Interview mit dem Entwicklungspädiater Prof. Dr. med. Oskar Jenni

Kinder sind eigenaktive Lerner, deren Entwicklung man nicht steuern kann

Prof. Dr. Oskar Jenni ist Co-Leiter der Entwick­lungs­päd­ia­trie am Univer­si­täts-Kinder­spi­tal Zürich. Am kanto­na­len Eltern­bil­dungs­tag 2021 wird er ein Referat mit dem Titel «Jedes Kind ist anders» halten. Im Inter­view spricht der Vater von vier Kindern über den Einfluss der Eltern, die Heraus­for­de­run­gen im Schul­sys­tem und falsche Erwar­tun­gen an die Kinder.

Wenn ein Paar Eltern wird, entwi­ckelt es seinen Erzie­hungs­stil irgendwo zwischen auto­ri­tä­rem und Laissez-faire-Stil. Wie gross ist der Einfluss, den man mit einem Erzie­hungs­stil auf seine Kinder hat, gerade in den ersten Lebens­jah­ren? 
Oskar Jenni: Man darf den elter­li­chen Erzie­hungs­stil nicht als ein starres Konstrukt betrach­ten. Eltern reagie­ren auf die verschie­de­nen Heraus­for­de­run­gen des Allta­ges meist flexi­bel, und ihr Erzie­hungs­stil ist viel weniger konsis­tent als ange­nom­men. Wir alle kennen das: Man ist nicht an jedem Tag gleich gut gestimmt und reagiert nicht selten unter­schied­lich auf ähnli­che Situa­tio­nen. Mal setzt man strikte Grenzen, mal ist man nach­gie­bi­ger. Auch die Kinder verhal­ten sich ja nicht immer gleich. Aber dennoch: Eltern haben als engste Bezugs­per­so­nen vor allem in der frühen Kind­heit einen prägen­den Einfluss auf ihren Nach­wuchs. Beson­ders wichtig ist, dass sie dem Kind Sicher­heit und Gebor­gen­heit vermit­teln. Je älter ein Kind dann aller­dings wird, desto selbst­stän­di­ger wird es. Diese Entwick­lung beginnt spätes­tens mit dem Eintritt in den Kinder­gar­ten und verstärkt sich mit zuneh­men­dem Alter. Das Kind findet seine eigenen Freunde und seine Rolle in der sozia­len Gruppe. Mit zuneh­men­der Auto­no­mie des Kindes redu­ziert sich also der elter­li­che Einfluss. 

Als Eltern will man seinem Kind die besten Voraus­set­zun­gen für den Schul­ein­tritt schaf­fen. Das kann dazu führen, sein Kind in entspre­chende schu­lisch geprägte Förder­an­ge­bote wie «Früh-Fremd­spra­chen» oder früh­kind­li­chen Musik­un­ter­richt zu schi­cken. Bringt das etwas? 
Die kind­li­che Entwick­lung ist ein ausser­or­dent­lich komple­xer, vom Kind gesteu­er­ter Prozess, der im Zusam­men­spiel zwischen ihm und seiner Umwelt statt­fin­det. Von aussen lenken kann man den Prozess aber nicht. Entwick­lung ist also eine Mischung aus dem, was das Kind mitbringt, und dem, was ihm die Umwelt bereit­stellt. Dabei sollten die Eltern dem Kind Selbst­ver­trauen mit auf den Weg geben, Rahmen und Struk­tur zur Verfü­gung stellen und nicht ihre eigenen Vorstel­lun­gen und Wünsche prio­ri­sie­ren. Sie sollten spüren, was ein Kind bewäl­ti­gen kann bzw. in welchen Situa­tio­nen es über­for­dert ist und Unter­stüt­zung braucht. Sie sorgen idea­ler­weise für ein siche­res und stabi­les Umfeld sowie für ein viel­fäl­ti­ges Spiel­an­ge­bot, aus dem das Kind auswäh­len und zum selbst­mo­ti­vier­ten Lernen ange­regt werden kann. 

Beim Eintritt ins Schul­sys­tem als 6- oder 7-Jährige ist der Entwick­lungs­stand der Kinder nicht gleich. Manche sind sehr weit, andere hinken etwas hinter­her. Wie geht man als Eltern mit Ängsten und Unsi­cher­hei­ten um das Wohl­erge­hen des eigenen Kindes um? 
Als Eltern haben wir nur einen gerin­gen Einfluss auf die Entwick­lung des Kindes in der Schule. Wir können nicht wählen, welcher Lehr­per­son und welcher Klasse das Kind zuge­teilt wird. Wir können auch nicht bestim­men, welche Peer­gruppe sich das Kind auswählt. Als Eltern kann man nur hoffen, dass alles gut geht – und für einen grossen Teil der Kinder trifft das ja auch zu. Aber es gibt auch solche, denen es nicht gut geht, bei denen das System nicht zu ihren Bedürf­nis­sen passt. Und für diese Kinder muss man indi­vi­du­elle Lösun­gen finden. Es ist grund­sätz­lich die Aufgabe der Schule, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Wenn ein Kind leidet, dann sollten Lehr­per­so­nen zusam­men mit den Eltern entspre­chende Lösun­gen suchen. Und wenn das nicht ausreicht, gibt es viele Fach­per­so­nen ausser­halb der Schule, die die Fami­lien unter­stüt­zen und die Situa­tion für das Kind verbes­sern können. 

Rund ein Drittel aller Kinder wird im Laufe der Schul­kar­riere mindes­tens einmal abge­klärt und thera­piert. Sie haben einmal gesagt, es könne nicht sein, dass so viele Kinder nicht den Norm­vor­stel­lun­gen der Gesell­schaft entspre­chen. Was ist denn das Problem? 
Kinder sind von Natur aus sehr verschie­den. Diese Varia­bi­li­tät lässt sich mit der Evolu­ti­ons­theo­rie erklä­ren. Im Verlauf der Evolu­tion entsteht eine immer grös­sere Viel­falt von Indi­vi­duen, die das Über­le­ben einer Art sichern. Je grösser die Varia­bi­li­tät zwischen den Menschen also ist, desto wahr­schein­li­cher ist es, dass wenigs­tens einige Menschen bei sich verän­dern­den Umwelt­be­din­gun­gen über­le­ben. Die Viel­falt zwischen Kindern hat also einen tiefe­ren evolu­ti­ons­bio­lo­gi­schen Sinn. 

Aller­dings hat sich in den letzten 30 Jahren das Werte­sys­tem der Gesell­schaft verscho­ben. Wir leben in einer extre­men Leis­tungs­ge­sell­schaft. Dieje­ni­gen, die das Leis­tungs­pri­mat erfül­len, werden belohnt, die anderen werden bestraft. Die Norm­vor­stel­lun­gen der Gesell­schaft sind enger gewor­den und die Leis­tungs­an­for­de­run­gen an die Kinder gestie­gen. 

Darum schaut man heute auch genauer hin, klärt schnel­ler ab. Aller­dings darf man Abklä­run­gen nicht per se verteu­feln. Sie müssen ja nicht zwin­gend bestimmte Mass­nah­men oder Thera­pien nach sich ziehen. Man sollte meiner Ansicht nach grund­sätz­lich immer mit der Umge­bung des Kindes arbei­ten und diese auf das Kind einstel­len, anstatt zu versu­chen, das Kind den Umstän­den anzu­pas­sen. Das heisst nicht, dass man dem Kind keine Hilfe­stel­lung zukom­men lassen soll. Ein solcher Schritt kann durch­aus notwen­dig sein, aber das darf nicht der erste Schritt sein. Und dafür muss man die Stärken und Schwä­chen eines Kindes genau kennen; eine Abklä­rung kann hierzu wert­volle Erkennt­nisse liefern. 

In diese Gesamt­si­tua­tion spielen die Erwar­tun­gen der Eltern auch stark mithin­ein. Entwe­der soll es das Kind einmal besser haben als man selbst, oder es soll den glei­chen – oft akade­mi­schen – Weg einschla­gen. Wie schnell kann das in eine Über­for­de­rung des Kindes führen? 
Das ist für uns Eltern ein alltäg­li­ches Thema. Man proji­ziert die eigenen Wünsche und Vorstel­lun­gen auf seine Kinder. Das lässt sich fast nicht vermei­den und geschieht ja zumeist in bester Absicht: Man möchte den Kindern den Weg in ein möglichst glück­li­ches, erfolg­rei­ches Leben ebnen. Aber man sollte diese Haltung immer wieder reflek­tie­ren und sich vor Augen führen: Ein Kind gehört nur sich selbst. Es ist eine eigen­stän­dige Persön­lich­keit. Und daher sollte es nicht das Leben der Eltern führen müssen, sondern sein eigenes Leben leben dürfen. 

Was ist proble­ma­ti­scher: Eltern, die ihr Kind pushen und immer mehr von ihm fordern, oder Eltern, die ihm alle Hinder­nisse aus dem Weg räumen? 
Das sind zwei Extrem­for­men der elter­li­chen Einfluss­nahme. Ideal ist der goldene Mittel­weg. Das bedeu­tet, man öffnet dem Kind entspre­chende Frei­räume, lässt es seinem Entwick­lungs­stand entspre­chend entschei­den, greift nur ein, wenn es über­for­dert oder noch nicht bereit für eine Aufgabe ist, und zeigt echtes Inter­esse für seine Akti­vi­tä­ten. Man ist da, wenn es Hilfe und Unter­stüt­zung benö­tigt. Eltern sollten in erster Linie den emotio­na­len Grund­be­dürf­nis­sen des Kindes gerecht werden – und das geht nicht, wenn sie das Kind ständig pushen. 

Aktuell liegt die Aufmerk­sam­keit der Gesell­schaft und auch der Politik wegen der Corona-Pande­mie stark auf den Bedürf­nis­sen von Kindern und Jugend­li­chen. Sehen Sie eine Chance, dass wir diesen Fokus auch über die Pande­mie hinaus beibe­hal­ten? 
Besonders in Krisen­si­tua­tio­nen werden die Bedürf­nisse der Menschen offen­sicht­lich. Die Pande­mie wirkt dabei wie ein Brenn­glas. Das gilt auch für Kinder und Jugend­li­che. Aller­dings kann man nicht gene­rell sagen, welche Auswir­kun­gen die Krise auf die Kinder hat, denn diese hängen vom einzel­nen Kind, seiner Persön­lich­keit, seinen Eigen­schaf­ten, dem Alter, den Entwick­lungs­pha­sen und von der sozia­len und fami­liä­ren Situa­tion ab. Es gibt auch bei den Folgen der Pande­mie auf Kinder und Jugend­li­che eine grosse Viel­falt! Eines ist aber klar: Je älter die Kinder sind, desto mehr Auswir­kun­gen hat die Krise. Und dies hat mit den sich verän­dern­den Entwick­lungs­auf­ga­ben zu tun. Während das Wohl­be­fin­den der kleinen Kinder haupt­säch­lich von der Befind­lich­keit der Eltern abhängt, sieht es bei den Jugend­li­chen anders aus: Sie benö­ti­gen für ihren alters­ge­rech­ten Ablö­sungs­pro­zess von den Eltern beson­ders die sozia­len Kontakte ausser­halb der Familie. Für sie ist die aktu­elle Situa­tion schwer. Ich hoffe, dass die Krise das Bewusst­sein in der Gesell­schaft schär­fen wird, welche Bedürf­nisse Kinder und Jugend­li­chen haben.

Oskar Jenni

Der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin führt die Abteilung Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich in einer Co-Leitung und war 2005 Nachfolger von Remo Largo. Ausserdem ist er ausserordentlicher Professor für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich und Leiter der «Akademie. Für das Kind. Giedion Risch». In dieser Funktion engagiert sich Oskar Jenni für mehr gesellschaftliche Akzeptanz und Wertschätzung der Verschiedenartigkeit von Kindern.

Im Juni 2021 erscheint Oskar Jennis Buch «Die kindliche Entwicklung verstehen», das die kindliche Entwicklung von der Geburt bis zum Erwachsenenalter anhand von Studien sowie mit zahlreichen Illustrationen und Fallbeispielen erklärt. Ziel des Buchs ist die ganzheitliche Betrachtungsweise der Kindheit, um Fachpersonen sowie auch interessierte Laien für die grosse Variabilität der kindlichen Entwicklung zu sensibilisieren.

Kanto­na­ler Eltern­bil­dungs­tag – Eine Tagung rund um Familie und Erzie­hung 

Der kanto­nale Eltern­bil­dungs­tag der Geschäfts­stelle Eltern­bil­dung findet einmal im Jahr statt. In Fach­re­fe­ra­ten und Work­shops zu Erzie­hungs­the­men erhal­ten Sie Anre­gun­gen für Ihren Fami­li­en­all­tag.