Sandra, Carmine, Fabio, Nino und Alessio

«Nino ist jetzt herzgesund»

Sandra managt einen Haus­halt mit vier Männern: Fabio (7), Nino (4), Alessio (2) und Gatte Carmine. Nino hat das Down­syn­drom. Dieser Umstand taktet die Woche der Familie, erwei­tert aber auch ihren Hori­zont.

«So ruhig ist es sonst nie bei uns, wirk­lich nie!», sagt Sandra (34) und schaut ihre drei Jungen an. Ihr Ältester, Fabio, sitzt auf der Couch und ist in ein Buch vertieft. Alessio lehnt sich ans linke Bein seiner Mutter, Nino sitzt fiebrig müde auf ihrem rechten. Vater Carmine (34) ist soeben von der Arbeit nach Hause gekom­men. Er hat sich zu seiner Frau an den Tisch gesetzt. Hier, zwisch­en der offenen Küche und dem Wohnzim­mer, ist das Epizen­trum ihres Zuhau­ses. Der fünf­köp­fige Clan lebt in einem Einfa­mi­li­en­haus in Lufin­gen. Seit sechs Jahren wohnt die Familie nun hier. Es kenne sie fast jeder im Dorf, sagt der Vater, der in Bern bei den SBB arbei­tet. Und Sandra: «Auch in einer andern Gemeinde sprach mich eine fremde Frau an: ob mein Sohn Nino heisse?»

Nino fällt auf. Der 4-Jährige hat das Down­syn­drom. Seine Termine struk­tu­rie­ren Sandras Woche. Sie zählt auf: «Montag ist heil­päd­ago­gi­sche Früh­erzie­hung und Spiel­gruppe. Diens­tag alle drei Wochen Physio­the­ra­pie. Mitt­woch Kita, Donners­tag­mor­gen Wald­spiel­gruppe, am Nach­mit­tag kommt alle zwei Wochen die Low-Vision-Heil­päd­ago­gin zu uns. Sie macht spezi­elle Seh-Früh­för­de­rung mit ihm. Nino hat­te schon als Klein­kind ein Augen­zit­tern.» Am Frei­tag­nach­mit­tag schliess­lich stehe Logo­pä­die auf dem Programm. Das AJB finan­ziert diese sonder­päd­ago­gi­schen Mass­nah­men und die Familie schätzt das Thera­pie­an­ge­bot sehr.

Sandra erfuhr in der 26. Schwan­ger­schafts­wo­che, dass das Kind in ihrem Bauch einen Herz­feh­ler hat. Zuvor hatte niemand Unre­gel­mäs­sig­kei­ten entdeckt – auch weil ein Labor­test verlo­ren gegan­gen war. Mit der Diagnose des Herzfehlers war dann unter anderem klar, dass ihr zweites Kind das Down­syn­drom haben wird. Es hiess, dass er gute Aussich­ten habe, nach der Opera­­tion als «herz­ge­sund» zu gelten. Für beide Eltern war damit klar, dass sie das Kind be­halten wollten.

Durch Nino mussten sich die Kommuni­kationsfachfrau und der SBB-Mitar­bei­­t­ende plötz­lich mit sehr grundsätz­lichen Fragen beschäf­ti­gen – etwa der, was ein Leben lebens­wert macht. Die Fami­li­en­frau sagt: «Wenn man diese Frage vom bereits weit entwickel­ten Kind her denkt, finde ich sie unheim­lich schwie­rig. Denn das Kind hat ja nur dieses Leben, es selber kann nicht entschei­den, was lebens­wert ist und was nicht.»

Nino war vier Monate alt, als er am offenen Herzen operiert wurde. Alles ging wie erwar­tet gut. Die Zeit davor war streng und nerv­lich aufrei­bend, auch weil das Baby extra für die OP an Gewicht zulegen musste. «Zusätz­lich zum Stillen musste ich Mutter­milch abpum­pen und den rahmi­gen Teil der Milch mit dem Löffel abschöp­fen», erzählt Sandra. Für den damals zwei­jäh­ri­gen Fabio bedeu­tete das, dass er sich viel mit sich selber beschäf­ti­gen musste. Er sei ein selbst­stän­di­ges Kind, sagen die Eltern – «viel­leicht auch ein wenig deswe­gen.»

Liebt man ein Kind, um dessen Über­leben man gekämpft hat, mehr als andere? Sandra antwor­tet ganz unsentimental: «Ich glaube nicht. Mit drei Kindern ist es ja ohnehin so, dass einem einmal dieses näher steht, dann das andere. Das hängt auch sehr von den Phasen ab. Tief innen ist die Liebe für alle gleich.» Aber die Tole­ranz, wenn einer Seich mache, sei bei Nino schon am gröss­ten, sagt der Vater schmun­zelnd. Sandra ergänzt: «Man erwar­tet auch weniger von einem Kind, welches das Down­syn­drom hat. Was eigent­lich total falsch ist. Man sollte im Rahmen der Möglich­kei­ten gleich viel er­warten. Schliess­lich erwar­tet man von der Gesell­schaft ja auch, dass sie Menschen mit Beein­träch­ti­gung die glei­chen Chancen gibt.»

Was am ehesten zu kurz kommt, ist mein Schlaf.

Angst, dass jemand in der Familie zu kurz kommt, hat Sandra aber nicht: «Wenn hier etwas vernach­läs­sigt wird, ist es mein Schlaf.» Sie, die selber als Einzel­kind aufge­wach­sen ist und ihre Eltern früh verlo­ren hat, geniesst das Fami­li­en­le­ben inklu­sive des Rummels, der Dauer­zu­stand ist. Den Ausgleich holt sie sich in der Nacht, wenn alle schla­fen. «Das ist mein Frei­raum.»

Text: Esther Banz