi­sche (körper­li­che) und sexu­elle Gewalt sowie die physi­sche Vernach­läs­si­gung.

Ein Kind wird emotio­nal vernach­läs­sigt, wenn es keine ange­mes­sene Fürsorge erfährt oder diese ganz fehlt. Dem Kind fehlt es an Zuwen­dung, Liebe, Respekt, Gebor­gen­heit sowie an einer siche­ren Bindung und Bezie­hung. Seine Bedürf­nisse werden nicht wahr­ge­nom­men und es wird nicht alters­ent­spre­chend ange­regt, geför­dert und unter­stützt. Das heisst, dass die moto­ri­schen, kogni­ti­ven, emotio­na­len und sozia­len Kompe­ten­zen nicht gelernt werden können. Konkret: Niemand spielt oder lernt mit dem Kind oder beant­wor­tet kaum je Fragen. Häufig werden emotio­nal vernach­läs­sigte Kinder auch körper­lich vernach­läs­sigt. Sie wirken zum Beispiel unge­pflegt, mangel­er­nährt oder tragen unpas­sende Klei­dung.

Mögli­che Hinter­gründe

Emotio­nale Vernach­läs­si­gung hat meist mit den Lebens­um­stän­den der Eltern oder Bezugs­per­so­nen zu tun: Stress, Über­for­de­rung, Krank­heit, Depres­sion, Aggres­sion, schwie­rige Arbeits­si­tua­tion, finan­zi­elle Probleme, eigene Gewalt­er­fah­run­gen oder unzu­rei­chende Erzie­hungs­kom­pe­ten­zen können Rahmen­be­din­gun­gen sein. Auch eine Tren­nung der Eltern ist ein Risi­ko­fak­tor.

Ein klares Alarm­zei­chen bei Natalie?

Jedes aggres­sive Kind hat einen Grund dafür, aggres­siv zu sein. Aller­dings gibt es unzäh­lige mögli­che Gründe. Natalie kann auch einfach einen schlech­ten Tag haben. Gleich­wohl kann ihr Verhal­ten ein Hinweis auf emotio­nale Vernach­läs­si­gung sein, denn ihre heftige Reak­tion ist eher unge­wöhn­lich.

Weitere Anzei­chen können sein, wenn ein Kind …

  • sich in der Schule kaum an Regeln halten kann oder oft fehlt
  • sich selbst verletzt
  • einen nied­ri­gen Selbst­wert hat, sich z. B. als dumm bezeich­net
  • sich oft zurück­zieht
  • sich abends über­mäs­sig lange draus­sen aufhält

Was tun bei einem Verdacht

Am liebs­ten würden Sie nun sagen: Geht mich nichts an. Und oft genug bedeu­tet es auch nichts. Doch dann hören Sie auf Umwegen, dass Natalie tags­über angeb­lich sich selbst über­las­sen und die fami­liäre Situa­tion prekär sei. Ihre Tochter erzählt, dass sie auch in der Schule recht aggres­siv sei und auch frech gegen­über den Lehr­per­so­nen.

Oh Gott, denken Sie, kann ich da über­haupt etwas machen? Ja, können Sie. Beob­ach­ten Sie solche Auffäl­lig­kei­ten, können Sie Folgen­des tun:

  • Beob­ach­ten über längere Zeit
    Weil das alles unklar ist, ist es ratsam, Auffäl­lig­kei­ten über längere Zeit zu beob­ach­ten. Das ist nicht ganz einfach, wenn Ihre Tochter Natalie nicht mehr einla­den will. Viel­leicht erzählt Ihre Tochter aber wieder­holt von Erleb­nis­sen aus der Schule. Falls Natalie wider Erwar­ten doch noch­mals vorbei­kommt, sollten Sie sich nicht von vorn­her­ein einmi­schen. Zum einen hat Ihr Kind mögli­cher­weise einen Weg gefun­den, um mit der Situa­tion anders umzu­ge­hen, zum anderen können Sie das «Vernach­läs­si­gungs-Verhal­ten» dann eben nicht beob­ach­ten.
  • Die Schule infor­mie­ren
    Haben Sie einen guten Kontakt zur Klas­sen­lehr­per­son, können Sie ihr erzäh­len, was sich zuhause zuge­tra­gen hat und dass Sie das nicht so recht einschät­zen können. Schulen haben mehr Möglich­kei­ten, hinzu­schauen, denn sie betreuen das Kind mehr oder weniger ganz­tä­gig. Sie stehen (im Normal­fall) in Kontakt mit den Eltern, können sie direkt anspre­chen. Ansons­ten sind auch die Fach­per­so­nen der Schul­so­zi­al­ar­beit Ihrer Schule gute Ansprech­per­so­nen und für solche Fragen da.  
  • Eltern kennen­ler­nen
    Natürlich können auch Sie selbst die Eltern kennen­ler­nen – Eltern­abende in Schulen bieten sich dafür an. Dann können Sie eine Situa­tion wie die oben darge­stellte den Eltern erzäh­len und schauen, wie diese darauf reagie­ren. Manch­mal können solche infor­mel­len Gesprä­che etwas anregen.
  • Auch die kjz helfen
    Sind Sie beun­ru­higt, können Sie sich mit Ihren Fragen im Kanton Zürich auch an die Kinder- und Jugend­hil­fe­zen­tren (kjz) in Ihrer Region wenden.

Ultima Ratio ist immer die Gefähr­dungs­mel­dung bei der Kindes- und Erwach­se­nen­schutz­be­hörde (KESB). Diese hat dann nicht nur die Möglich­keit, sie ist sogar verpflich­tet, die Umstände abzu­klä­ren. Grund­sätz­lich darf jede Person eine Gefähr­dungs­mel­dung einrei­chen, wenn sie um das Kindes­wohl besorgt ist – sie muss die Gefähr­dung auch nicht bewei­sen. Das ist dann Sache der KESB. 

Wir haben alle die Pflicht, hinzu­schauen. Wie bereits ange­deu­tet, hat jedes Kind einen Grund für sein Verhal­ten. Und es lohnt sich lang­fris­tig, Kindern best­mög­li­che Lebens­um­stände zu ermög­li­chen.

Claude Ramme hat Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich studiert.

Claude Ramme

Claude Ramme hat Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaft studiert und eine psychoanalytisch orientierte Psychotherapie-Ausbildung am Freud-Institut Zürich absolviert. Als Sozialpädagoge arbeitete er in verschiedenen Institutionen sowie als Psychotherapeut in der ipw BSJ, der Beratungsstelle für Jugendliche und junge Erwachsene in Winterthur und Glattbrugg. Seit 2021 ist er als Erziehungsberater im kjz Dielsdorf tätig.