Das sagt die Sexualpädagogin

«Jugendlichen fehlen Lerngelegenheiten im Umgang mit Nähe und Distanz»

Flirten, teasen, ghosten, haten: Heutige Jugend­li­che wissen, wie das geht – im Netz. In der realen Welt fehle es ihnen aber an Übungs­ge­le­gen­hei­ten, sagt Sexu­al­päd­ago­gin Katja Hoch­stras­ser. Grenzen spüren und markie­ren zu können, sei aber enorm wichtig. Wie können Eltern sie unter­stüt­zen?

Katja Hoch­stras­ser, Sie sagen, Jugend­li­chen fehlen wich­tige Lern­ge­le­gen­hei­ten. Welche?
Jugend­li­che nutzen die sozia­len Medien heute inten­siv. Zwischen ihrem Verhal­ten in der virtu­el­len Welt und den sozia­len Regeln der realen Welt bestehen aller­dings grosse Unter­schiede: Alleine vor dem Bild­schirm fühlen sich viele sicher. Da kann man sich schon einmal in etwas hinein­stei­gern und unglaub­lich fiese Texte raus­hauen. Das ist eine ganz andere Situa­tion, als wenn sie ihr Gegen­über direkt vor sich hätten. Online spürt man keine direk­ten Konse­quen­zen des eigenen Verhal­tens. Ob man zu weit gegan­gen ist oder gar Gefühle verletzt hat. Dadurch fehlen Lern­ef­fekte im Sozi­al­ver­hal­ten, sprich, Jugend­li­che lernen gegen­sei­tige Grenzen weniger kennen. Auch werden sie von Grenz­über­trit­ten im echten Leben eher über­rascht und haben weniger Übung darin, sich zu wehren.

Was können Eltern tun?
Auf sich selber zu hören und im rich­ti­gen Moment Stopp zu sagen, ist ein Lern­pro­zess. Eltern können viel zu diesem Prozess beitra­gen, wenn sie die Wahr­neh­mung für Grenzen von Beginn an fördern. Indem sie etwa respek­tie­ren, wenn Kinder gerade nicht geknud­delt werden möchten, aber auch mittei­len, wenn ihnen als Eltern selber etwas nicht gut tut. Später, mit Jugend­li­chen, können sie zum Beispiel das laute Stopp­sa­gen konkret üben. Denn wie gesagt – einfach so können das die Wenigs­ten von uns. Ich beob­achte, dass sich heute viele über dieses «Stopp!» lustig machen, auch die Jugend­li­chen selbst. Das genaue Wort spielt aber keine Rolle, möglich ist auch «Hey» oder ähnlich – Haupt­sa­che, die Jugend­li­chen teilen sich mit.

Wie können Jugend­li­che weiter gestärkt werden?
In unseren Bera­tun­gen merken wir, dass es für Junge heute sehr anspruchs­voll ist, Aussa­gen und Verhal­ten richtig einzu­ord­nen. Wo ist etwa ein Spruch ein Flirt? Wo geht es zu weit? Jugend­li­che sollten spüren, dass sie sich mit Unsi­cher­hei­ten an Erwach­sene wenden dürfen und von ihnen ernst genom­men werden. Gemein­sam kann so geschaut werden, welche Reak­tion sich für das Kind von Fall zu Fall gut anfüh­len würde. Wir merken etwa, dass es gerade den Mädchen oft viel hilft, wenn wir sie darin stärken: Es ist völlig okay, bei einem dummen Spruch einfach wegzu­lau­fen. Darüber hinaus ist es aber auch wichtig, mit Jugend­li­chen über Konsens zu reden, also über Zustim­mung bei sexu­el­len Hand­lun­gen.

Das Thema Konsens wird gerade viel disku­tiert. Wie können Eltern das zuhause angehen?
Indem sie mit Jugend­li­chen thema­ti­sie­ren, dass sexu­elle Hand­lun­gen nur mit dem gegen­sei­ti­gen Einver­ständ­nis in Ordnung sind und Fragen dafür uner­läss­lich sind. Niemand kann Gedan­ken lesen und gerade den Jungs in der Puber­tät fehlt oft die Übung, im Hormon­rausch die Körper­spra­che vom Gegen­über richtig zu lesen. Gegen­sei­ti­ges Nach­fra­gen ist daher entschei­dend: «Darf ich dich berüh­ren?», «Darf ich dich küssen?», «Darf ich weiter­ma­chen?» Das klingt unsexy. Doch erst wenn wir einan­der erlau­ben, über Inti­mi­tät, Bedürf­nisse und Grenzen zu reden, können wir Bezie­hun­gen auf Augen­höhe führen. Auch hier macht sich die Gesell­schaft zurzeit manch­mal lustig über solche Fragen. Wenn das Gesetz «Nur ja heisst ja» hoffent­lich bald kommt, müssen wir das aber alle lernen. Und damit alte Rollen­bil­der im Bereich Sexua­li­tät verlas­sen.

In der Puber­tät sind nicht alle Jugend­li­chen für den Austausch leicht zugäng­lich. Wie sollen sich Eltern verhal­ten?
Das ist so. Ab viel­leicht elf, zwölf Jahren erzäh­len Kinder meist nicht mehr so viel wie früher, sind viel­leicht gar etwas grimmig unter­wegs. Eltern sollen sich davon aber nicht irri­tie­ren lassen und trotz­dem präsent bleiben. Damit meine ich: physisch anwe­send sein, begrüs­sen, nach­fra­gen. Einfach ohne jeweils bei jeder Frage das grosse Gespräch zu erwar­ten. Viele Jugend­li­che erzäh­len mir, dass es sie beru­higt, ihre Eltern im Haus präsent zu wissen – auch wenn sie sich sofort aufs Zimmer zurück­zie­hen. Es tut ihnen gut, zu spüren: Jemand ist da, wenn etwas ist. Und ich darf von mir erzäh­len, wenn ich möchte.

Was können Eltern tun, um ihre Kinder konkret für ihre Grenzen in der Sexua­li­tät zu sensi­bi­li­sie­ren?
Viele Eltern haben Angst, zu früh über Sexua­li­tät zu reden. Doch es ist wichtig, Kinder so früh wie möglich aufzu­klä­ren. Im Kindes­al­ter heisst das: Über den Körper reden, eine Sprache für die Körper­teile geben und vermit­teln «Dein Körper gehört dir». Da dürfen Eltern ruhig mutig sein, gemein­sam Aufklä­rungs­bü­cher für Kinder anschauen oder diese später im Jugend­al­ter aufle­gen und zugäng­lich machen. An Eltern­aben­den erzähle ich dazu manch­mal ein Erleb­nis meiner Tochter: Als sie etwa vier Jahre alt war, fasste ihr ein Junge in der Kita zwischen die Beine. Die Betreue­rin­nen erzähl­ten mir, dass sie darauf­hin einen Schritt zurück­ge­tre­ten sei und laut geschrien habe: «Hör auf, mich an meiner Vulva anzu­fas­sen!» Der Junge sei fest erschro­cken, habe geweint und in der Kita nie mehr ähnli­ches Verhal­ten gezeigt. Mir zeigt das: Haben Kinder Worte für ihren Körper, können sie ihre eigenen Grenzen besser wahr­neh­men und diese anderen auch deut­lich machen.

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Katja Hochstrasser ist Fachfrau für sexuelle und reproduktive Gesundheit SGCH und Sexualpädagogin bei SpiZ Sexualpädagogik Zürich.

Katja Hoch­stras­ser

Katja Hochstrasser ist Fachfrau für sexuelle und reproduktive Gesundheit SGCH und Sexualpädagogin bei SpiZ Sexualpädagogik Zürich. Sie ist Mitglied in der Eidgenössischen Kommission für Fragen zu sexuell übertragbaren Infektionen (EKSI) und coacht auch Eltern zu Themen wie sexuelle Gesundheit und Herausforderungen während der Pubertät.

Neuste Befra­gun­gen zeigen, dass die Erfah­run­gen mit sexu­el­ler Gewalt bei Jugend­li­chen im Kanton Zürich in den letzten Jahren zuge­nom­men haben. Sowohl bei Mädchen als auch Jungen sowie in allen Berei­chen. Etwa bei Erfah­run­gen mit sexu­el­ler Nöti­gung, sexu­el­ler Beläs­ti­gung im schu­li­schen Kontext, sexu­el­ler Beläs­ti­gung im Netz, aber auch mit sexu­el­ler Gewalt in jugend­li­chen Paar­be­zie­hun­gen. Das heisst in jungen Paar­be­zie­hun­gen zum Beispiel konkret: Mehr junge Frauen gaben an, in ihren Bezie­hun­gen zum Berüh­ren von intimen Stellen, zum Schi­cken von Nackt- oder anderen sexu­el­len Aufnah­men oder gar zum Geschlechts­ver­kehr gedrängt worden zu sein, obwohl klar war, dass sie das nicht wollten.

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