Anregungen aus der Forschung

Was Kinder brauchen – Antworten von Entwicklungspsychologe und Vater Moritz Daum

Was brau­chen Kinder für eine opti­male Entwick­lung? Moritz Daum, Profes­sor für Entwick­lungs­psy­cho­lo­gie an der Univer­si­tät Zürich, forscht seit Jahren zu diesem Thema.

Als Vater dreier Kinder kommt Moritz Daum, Profes­sor für Entwick­lungs­psy­cho­lo­gie, sowohl beruf­lich als auch privat schlecht um die Frage herum, was Kinder für eine opti­male Entwick­lung brau­chen. Seine Erkennt­nisse dürften somit doppelt alltags­ge­prüft sein – und für uns als Eltern von beson­de­rem Inter­esse! Lesen Sie im Folgen­den acht Punkte, die er für beson­ders wichtig hält.

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Zwei Dinge sind entschei­dend – Verläss­lich­keit und Inspiration
Die entwick­lungs­psy­cho­lo­gi­sche Forschung zeigt, dass Kinder im Grunde zwei Dinge benö­ti­gen, um sich gut zu entwi­ckeln: Zum einen ein vertrau­ens­vol­les, wohl­wol­len­des und einfühl­sa­mes Umfeld, auf das sie sich absolut verlas­sen können. Das stärkt sie in ihrer sozial-emotio­na­len Entwick­lung. Zum andern ein inspi­rie­ren­des Umfeld, das ihnen Möglich­kei­ten bietet, Dinge auszu­pro­bie­ren, kennen­zu­ler­nen und ihre Neugier auszu­le­ben. Das hilft ihnen in ihrer kogni­ti­ven Entwick­lung.

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Jede Familie ist anders – allge­mein­gül­tige Regeln gibt es kaum
Sowohl meine Erfah­rung als Forscher als auch als Vater zeigt: Neben diesen zwei Dingen gibt es nur wenige allge­mein­gül­tige Regeln. Denn eine Familie ist immer ein System bestehend aus unter­schied­lichs­ten Elemen­ten in unter­schied­lichs­ten Varia­tio­nen.

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Ein System funk­tio­niert nur als Ganzes
Das System Familie muss als Ganzes funk­tio­nie­ren und alle müssen ihren Platz und ihre Rolle darin finden. Daher ist es nicht sinn­voll, ein Teil­sys­tem isoliert zu opti­mie­ren. Bei der Entwick­lung eines Renn­wa­gens darf auch nicht nur der Motor perfek­tio­niert werden bei gleich­zei­ti­ger Vernach­läs­si­gung der Reifen. Das hätte zur Folge, dass der Wagen zwar schnell fährt, aber schon in der ersten Kurve aus der Fahr­bahn fliegt.

Eltern sollten mit ihren Kindern mitwach­sen – wohl eine der gröss­ten Heraus­for­de­run­gen des Eltern­seins.

Prof. Dr. Moritz Daum

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Anpas­sungs­fä­hig­keit ist gefragt
Die einzel­nen Teile unter­lie­gen im System Familie stän­di­ger Verän­de­rung. Kinder wachsen, werden selbst­stän­di­ger, verän­dern ihre Inter­es­sen, so dass sich das System als Ganzes ständig anpas­sen muss. Eltern sollten mit ihren Kindern mitwach­sen, sich mit ihnen verän­dern – wohl eine der gröss­ten Heraus­for­de­run­gen des Eltern­seins.

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Der Einfluss auf unsere Kinder ist begrenzt

Grund­sätz­lich gehen Eltern oft davon aus, dass sie einen wich­ti­gen Einfluss auf die Entwick­lung ihrer Kinder haben. Dieser Einfluss ist insbe­son­dere in der frühen Kind­heit tatsäch­lich sehr gross; Kinder schauen sich Verhal­tens­wei­sen von ihren Eltern ab, lernen von ihnen, «so funk­tio­niert die Welt!». Aller­dings gibt es auch eine Viel­zahl an Fakto­ren, auf die Eltern nur begrenz­ten Einfluss haben; die gene­ti­schen Anlagen oder zu einem gewis­sen Grad die Umwelt in der ein Kind aufwächst. Dazu kommt, dass der Einfluss der Eltern im Laufe der Entwick­lung abnimmt. Mit zuneh­men­dem Alter des Kindes wächst seine Auto­no­mie und es gewinnt an Möglich­kei­ten, sein Leben nach den eigenen Inter­es­sen zu gestal­ten.

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Wir sollten den Weg unserer Kinder nicht mit der Planier­raupe ebnen
Als Erwach­sene glauben wir Eltern oft, den rich­ti­gen Weg für unsere Kinder zu kennen, und wir wünschen uns, dass Kinder diesen Weg möglichst ohne Hinder­nisse gehen können. Dabei geht gerne verges­sen, dass unsere Erwach­se­nen­sicht auf die Kind­heit nicht unbe­dingt dem entspricht, was für Kinder gut ist. Zum Beispiel muss nicht alles, was Kinder tun, einem Zweck dienen, zumin­dest nicht einem, der für uns Erwach­sene offen­sicht­lich und nach­voll­zieh­bar ist. Manch­mal geht es Kindern einfach nur darum, sich aus Freude zu bewegen oder albern zu sein, aus reinem Selbst­zweck. Und auch dabei lernen Kinder enorm viel. Das geht für uns Erwach­sene oft mit einem gefühl­ten Kontroll­ver­lust einher, denn schein­bar sinn­freies Spiel kann doch nicht ziel­füh­rend sein. Aber nur weil wir den Sinn und Zweck des kind­li­chen Tuns nicht sofort erken­nen, heisst das noch lange nicht, dass es nicht genau das Rich­tige ist für ein Kind ist.

Nur weil wir den Zweck des kind­li­chen Tuns nicht sofort erken­nen, heisst das noch lange nicht, dass es nicht genau das Rich­tige ist.

Prof. Dr. Moritz Daum

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Wie wir Kinder stark machen – in einer Gesell­schaft in stetem Wandel
Die Entwick­lungs­wis­sen­schaft beschäf­tigt sich mit der Verän­de­rung, einer­seits des Indi­vi­du­ums und ande­rer­seits des Kontexts. Beide Aspekte befin­den sich in stetem Wandel. Wir können und müssen uns daher immer wieder fragen, wie wir uns selbst und unsere Kinder auf diese oft unvor­her­seh­ba­ren Verän­de­run­gen vorbe­rei­ten können. Aktuell gehören dazu Heraus­for­de­run­gen wie die Digi­ta­li­sie­rung, der Klima­wan­del, das fried­li­che Zusam­men­le­ben, bzw. dass dieses gerade durch den Krieg in der Ukraine in Frage gestellt wird. Thomas Wagner von der Hoch­schule Luzern (Wagner, 2020) skiz­zierte fünf wich­tige Eigen­schaf­ten, die helfen, Kinder auf die Zukunft vorzu­be­rei­ten:

  • Resi­li­enz, also Verhal­tens- und Denk­pro­zesse, wie mit Heraus­for­de­run­gen in der Umwelt umge­gan­gen werden kann, um Wohl­be­fin­den zu fördern und sich vor Risi­ko­fak­to­ren zu schüt­zen. Sie hilft, die immer neuen Verän­de­run­gen gut zu bewäl­ti­gen.
  • Krea­ti­vi­tät hilft, neue Lösun­gen für immer wieder neue Heraus­for­de­run­gen zu finden, Verknüp­fun­gen herzu­stel­len, wo solche erst einmal nicht sicht­bar sind.
  • Kriti­sches Denken hilft dabei, die immer schnel­ler verfüg­bare und immer grösser werdende Menge an Infor­ma­tio­nen zu bewäl­ti­gen und kritisch zu hinter­fra­gen, um sich vor Mani­pu­la­tion zu schüt­zen.
  • Emotio­nale Intel­li­genz ist die Grund­lage für die erfolg­rei­che Zusam­men­ar­beit und Kommu­ni­ka­tion.
  • Am inter­es­san­tes­ten finde ich aller­dings die fünfte Fähig­keit, die Wagner bewusst offen lässt und damit Raum für die Einzig­ar­tig­keit eines jeden Kindes schafft.

Oftmals liegt die Lösung nicht in einem strik­ten ‹Entwe­der-oder›, sondern in einem wohl­do­sier­ten ‹Sowohl-als-auch›.

Prof. Dr. Moritz Daum

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Die Intui­tion der Eltern ist mindes­tens so wichtig wie fundierte Fachliteratur
In verschie­de­nen Fach­ge­bie­ten wird viel und inten­siv über die Entwick­lung in der Kind­heit geforscht. Es ist dabei wichtig, dass dieses Wissen nicht nur in Fach­zeit­schrif­ten sondern auch in Forma­ten publi­ziert wird, die allen zugäng­lich sind. Aller­dings wird es durch die Fülle an Lite­ra­tur zuneh­mend schwie­rig, zu erken­nen, was empi­risch gut abge­stützt ist und was mir als Eltern­teil weiterhilft.
Auch wider­spie­gelt die Lite­ra­tur immer die wissen­schaft­li­che Debatte. Wenn sich Meinun­gen wider­spre­chen, sollte man deshalb nicht verges­sen, immer auch auf die eigene Intui­tion zu hören. Oftmals liegt die Lösung nicht in einem strik­ten «Entwe­der-oder», sondern in einem wohl­do­sier­ten «Sowohl-als-auch».

Porträtbild von Prof. Dr. Moritz Daum.

Moritz Daum

Prof. Dr. Moritz Daum ist Professor für Entwicklungspsychologie am Psychologischen Institut der Universität Zürich und Direktor des Jacobs Center for Productive Youth Development. Wie wird der Mensch zu einem sozialen Akteur? Wie agiert und interagiert er mit und in seiner sozialen Umgebung? Solche Fragen beschäftigen ihn und sein Team.

Lese­tipp: Wagner, T. (2020). Fünf Fähig­kei­ten, mit denen unsere Kinder punkten werden. Infor­ma­tik an der Hoch­schule Luzern.