«Ich kämpfe mit einem Loyalitätskonflikt zwischen meinen Eltern und der Wahrheit»
Anna* (40) ist verheiratet und arbeitet in der Finanzbranche. Mit ihrem Mann hat sie bewusst keine eigenen Kinder bekommen. Dass ihre Eltern für ihre Zeugung eine anonyme Samenspende in St. Gallen bezogen haben, hat sie erst im Alter von 38 Jahren erfahren – ein Umstand, der sie bis heute beschäftigt.
Anna, du hast erst so spät erfahren, dass dein Vater nicht dein biologischer Vater ist?
Ja, vor 22 Monaten. Unglaublich, oder? So etwas erst in der Lebensmitte zu erfahren, ist eine Tragödie. Der Schock, die Verunsicherung, die Wut gegenüber meinen Eltern … Ich bin noch immer damit beschäftigt, diese Situation zu verarbeiten.
Wie hast du dich gefühlt, als du davon erfahren hast?
Plötzlich hat sich vor mir ein Abgrund aufgetan und alles war weg: meine Identität, mein Selbstverständnis – alles verschwunden. Ich musste mich wieder neu definieren, eine Aufgabe, die mich heute noch beschäftigt. Fragen über meine Existenzberechtigung ziehen mich immer wieder hinunter. Das Gefühl, ein Fehler der Natur zu sein, etwas, das es gar nicht geben dürfte … Dies aufzuarbeiten braucht enorm viel Kraft und Durchhaltevermögen.
Womit kämpfst du am meisten?
Das Schwierigste ist das Alleinsein mit meinen Gedanken und Gefühlen, dass ich nicht offen darüber sprechen darf. Meine Eltern interessieren sich nicht für mein Befinden und die, die es tun, können mir nicht helfen. Mein Mann und mein Freundeskreis sind unglaublich wichtige Konstanten für mich. Aber auch sie können letztlich nicht nachempfinden, wie es mir wirklich geht und was mich plagt. Auch konnte ich bis jetzt keine psychologische Fachperson finden, die auf solche Erlebnisse und Erfahrungen spezialisiert ist und nachempfinden kann, was ich fühle.
Meine Eltern wollten mich wie Knete formen, damit ich besser zur Familie passe.
Haben dir deine Eltern von der anonymen Samenspende erzählt?
Nein, ganz und gar nicht. Ich hatte einen DNA-Test gemacht, meine Ergebnisse jedoch nie richtig studiert und sie zur Seite gelegt. Ein paar Monate danach kontaktierte mich über die DNA-Plattform eine Frau aus Süddeutschland. Sie hatte den gleichen DNA-Test gemacht und ihre Ergebnisse mit der Datenbank abgeglichen. So fand sie heraus, dass wir Halbschwestern sind und klärte mich über meine Herkunft auf. Ich war schockiert. Mittlerweile habe ich Kenntnis von 15 Halbgeschwistern aus drei verschiedenen Ländern.
Und dann hast du das Gespräch mit deinen Eltern gesucht?
Genau. Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich über meine Kindheit sprechen wolle, und sie direkt mit meinen Fragen konfrontiert. Sie war so schockiert, dass sie die Lügen nicht mehr länger aufrechterhalten konnte. Doch anstatt endlich offen mit der Wahrheit umzugehen, verbot sie mir, anderen davon zu erzählen, schon gar nicht meinen Grosseltern oder anderen Verwandten. Anstatt ehrlich mit mir zu sein und mir zu helfen, liessen und lassen mich meine Eltern allein. In der Folge habe ich nun mit einem Loyalitätskonflikt zwischen meinen Eltern und meiner Wahrheit zu kämpfen. Der offene Umgang damit würde mir enorm helfen – doch mir Konflikte mit der Familie einbringen.
Wie ist die Beziehung zu deinem Vater?
Ich nenne ihn heute nur noch meinen «offiziellen Vater». Wir hatten nie eine besonders gute Beziehung. Ich war als Kind anders als der Rest der Familie. Seit ich von der Samenspende Kenntnis habe, hat er nie von sich aus das Gespräch mit mir gesucht; das Thema wird einfach totgeschwiegen. Meine Eltern wollten mich wie Knete formen, damit ich besser zur Familie passe. Nachdem das Geheimnis gelüftet worden war, versuchte ich, mit ihnen darüber zu reden, ich bot sogar an, zusammen zu einem Familientherapeuten zu gehen. Sie blockten jedoch sofort ab. Meine Mutter sagte, ich solle doch bedenken, wie es ihm dabei gehe, ein Mann aus Italien dürfe nicht zeugungsunfähig sein! Das war schon heftig. Meine Eltern haben mich fast 40 Jahre lang belogen und nachdem ich die Wahrheit herausgefunden hatte, wollten sie mich zum Stillschweigen zwingen. Die Verwandten dürfen nichts erfahren, nur das ist ihnen wichtig.
Es sollte nicht in der Hand von Dritten liegen, was ich über meine biologischen Eltern wissen darf und was nicht.
Möchtest du deinen biologischen Vater kennenlernen?
Auf jeden Fall! Leider ist die Suche unglaublich aufwändig und kostet viel Energie. Ich habe herausgefunden, dass ich gewisse Informationen über ihn eventuell im Staatsarchiv finden könnte. Doch dort wird mir der Zutritt verwehrt. Das finde ich nicht fair. Es sollte nicht in der Hand von Dritten liegen, was ich über meine biologischen Eltern wissen darf und was nicht. Ich bin doch ein Mensch mit Gefühlen und Rechten. Wieso wird mir das Recht auf Kenntnis der Herkunft verwehrt? Schliesslich wurde es nicht einfach so gesetzlich verankert!
Was hättest du dir von deinen Eltern gewünscht?
Zum einen, dass sie das Thema selbst aufs Tapet gebracht hätten. Sie wussten ja, dass ich einen DNA-Test mache, allerspätestens dann hätten sie es ansprechen sollen. Es ist unfair, die Wahrheit so lange vor einem Kind zu verstecken. Ich hatte als Kind mehrfach gefragt, ob ich adoptiert sei! Doch meine Mutter lachte mich bei solchen Fragen jeweils aus … Ich finde, Eltern sind verpflichtet, ihr Kind ohne Wenn und Aber über ein solches Thema zu informieren. Und sie müssen nicht auf den perfekten Zeitpunkt warten – den gibt es nicht! Wenn sie das Thema von Anfang an offen ansprechen, braucht es diesen auch nicht. Denn die Wahrheit von einer fremden Person erfahren zu müssen, ist ein irreparabler Schaden für das familiäre Vertrauensverhältnis.
Zum anderen hätte ich mir gewünscht, dass meine Eltern mich so akzeptiert hätten, wie ich bin, und mein Anderssein nicht als Bedrohung empfunden hätten. Ich wurde ständig geformt und durfte nur das tun, was in ihren Augen zur Familie passte. In die Pfadi gehen, mit dem Velo unterwegs sein, Geige spielen – dies und noch vieles mehr wurde mir nicht erlaubt.
Welche Tipps möchtest du Eltern auf den Weg geben, die moderne Fortpflanzungsverfahren genutzt haben?
Sprecht mit eurem Kind so offen und ehrlich wie möglich! Das ist das Wichtigste. Holt euch Hilfe, wenn ihr sie braucht – bei Familientherapeuten, Beratungsstellen, im Internet. Dafür muss man sich nicht schämen. Und seid euch bewusst, dass euer Kind vielleicht anders ist, als ihr erwartet. Akzeptiert es, wie es ist. Wir sind alle Menschen mit Emotionen, Eigenschaften und Charakter und keine Objekte, die man nach eigenem Gutdünken zurechtbiegen kann.
* Name durch die Redaktion geändert