Zwei Lehrerinnen im Gespräch

Was Kinder in der ersten Klasse erwartet

Der erste Schul­tag ist für viele Fami­lien ein grosser Schritt. Was kommt mit dem Schul­ein­tritt genau auf junge Erst­kläss­ler und Erst­kläss­le­rin­nen zu? Und was auf ihre Eltern? Zwei Unter­stu­fen­leh­re­rin­nen geben Einblick

In Kürze

  • Die Verän­de­run­gen beim Über­tritt in die erste Klasse sind nicht so gross, wie oft vermu­tet. Vieles bringen Kinder bereits aus dem Kinder­gar­ten mit.
  • Wichtig ist: Kinder müssen nicht von Anfang an alles können.
  • Die Zuwen­dung und Beglei­tung der Eltern geben Sicher­heit bei den ersten Schrit­ten. 
  • Oft ist die Zeit bis zu den Herbst­fe­rien beson­ders inten­siv.
  • Der Kontakt zur Lehr­per­son ist oft hilf­reich, um gemein­sam am glei­chen Strick zu ziehen.

Janina Kraft und Selma Surbeck - Sie sind beide lang­jäh­rige Unter­stu­fen­leh­re­rin­nen. Was ändert sich beim Über­tritt vom Kinder­gar­ten in die erste Klasse genau?
Janina Kraft: Der Über­tritt bringt viel Neues mit sich; eine unge­wohnte Umge­bung, neue Kinder und Lehr­per­so­nen, ein anderer Pausen­platz und vieles mehr. Aber: So neu, wie viele denken, ist eben doch nicht alles. Denn auch wir singen, turnen und basteln, gehen ins Schwim­men und hören Geschich­ten. Und auch wir begin­nen den Tag im Kreis, genau wie im Kinder­gar­ten. Um das aufzu­zei­gen finde ich den Bsüechli-Nach­mit­tag so wichtig, also den Besuchs­tag im Schul­haus kurz vor den Sommer­fe­rien. Da reali­sie­ren die Kinder meist, dass sie ja eigent­lich schon ganz vieles mitbrin­gen und ihre Anspan­nung und Angst vor dem Unge­wis­sen wird schnell kleiner.

Einige grosse Ände­run­gen gibt es ja aber schon, etwa wenn Haus­auf­ga­ben dazu­kom­men.
Selma Surbeck: Natür­lich und darauf freuen sich viele Kinder beson­ders fest. Da muss man immer gut aufpas­sen, dass man ihnen auch ja genug davon gibt (lacht). Aber wie Janina Kraft sagt, die Vorstel­lung vom ersten Schul­tag als dras­ti­schem Wechsel stimmt so nicht. Es ist mehr ein flies­sen­der Über­gang. Schliess­lich beginnt der Lehr­plan 21 und damit das Prinzip der Schule als eine Einfüh­rung in die Gesell­schaft mitsamt ihren Rechten und Pflich­ten bereits im Kinder­gar­ten: Die Kinder müssen zu bestimm­ten Zeiten da sein, ein gesun­des Znüni mitbrin­gen, im Kreis ruhig sitzen, nach dem Spielen aufräu­men, Konflikte lösen usw. Daher sind sie sich nicht nur viele Abläufe, sondern auch Heraus­for­de­run­gen und Verpflich­tun­gen bereits gewohnt. In der Schule kommen einfach Neue hinzu, wie eben zum Beispiel die Haus­auf­ga­ben oder auch der soziale Vergleich mit Prüfun­gen und Noten.

Wie brau­chen Kinder in dieser Zeit beson­ders?
SS: Wichtig ist es, den Kindern Zeit zu lassen. In der ersten Klasse geht es erst einmal darum, anzu­kom­men. Das dürfen Eltern ihr Kind auch spüren lassen, im Sinne von «Es ist nicht schlimm, wenn du etwas noch nicht kannst». Gleich­zei­tig dürfen sie aber auch seinen Glauben daran stärken, dass mit Übung alles immer besser gelin­gen wird und ihm dabei zeigen: Auf dem Weg dahin bin ich für dich da.

JK: Zeit lassen und Halt geben finde ich auch sehr wichtig. Ein Kind ohne Druck zum Dran­blei­ben zu ermun­tern, erlebe ich aber oft als anspruchs­volle Grat­wan­de­rung. Kinder haben das Gefühl, sie müssten immer alles sofort können. Und gemei­ner­weise beob­ach­ten sie bei manchen anderen Kindern, dass ihnen tatsäch­lich alles auf Anhieb gelingt. Das ist aber beim Lernen nicht der Normal­fall! Eltern dürfen das ihren Kindern bewusst machen, so fällt ihnen das Dran­blei­ben oft einfa­cher.

Was empfeh­len Sie bei Schul­stress oder Frust?
SS: Es kann gut sein, dass Kinder stär­kere Emotio­nen zeigen als im Kinder­gar­ten und diese auch zuhause an den Eltern ablas­sen. Das ist Ausdruck ihrer Anstren­gung und all dessen, was sie in der Schule leisten. Es ist wichtig, das als Eltern auszu­hal­ten und sie dabei zu beglei­ten. Manch­mal fallen Kinder in dieser Zeit auch zurück in frühere Verhal­tens­wei­sen, also dass sie beispiels­weise wieder Baby­spra­che benut­zen. In der Regel dauert diese inten­sive Zeit aber nur bis zu den Herbst­fe­rien.

JK: In der Zeit, in der sich alles verän­dert, hilft allge­mein eine gute Struk­tur mit vielen Ritua­len. Das beru­higt. Also beispiels­weise immer um die gleiche Zeit aufste­hen und ins Bett gehen, frei­tags immer das gleiche Zmittag, abends gemein­sam den Schul­thek packen, Schlaf­ri­tuale. Doch ich denke, selbst wenn zwischen­durch Frust aufkommt – wichtig ist, dass Eltern ihren Kindern viel zutrauen und ihnen das auch zeigen: «Ja, du schaffst das.» - «Du schaffst den Schul­weg alleine.» - «Du kannst das.» Solange die Eltern sie nicht ins kalte Wasser werfen, sondern sie beglei­ten und sich später Schritt für Schritt zurück­neh­men, sind Kinder zu unglaub­lich vielem fähig. 

Welche Entwick­lun­gen beob­ach­ten Sie in den ersten Schul­jah­ren?
SS: Die Entwick­lungs­pro­zesse sind enorm. Die zuneh­mende Lese- und Schreib­fä­hig­keit etwa erlaubt eine immer grös­sere Distanz zu sich selbst und ermög­licht so das Nach­den­ken sowohl über das eigene Denken als auch die Gedan­ken der anderen. Damit entfer­nen sich Kinder immer weiter weg vom Egozen­tris­mus. Das spüren sie selbst auch. So befürch­tete ein Junge beispiels­weise einmal, dass er nicht mehr der Gleiche sei, sobald er lesen könne. Diese Entwick­lungs­pro­zesse sind aber natür­lich, sie werden in der Schule nur geför­dert.

JK: Ich finde es auch immer eindrück­lich, wie selbst­stän­dig die Kinder in den ersten Schul­jah­ren werden. Sich konzen­trie­ren, Ausdauer zeigen oder sich selbst orga­ni­sie­ren sind Dinge, die zu Beginn sehr anspruchs­voll sind. Doch da passie­ren enorme Fort­schritte. Als Lehr­per­son muss man daher die letzten Schul­wo­chen mit einem Klas­sen­zug immer ganz bewusst genies­sen – bevor man all diese Errun­gen­schaf­ten weiter­zie­hen lässt und sich wieder frischen Erst­kläss­lern und Erst­kläss­le­rin­nen widmet.

Wo erleben Sie die gröss­ten Sorgen von Eltern?
JK: Einige Eltern sorgen sich, dass ihr Kind keine Freunde findet. Manche Kinder sind auch tatsäch­lich erst einmal über­for­dert ab den vielen neuen Mitschü­le­rin­nen und Mitschü­lern. Das kann dazu führen, dass sie selbst Wochen später noch nicht alle Namen kennen. Hier können die Eltern unter­stüt­zen, etwa indem sie ihr Kind aufmun­tern, den Namen eines ihm sympa­thi­schen Kindes heraus­zu­fin­den und ihn oder sie einmal zum Spielen einzu­la­den. Das kann den Damm brechen und auch später im Klas­sen­ver­band Sicher­heit geben. Auch wenn Eltern unter­ein­an­der einen guten Kontakt pflegen, ist das oft hilf­reich.

Was tun, wenn Eltern fürch­ten, eine andere Haltung zu haben als die Lehr­per­son?
SS: Klar, diese Befürch­tung ist sicher oft da und die haben wir Lehr­per­so­nen übri­gens selbst auch. Ich denke, für das Kind ist aber wichtig, dass es mögli­che Gegen­sätze nicht zu spüren bekommt. Denn das ist meist eine Über­for­de­rung und hindert schlimms­ten­falls am Lernen. Auch ist dem Kind nicht gehol­fen, wenn sich die Eltern mit ihm verbün­den, sollte es sich einmal über die Schule ärgern. Hilf­rei­cher ist es, das Kind zu ermu­ti­gen, seine Anlie­gen mit der Lehr­per­son zu klären. Denn das Kind muss mit dem Unter­richt klar­kom­men, nicht die Eltern.

JK: Ist ein Kind spürbar unglück­lich, soll man das aber natür­lich ernst nehmen und sich nicht scheuen, den Kontakt mit der Lehr­per­son zu suchen. Oft hilft der Austausch. So erhal­ten Lehr­kräfte die Gele­gen­heit, ihre Unter­richts­ziele zu erklä­ren und die Eltern können Rück­mel­dun­gen vom Kind besser einord­nen. Sollten sich die Meinun­gen dennoch einmal unter­schei­den, hilft in der Regel die Suche nach dem gemein­sa­men Konsens. Also nach jenen Punkten, bei denen alle am selben Strick ziehen können. Denn beide Seiten wollen ja immer das Beste für das Kind und das lässt sich mit gemein­sa­men Zukunfts­zie­len oft am einfachs­ten umset­zen.

Janina Kraft, Lehrerin

Janina Kraft

Janina Kraft arbeitet seit 2013 als Lehrperson auf der Unterstufe. Sie hat die Pädagogische Hochschule Zürich absolviert und einen Master in Erziehungswissenschaften und Sonderpädagogik abgeschlossen. Während ihrer Ausbildung und beruflichen Tätigkeit hat sie Einblick in verschiedene Schulsysteme erhalten, in Tansania, Bosnien-Herzegowina oder Grossbritannien. Neben dem Unterrichten ist sie als Projektmitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Erziehungswissenschaft tätig.

Selma Surbeck, Lehrperson Unterstufe

Selma Surbeck

Selma Surbeck arbeitet seit 2009 als Lehrperson auf der Unterstufe. Sie hat die Pädagogische Hochschule Zug sowie einen Master in Erziehungswissenschaften abgeschlossen und war in Frankreich und Norwegen in der Vorschule tätig. Neben dem Unterricht in der Unterstufe arbeitet sie in der Ausbildung für angehende Lehrpersonen. Auch für die erfahrene Lehrerin sind erste Schultage nach wie vor etwas ganz Besonderes.