Kinder in ihrer sexuellen Entwicklung altersgerecht begleiten: Eine reichhaltige Informationsplattform für Eltern von Kindern im Alter von 0 bis 18 Jahren der Stiftung Kinderschutz Schweiz und der Dachorganisation Sexuelle Gesundheit.
Zur PlattformWer darf mich wann berühren?
«Mit fremden Männern gehst du nie mit!» Weil wir unsere Kinder schützen wollen, bringen wir ihnen das oft mit grossem Nachdruck bei. Bei sexuellen Übergriffen sind Fremde aber in der Minderheit – vielmehr spielen Nähe und Vertrautheit eine grosse Rolle. Kinder in ihrer Wahrnehmung für angemessene Nähe und Distanz zu stärken, sei daher enorm wichtig, sagt Nadia Bisang vom Fachbereich Kinder- und Jugendhilfe.
Als Eltern möchten wir unsere Kinder vor jeglichen Übergriffen schützen, vor sexuellen aber wohl besonders fest. Einfach ist das nicht, auch da vielfach Vertrautheit im Spiel ist. Eine der eher raren grossangelegten Studien zeigt, dass sexuelle Übergriffe oft im nahen Umfeld stattfinden – bei kleinen Kindern gar durch nächste Bezugspersonen. Bei Jugendlichen sind zunehmend Gleichaltrige involviert. Auch die Buben sind davon betroffen, Mädchen aber weitaus mehr. Wie können Eltern das Thema präventiv angehen? Ein Interview mit Nadia Bisang vom Fachbereich Kinder- und Jugendhilfe.
Nadia Bisang, Sie sagen, Kinder müssten in ihrer Wahrnehmung von Nähe und Distanz gestärkt werden. Wie können Eltern vorgehen?
Nadia Bisang: Wichtig ist, das Thema immer wieder im Alltag aufzugreifen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Geht man etwa gemeinsam in die Badi, eignet sich das gut, um darüber zu reden, wer mich eigentlich nackt sehen darf und wer nicht. Steht ein Besuch in der Kinderarztpraxis an, bietet sich das für die Frage an, wer mich wo berühren darf und wann ich nein sagen muss. Auch das Spielen und Übernachten bei Freunden oder Verwandten, der Schwimm- oder Musikunterricht, die Pfadi oder der erste Sportverein bieten Anlass, beiläufig, aber kontinuierlich darüber im Gespräch zu sein.
Grundsätzlich eignen sich also alle Situationen mit körperlicher Nähe für ein Gespräch?
Genau, aber nicht nur. Das Thema «Mein Körper gehört mir» sollte stets ein Leitsatz sein; das Kind soll bestimmen können, welche körperliche Nähe und Berührung stimmen. Manchmal steht in der Situation aber mehr die Beziehung als die konkrete körperliche Nähe im Vordergrund und damit die Frage «Welche Beziehung tut mir gut?». Auf Kindersprache heisst das: Wenn du alleine Zeit mit jemandem verbringst, machst du das gerne? Fühlt sich das gut an? War die Babysitterin da, kann man beispielsweise besprechen, wie sich die Zeit zu zweit anfühlt oder was es braucht, um von jemandem gerne gebadet oder ins Bett gebracht zu werden.
Gerade für kleine Kinder ist ja Nacktheit noch etwas ganz Natürliches. Laufe ich da nicht Gefahr, das Thema zu früh zu problematisieren?
Es ist immer eine Gratwanderung, weil man das Kind ja auch nicht in seiner Ungezwungenheit einschränken möchte. Als Eltern haben wir aber die Verantwortung, unsere Kinder zu schützen. Deshalb gehört es auch zu unserer Pflicht, ihnen aufzuzeigen, dass es Umfelder gibt, in denen das Vertrauen nicht einfach so da ist.
Wichtig ist, das Thema immer wieder im Alltag aufzugreifen.
Das muss man nicht dramatisieren. Rennen die Kinder etwa in der Badi am liebsten ohne Badehosen herum, muss ich sie nicht zu Kleidern zwingen, um ihnen mögliche Gefahren aufzuzeigen. Aber ich kann auch schon mit kleinen Kindern auf der Gefühlsebene über das Thema reden. Zum Beispiel indem ich sage, gell, das ist schön, so herumzurennen und in unserer Familie, wo wir einander alle gut kennen, ist das gut so. An Orten, wo auch Fremde sind, ist das aber anders.
Was sind weitere Schritte, die wir als Eltern unternehmen können?
Wichtig ist es auch, Situationen im Nachhinein aufzugreifen, wenn sie sich ergeben haben. Meine Tochter wollte einmal von der Kinderärztin nicht im Geschlechtsbereich untersucht werden, es war im Rahmen einer Entwicklungseinschätzung. Die Ärztin fragte, ob sie die Untersuchung machen dürfe und meine Tochter sagte nein. Später redeten wir darüber, warum sich das für sie nicht richtig angefühlt hätte, in welchem Zusammenhang solche Untersuchungen manchmal nötig sind und warum es in diesem Fall gut war, dass sie nein gesagt hat.
Gefragt ist also allgemein ein sensibles Beobachten, wie Kinder auf Nähe reagieren? Genau, ein Beobachten und auch ein Eingehen darauf. Geht ein Kind zum Beispiel bei den Grosseltern ungern auf den Schoss, kann ich fragen, warum es das nicht mag, und es dann in seiner Handhabung bestärken. Kinder sollen nein sagen dürfen, auch wenn es die Grosseltern sind, die alles gut meinen und sich über die Nähe zu den Grosskindern freuen. Drückt eine Grosstante am Familienfest das Kind überschwänglich ans Herz, ihm ist aber sichtlich unwohl dabei, kann ich zum Beispiel später sagen, gell, das hat sich für dich nicht so gut angefühlt, ich habe gemerkt, dass du das nicht magst. Auch kann ich auf die Reaktion Bezug nehmen und fragen, ob es sich im Moment nicht hatte wehren können und ob es denkt, dass es in Zukunft sagen kann, wenn es etwas nicht möchte, oder ob es Unterstützung von mir braucht.
Buchtipp «Ist das okay?»
Sexualisierte Gewalt an Kindern macht oft sprachlos. Wie spricht man mit ihnen darüber? Das Kinderfachbuch «Ist das okay?» soll Kindern helfen, grenzverletzendes Verhalten zu erkennen, und Erwachsene darin unterstützen, dem tabuisierten Thema mit mehr Stärke und Sicherheit zu begegnen. Von Agota Lavoyer, für Kinder ab 6 Jahren.
Zu finden in den Bibliotheken des Kantons Zürich.
Und in der Situation selbst?
Manchmal können wir auch direkt im Moment markieren, dass wir da sind und dem Kind helfen, wo nötig. Sind Kinder beispielsweise schüchtern, dann ist es Aufgabe von uns Eltern, das ernst zu nehmen und sie nicht in Situationen zu bringen, die ihnen unwohl sind, etwa indem wir eine Umarmung zur Begrüssung nicht forcieren. Es gibt nun mal Kinder, die brauchen viel Vertrauen, um sich auf Nähe einzulassen. Sträubt sich ein Kind gegen eine Umarmung, kann das für das Umfeld aber irritierend oder gar verletzend sein, denn sie meinen es ja nur gut. Als Eltern kann ich in da das Kind in Schutz nehmen und es mit einer kurzen Erklärung ans Umfeld unterstützen.
Dann gibt es ja auch das Gegenteil, Kinder die sehr zutraulich sind.
Auch das ist eine Gratwanderung – die einen brauchen mehr Bestärkung, die anderen mehr Schutz. Aber auch hier kann ich auf der Gefühlsebene das Gespräch suchen. Sitzt ein Kind anderen zum Beispiel generell schnell auf den Schoss, kann ich das einmal ansprechen und fragen, ob sich das bei allen gleich gut anfühlen würde, egal wer es wäre. Dann könnte ich fragen, was es denn machen würde, wenn es sich plötzlich komisch anfühlte und es nicht mehr länger auf dem Schoss bleiben möchte. Zu spüren, ob es sich gut anfühlt oder nicht, ist eine wichtige Grundlage. Darauf aufbauend kann ich es darin bestärken, dass es jederzeit nein sagen darf und soll, wenn sich etwas nicht gut anfühlt.
Das Bewusstsein für die eigenen Gefühle spielt also eine wichtige Rolle.
Ja, auch bei Themen, die vordergründig nichts mit körperlicher Unversehrtheit zu tun haben. Was macht mich traurig? Was verletzt mich, wenn andere Kinder mich plagen? Greifen wir diese Gefühle auf und helfen wir den Kindern, sie einzuordnen, sind sie schon viel weniger schutzlos, als wenn wir sie damit alleine lassen. Ein Rezept gibt es leider nicht und man kann niemanden vor allem beschützen. Aber darüber zu reden, was sich gut anfühlt und was nicht, wo und wie wir nein sagen dürfen, und dafür auch eine Sprache zu geben, ist enorm wertvoll. Das gibt eine Sensibilität für Grenzen.
Darüber zu reden, was sich gut anfühlt und was nicht, und Kindern dafür eine Sprache zu geben, ist enorm wertvoll.
Gibt es bei Kindern Anzeichen, die uns Eltern hellhörig machen sollten?
Das ist schwierig. Als Eltern macht man sich ja auch wahnsinnige Vorwürfe, wenn einem etwas entgangen ist. Zieht sich ein Kind zurück oder schläft plötzlich schlecht, sind das sicher Anzeichen dafür, dass etwas nicht gut ist. Nur können die Ursachen dafür ganz unterschiedlich sein. Wenn sich ein Kind stark verändert oder irgendwo nicht mehr hingehen möchte, muss man auf jeden Fall ganz genau hinschauen, das Kind immer ernst nehmen und nach den Gründen fragen.
Aber: Es ist wirklich schwierig. Eben genau weil die Grenzverletzungen auch häufig in Vertrauensbeziehungen stattfinden und in kleinen Schritten vorangehen. Deshalb braucht es neben der Prävention auch die Aufmerksamkeit, das sensible Beobachten und auch Mut von uns Eltern, unangenehme Themen anzusprechen.