Kinder für Nähe und Distanz sensibilisieren

Wer darf mich wann berühren?

«Mit fremden Männern gehst du nie mit!» Weil wir unsere Kinder schüt­zen wollen, bringen wir ihnen das oft mit grossem Nach­druck bei. Bei sexu­el­len Über­grif­fen sind Fremde aber in der Minder­heit – viel­mehr spielen Nähe und Vertraut­heit eine grosse Rolle. Kinder in ihrer Wahr­neh­mung für ange­mes­sene Nähe und Distanz zu stärken, sei daher enorm wichtig, sagt Nadia Bisang vom Fach­be­reich Kinder- und Jugend­hilfe.

Als Eltern möchten wir unsere Kinder vor jegli­chen Über­grif­fen schüt­zen, vor sexu­el­len aber wohl beson­ders fest. Einfach ist das nicht, auch da viel­fach Vertraut­heit im Spiel ist. Eine der eher raren gross­an­ge­leg­ten Studien zeigt, dass sexu­elle Über­griffe oft im nahen Umfeld statt­fin­den – bei kleinen Kindern gar durch nächste Bezugs­per­so­nen. Bei Jugend­li­chen sind zuneh­mend Gleich­alt­rige invol­viert. Auch die Buben sind davon betrof­fen, Mädchen aber weitaus mehr. Wie können Eltern das Thema präven­tiv angehen? Ein Inter­view mit Nadia Bisang vom Fach­be­reich Kinder- und Jugend­hilfe.

Nadia Bisang, Sie sagen, Kinder müssten in ihrer Wahr­neh­mung von Nähe und Distanz gestärkt werden. Wie können Eltern vorge­hen?
Nadia Bisang:
Wichtig ist, das Thema immer wieder im Alltag aufzu­grei­fen, wenn sich die Gele­gen­heit dazu ergibt. Geht man etwa gemein­sam in die Badi, eignet sich das gut, um darüber zu reden, wer mich eigent­lich nackt sehen darf und wer nicht. Steht ein Besuch in der Kinder­arzt­pra­xis an, bietet sich das für die Frage an, wer mich wo berüh­ren darf und wann ich nein sagen muss. Auch das Spielen und Über­nach­ten bei Freun­den oder Verwand­ten, der Schwimm- oder Musik­un­ter­richt, die Pfadi oder der erste Sport­ver­ein bieten Anlass, beiläu­fig, aber konti­nu­ier­lich darüber im Gespräch zu sein.

Grund­sätz­lich eignen sich also alle Situa­tio­nen mit körper­li­cher Nähe für ein Gespräch?
Genau, aber nicht nur. Das Thema «Mein Körper gehört mir» sollte stets ein Leit­satz sein; das Kind soll bestim­men können, welche körper­li­che Nähe und Berüh­rung stimmen. Manch­mal steht in der Situa­tion aber mehr die Bezie­hung als die konkrete körper­li­che Nähe im Vorder­grund und damit die Frage «Welche Bezie­hung tut mir gut?». Auf Kinder­spra­che heisst das: Wenn du alleine Zeit mit jeman­dem verbringst, machst du das gerne? Fühlt sich das gut an? War die Baby­sit­te­rin da, kann man beispiels­weise bespre­chen, wie sich die Zeit zu zweit anfühlt oder was es braucht, um von jeman­dem gerne gebadet oder ins Bett gebracht zu werden. 

Gerade für kleine Kinder ist ja Nackt­heit noch etwas ganz Natür­li­ches. Laufe ich da nicht Gefahr, das Thema zu früh zu proble­ma­ti­sie­ren?
Es ist immer eine Grat­wan­de­rung, weil man das Kind ja auch nicht in seiner Unge­zwun­gen­heit einschrän­ken möchte. Als Eltern haben wir aber die Verant­wor­tung, unsere Kinder zu schüt­zen. Deshalb gehört es auch zu unserer Pflicht, ihnen aufzu­zei­gen, dass es Umfel­der gibt, in denen das Vertrauen nicht einfach so da ist.

Wichtig ist, das Thema immer wieder im Alltag aufzu­grei­fen.

Das muss man nicht drama­ti­sie­ren. Rennen die Kinder etwa in der Badi am liebs­ten ohne Bade­ho­sen herum, muss ich sie nicht zu Klei­dern zwingen, um ihnen mögli­che Gefah­ren aufzu­zei­gen. Aber ich kann auch schon mit kleinen Kindern auf der Gefühls­ebene über das Thema reden. Zum Beispiel indem ich sage, gell, das ist schön, so herum­zu­ren­nen und in unserer Familie, wo wir einan­der alle gut kennen, ist das gut so. An Orten, wo auch Fremde sind, ist das aber anders.

Was sind weitere Schritte, die wir als Eltern unter­neh­men können?
Wichtig ist es auch, Situa­tio­nen im Nach­hin­ein aufzu­grei­fen, wenn sie sich ergeben haben. Meine Tochter wollte einmal von der Kinder­ärz­tin nicht im Geschlechts­be­reich unter­sucht werden, es war im Rahmen einer Entwick­lungs­ein­schät­zung. Die Ärztin fragte, ob sie die Unter­su­chung machen dürfe und meine Tochter sagte nein. Später redeten wir darüber, warum sich das für sie nicht richtig ange­fühlt hätte, in welchem Zusam­men­hang solche Unter­su­chun­gen manch­mal nötig sind und warum es in diesem Fall gut war, dass sie nein gesagt hat.

Gefragt ist also allge­mein ein sensi­bles Beob­ach­ten, wie Kinder auf Nähe reagie­ren? Genau, ein Beob­ach­ten und auch ein Einge­hen darauf. Geht ein Kind zum Beispiel bei den Gross­el­tern ungern auf den Schoss, kann ich fragen, warum es das nicht mag, und es dann in seiner Hand­ha­bung bestär­ken. Kinder sollen nein sagen dürfen, auch wenn es die Gross­el­tern sind, die alles gut meinen und sich über die Nähe zu den Gross­kin­dern freuen. Drückt eine Gross­tante am Fami­li­en­fest das Kind über­schwäng­lich ans Herz, ihm ist aber sicht­lich unwohl dabei, kann ich zum Beispiel später sagen, gell, das hat sich für dich nicht so gut ange­fühlt, ich habe gemerkt, dass du das nicht magst. Auch kann ich auf die Reak­tion Bezug nehmen und fragen, ob es sich im Moment nicht hatte wehren können und ob es denkt, dass es in Zukunft sagen kann, wenn es etwas nicht möchte, oder ob es Unter­stüt­zung von mir braucht.

Buch­tipp «Ist das okay?»

Sexua­li­sierte Gewalt an Kindern macht oft sprach­los. Wie spricht man mit ihnen darüber? Das Kinder­fach­buch «Ist das okay?» soll Kindern helfen, grenz­ver­let­zen­des Verhal­ten zu erken­nen, und Erwach­sene darin unter­stüt­zen, dem tabui­sier­ten Thema mit mehr Stärke und Sicher­heit zu begeg­nen. Von Agota Lavoyer, für Kinder ab 6 Jahren.

Zu finden in den Biblio­the­ken des Kantons Zürich.

Und in der Situa­tion selbst?
Manchmal können wir auch direkt im Moment markie­ren, dass wir da sind und dem Kind helfen, wo nötig. Sind Kinder beispiels­weise schüch­tern, dann ist es Aufgabe von uns Eltern, das ernst zu nehmen und sie nicht in Situa­tio­nen zu bringen, die ihnen unwohl sind, etwa indem wir eine Umar­mung zur Begrüs­sung nicht forcie­ren. Es gibt nun mal Kinder, die brau­chen viel Vertrauen, um sich auf Nähe einzu­las­sen. Sträubt sich ein Kind gegen eine Umar­mung, kann das für das Umfeld aber irri­tie­rend oder gar verlet­zend sein, denn sie meinen es ja nur gut. Als Eltern kann ich in da das Kind in Schutz nehmen und es mit einer kurzen Erklä­rung ans Umfeld unter­stüt­zen.

Dann gibt es ja auch das Gegen­teil, Kinder die sehr zutrau­lich sind.
Auch das ist eine Grat­wan­de­rung – die einen brau­chen mehr Bestär­kung, die anderen mehr Schutz. Aber auch hier kann ich auf der Gefühls­ebene das Gespräch suchen. Sitzt ein Kind anderen zum Beispiel gene­rell schnell auf den Schoss, kann ich das einmal anspre­chen und fragen, ob sich das bei allen gleich gut anfüh­len würde, egal wer es wäre. Dann könnte ich fragen, was es denn machen würde, wenn es sich plötz­lich komisch anfühlte und es nicht mehr länger auf dem Schoss bleiben möchte. Zu spüren, ob es sich gut anfühlt oder nicht, ist eine wich­tige Grund­lage. Darauf aufbau­end kann ich es darin bestär­ken, dass es jeder­zeit nein sagen darf und soll, wenn sich etwas nicht gut anfühlt.

Das Bewusst­sein für die eigenen Gefühle spielt also eine wich­tige Rolle.
Ja, auch bei Themen, die vorder­grün­dig nichts mit körper­li­cher Unver­sehrt­heit zu tun haben. Was macht mich traurig? Was verletzt mich, wenn andere Kinder mich plagen? Greifen wir diese Gefühle auf und helfen wir den Kindern, sie einzu­ord­nen, sind sie schon viel weniger schutz­los, als wenn wir sie damit alleine lassen. Ein Rezept gibt es leider nicht und man kann nieman­den vor allem beschüt­zen. Aber darüber zu reden, was sich gut anfühlt und was nicht, wo und wie wir nein sagen dürfen, und dafür auch eine Sprache zu geben, ist enorm wert­voll. Das gibt eine Sensi­bi­li­tät für Grenzen.

Darüber zu reden, was sich gut anfühlt und was nicht, und Kindern dafür eine Sprache zu geben, ist enorm wert­voll.

Gibt es bei Kindern Anzei­chen, die uns Eltern hell­hö­rig machen sollten?
Das ist schwie­rig. Als Eltern macht man sich ja auch wahn­sin­nige Vorwürfe, wenn einem etwas entgan­gen ist. Zieht sich ein Kind zurück oder schläft plötz­lich schlecht, sind das sicher Anzei­chen dafür, dass etwas nicht gut ist. Nur können die Ursa­chen dafür ganz unter­schied­lich sein. Wenn sich ein Kind stark verän­dert oder irgendwo nicht mehr hinge­hen möchte, muss man auf jeden Fall ganz genau hinschauen, das Kind immer ernst nehmen und nach den Gründen fragen.

Aber: Es ist wirk­lich schwie­rig. Eben genau weil die Grenz­ver­let­zun­gen auch häufig in Vertrau­ens­be­zie­hun­gen statt­fin­den und in kleinen Schrit­ten voran­ge­hen. Deshalb braucht es neben der Präven­tion auch die Aufmerk­sam­keit, das sensi­ble Beob­ach­ten und auch Mut von uns Eltern, unan­ge­nehme Themen anzu­spre­chen. 

Nadia Bisang arbeitet seit 2019 beim Fachbereich Kinder und Jugendhilfe (KJH).

Nadia Bisang

Nadia Bisang arbeitet seit 2019 beim Fachbereich Kinder und Jugendhilfe (KJH), unter anderem als stellvertretende Leiterin. Sie ist zuständig für die Angebotsentwicklung der kjz sowie die Prüfung und Begleitung von Subventionen bei ergänzenden Angeboten der KJH. Zuvor arbeitete sie als Fachexpertin bei der Prävention weiblicher Genitalverstümmelung der Caritas mit. Im Jahr 2016 hat sie das MAS Sexuelle Gesundheit im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich absolviert. Sie ist Mutter von drei Kindern.