Häusliche Gewalt – Teil 2

Hört auf zu schreien!

Im Kanton Zürich rückt die Polizei drei­zehn Mal am Tag wegen Häus­li­cher Gewalt aus. Bei rund der Hälfte der Fälle sind Kinder anwe­send. Dies kann für Kinder schlimme Folgen haben. Doch was tun, wenn Gewalt im Spiel ist?

Während des Lock­downs haben Exper­ten gewarnt, dass die soziale Isola­tion und das enge Zusam­men­le­ben der Fami­lien zu einer Zunahme von Häus­li­cher Gewalt führen könnte. In vielen Kanto­nen sind die Zahlen bis jetzt zwar nicht gestie­gen, wie die Taskforce des Bundes mitteilte. Doch gerade in Krisen-Situa­tio­nen kann Häus­li­che Gewalt verzö­gert auftre­ten.

Trau­ma­ti­sche Belas­tung für Kinder

Gewalt in den eigenen vier Wänden zu erfah­ren, hat gerade für Kinder häufig schwere Folgen. Es kann die soziale und psychi­sche Entwick­lung eines Kindes beein­träch­ti­gen und zu trau­ma­ti­schen Belas­tun­gen führen. Beson­ders kleine Kinder können stark darun­ter leiden. «Je mehr ein Kind von seinen Eltern abhän­gig ist, umso verun­si­chern­der und beängs­ti­gen­der ist die Situa­tion und umso grösser ist die Auswir­kung auf das Bezie­hungs­ver­hal­ten und auf die Entwick­lung», erklärt Sandra Stössel, die im Fach­be­reich Kinder- und Jugend­hilfe arbei­tet und sich seit über zwanzig Jahren für die Rechte von Kindern einsetzt.

Aber auch für ältere Kinder ist Gewalt zwischen den Eltern gravie­rend. Die Belas­tung kann verschie­dene Gefühle auslö­sen und Auffäl­lig­kei­ten verur­sa­chen wie Schuld­ge­fühle, Unruhe, Aggres­si­vi­tät, Nieder­ge­schla­gen­heit, schlechte Schul­leis­tun­gen, Angst, Wut oder Trauer. Nicht selten versu­chen Kinder die Gewalt­si­tua­tion zu verhin­dern, indem sie sich ange­passt verhal­ten oder sich sogar vor den bedroh­ten Eltern­teil stellen.

Die Forschung hat gezeigt, dass Mädchen und Jungen im glei­chen Masse betrof­fen sind. «Dazu kommt, dass Kinder Erwach­sene imitie­ren und oft das Vorge­lebte über­neh­men. Das heisst, sie handeln nach densel­ben Mustern wie ihre Eltern und lernen, Probleme auf die gleiche Weise zu lösen», erklärt Stössel.

Gewalt erken­nen

Ein lautes Wort, eine hitzige Diskus­sion – wann wird aus einem harm­lo­sen Streit eine Gewalt­si­tua­tion? «Menschen spüren den Unter­schied zwischen Ärger und Angst. Schätzt man eine Situa­tion als bedroh­lich ein und ist – auch unbe­wusst – alar­miert, ist das ein Anzei­chen», erklärt Regula Kupper, Leite­rin des kjz Winter­thur. Kinder haben noch feinere Anten­nen. Sie fragen Eltern schnell ‹Warum strei­tet ihr?›, wenn Erwach­sene es bloss als Diskus­sion ansehen. «Das zeigt, wie schnell Kinder eine Situa­tion als bedroh­lich wahr­neh­men», hält sie fest. Die Gewalt­spi­rale beginnt dabei oft schon vor der physi­schen Gewalt zu drehen. Der Umgang mitein­an­der wird aggres­si­ver, Beschimp­fun­gen begin­nen. Macht wird zum Thema und Verzweif­lung kommt auf. Aus diesem Grund ist es wichtig, früh­zei­tig zu reagie­ren, um sich und seine Kinder zu schüt­zen.

Einsicht und Hilfe holen

Um Kinder und sich selbst vor Häus­li­cher Gewalt zu schüt­zen, können die folgen­den Tipps helfen:

  • Einsicht, dass ein Problem besteht: Gewalt schadet immer und ist nie eine Lösung. Das betrifft sowohl den Täter als auch das Opfer. Deshalb benö­tigt es als ersten Schritt die Einsicht, dass man die Situa­tion ändern muss, insbe­son­dere zum Schutz der Kinder.
  • Hilfe holen: Es gibt ein gutes und breites Netz­werk an Bera­tungs­stel­len für Opfer und Täter sowie für Kinder. «Diese sind primär unter­stüt­zend und nicht stra­fend», hält Stössel fest. Gerade während der Corona-Krise hat das Eidge­nös­si­sche Büro für Gleich­stel­lung (EBG) hierfür eine Plakat­ak­tion ins Leben gerufen.
  • Darüber reden: Es kann helfen, wenn man ein oder zwei Freunde über die Situa­tion infor­miert. «So kann man darüber reden und erhält eine soziale Kontrolle. Es ist wichtig, dass man dabei nicht verur­teilt wird, sondern Unter­stüt­zung erhält, um das Problem zu lösen», erklärt Kupper.
  • Stra­te­gien zurecht­le­gen: Beim Aufkom­men eines Streits, die Wohnung verlas­sen. Sich erst tele­fo­nisch oder mit einer Text-Nach­richt austau­schen, ehe man aufein­an­der­trifft. Wenn man merkt, dass man aggres­siv reagiert, etwa wenn man getrun­ken hat, die Nacht anderswo verbrin­gen. Die Stra­te­gien sind dabei sehr indi­vi­du­ell. Bera­tungs­stel­len, wie die Kinder- und Jugend­hil­fe­zen­tren können hier unter­stüt­zen, um die passende zu finden.
  • Kinder schüt­zen: Kinder benö­ti­gen ganz beson­dere Unter­stüt­zung. Es ist wichtig, dass sie sich jeman­dem anver­trauen können. Die Stif­tung Kinder­schutz Schweiz hat hierfür eine audio­vi­su­elle Themen­mappe entwi­ckelt. «Das Thema sollte entta­bui­siert werden», erklärt Kupper, «damit Kinder über ihre Gefühle spre­chen können. Es muss dabei klar sein, dass sie keine Schuld oder Verant­wor­tung trifft und sie wieder Zuver­sicht erhal­ten». Hierzu gibt es Bera­tungs­stel­len spezi­fisch für Kinder.
  • Aktiv werden: Wenn man das Gefühl hat, bei jeman­dem im Umfeld herr­sche Gewalt vor, ist es wichtig, das anzu­spre­chen. Dabei sollte man nicht urtei­len, sondern auf die Bera­tungs­stel­len aufmerk­sam machen und betonen, dass Gewalt nie in Ordnung ist und man sich helfen lassen kann.

Regula Kupper

Regula Kupper arbeitet, nach zehn Jahren Auslandaufenthalten mit ihrer Familie in Indonesien und Ecuador, seit fast 18 Jahren in der Kinder- und Jugendhilfe. Sie führte acht Jahre lang eine Abteilung der Jugend- und Familienberatung und übernahm dann 2017 die Leitung des kjz Winterthur.

Sandra Stössel

Sandra Stössel ist Juristin (lic. iur.) mit zusätzlichem Master in Kinderrechten (Master in children’s rights) und seit 20 Jahren im Kindesschutz tätig. Seit 2013 arbeitet sie im Fachbereich Kinder- und Jugendhilfe des AJB. Zunächst arbeitete sie als Jugendsekretärin im Schulkreis Uto der Stadt Zürich, dann als Leiterin des Fachbereichs Kinder- und Jugendhilfe in den Sozialen Diensten der Stadt Zürich. Von 2008 bis 2011 war sie Projektleiterin für das Projekt Kindeswohl und Kinderrechte im AJB. Dann folgten zwei Jahre bei Integras, Fachverband für Sozial- und Sonderpädagogik.