Häusliche Gewalt – Teil 1

Kinder sind immer Opfer

Das Zuhause sollte für Kinder der Ort sein, an dem sie sich am sichers­ten fühlen. Doch das ist nicht immer der Fall. Während des Lock­downs haben Exper­ten vor Häus­li­cher Gewalt gewarnt. Auch länger­fris­tige Entwick­lun­gen durch das Corona-Virus könnten dazu führen, dass Kinder vermehrt Häus­li­cher Gewalt ausge­setzt sind. Doch Gewalt ist keine Lösung und immer behan­del­bar.

Tobi spürt noch vor dem ersten Wort: die Stim­mung Zuhause ist nicht gut. Etwas ihm Bekann­tes liegt in der Luft wie ein schreck­li­cher Vorbote. Er weiss, was kommt, wenn sein Vater das Bier ausge­trun­ken hat. Er kennt den Ablauf, die Schreie, die Wut und die Angst. Wie Tobi geht es vielen Kindern. Im Kanton Zürich rückt die Polizei drei­zehn­mal pro Tag wegen Häus­li­cher Gewalt aus. Und bei rund der Hälfte der Fälle sind Kinder anwe­send.

Häus­li­che Gewalt und die Corona-Krise

Frau­en­häu­ser und Fach­stel­len haben während des Lock­downs befürch­tet, dass das enge Zusam­men­sein der Fami­lien und die soziale Isola­tion zu einer Zunahme von Häus­li­cher Gewalt führen könnten. In einigen Kanto­nen wie Basel Stadt und Basel Land sind während dieser Zeit auch mehr Poli­zei­rap­porte einge­gan­gen. In Zürich war dies nicht der Fall.

Auch Kinder- und Jugend­hil­fe­zen­tren (kjz) haben bezüg­lich Häus­li­cher Gewalt noch keine konkre­ten Auswir­kun­gen der Corona-Einschrän­kun­gen gespürt. «Man weiss aber aus Erfah­rung, dass Häus­li­che Gewalt im Zusam­men­hang mit Krisen-Situa­tio­nen eher verzö­gert auftritt. Auch ist es selten ein allein­ste­hen­des Phäno­men, sondern tritt oft in Zusam­men­hang mit anderen Belas­tun­gen, wie Alko­hol­sucht oder psychi­schen Erkran­kun­gen auf», erklärt Regula Kupper, Leite­rin des kjz Winter­thur, die sich seit langem mit Häus­li­cher Gewalt befasst.

«Auch die Folgen des Corona-Virus auf die Schwei­zer Wirt­schaft, wie eine stei­gende Arbeits­lo­sen­quote oder Kurz­ar­beit könnten zu einer Zunahme Häus­li­cher Gewalt führen», betont Sandra Stössel, die im Fach­be­reich Kinder- und Jugend­hilfe arbei­tet und sich seit über zwanzig Jahren für die Rechte von Kindern einsetzt. Denn Armut oder Arbeits­lo­sig­keit gehören zu den Risi­ko­fak­to­ren von Häus­li­cher Gewalt. Kupper verdeut­licht: «Armut kann in die Isola­tion führen und Ängste auslö­sen, da kommen die gegen­sei­ti­gen Vorwürfe schnel­ler. Auch kann Armut dazu führen, dass man sich in den Alkohol flüch­tet oder wegen finan­zi­el­ler Ängste die Kinder vernach­läs­sigt.»

Situa­tion der Kinder

Unter Häus­li­cher Gewalt werden alle Hand­lun­gen körper­li­cher, sexu­el­ler, psychi­scher oder wirt­schaft­li­cher Gewalt verstan­den, die inner­halb einer Familie oder eines Haus­halts vorkom­men. In vielen Fällen geht es dabei um Part­ner­schafts­ge­walt, also der Gewalt zwischen (Ehe-) Part­nern. Auch wenn Kinder dabei nicht körper­lich von Gewalt betrof­fen sind, kann sie sich gravie­rend auf ihre Entwick­lung auswir­ken.

«Part­ner­schafts­ge­walt ist deshalb so schlimm für Kinder, weil die Perso­nen, auf die sie sich am meisten verlas­sen, aufein­an­der losge­hen», verdeut­licht Kupper. «Das Recht auf ein gewalt­freies Aufwach­sen bedeu­tet nicht nur, dass ein Kind keine aktive Gewalt erfährt, sondern auch, dass es in einem gewalt­freien Umfeld aufwach­sen kann», ergänzt Stössel.

Auch zeigen Studien, dass Part­ner­schafts­ge­walt früher oder später auch zur Gewalt gegen­über Kindern führen kann. «Das Tabu ist mit dem ersten Schlag gebro­chen“, hält Kupper fest. Wenn man sich daran gewöhnt habe, einen Konflikt in der Part­ner­schaft mit Gewalt zu lösen, könne das schnel­ler zu Gewalt gegen­über Kindern führen.

Tabu-Thema Häus­li­che Gewalt

Um auf das Problem der Häus­li­chen Gewalt, insbe­son­dere während der Corona-Zeit, aufmerk­sam zu machen, hat das Eidge­nös­si­sche Büro für Gleich­stel­lung von Mann und Frau (EGB) eine Plakat­ak­tion entwi­ckelt, mit dem Ziel, Betrof­fe­nen, Ange­hö­ri­gen und Nach­barn Mut zu machen, sich bei einer Opfer­be­ra­tungs­stelle zu infor­mie­ren. Auch hat die Dach­or­ga­ni­sa­tion Frau­en­häu­ser Schweiz eine Sensi­bi­li­sie­rungs­kam­pa­gne entwi­ckelt.

Dabei stehen aber meist die direk­ten Opfer im Zentrum und Kinder werden oft verges­sen. Doch es sind die Kinder, die miter­le­ben müssen, wie sich ihre Eltern Gewalt antun. Dabei befin­den sie sich immer zwischen den Fronten. Deshalb ist es wichtig, dass die Auswirk­lun­gen für Kinder mehr thema­ti­siert werden und das Thema entta­bui­siert wird. Das betont Stössel: «Es sollte mehr sensi­bi­li­siert werden, was Häus­li­che Gewalt für Kinder während ihrer ganzen Kind­heit und ihrer Entwick­lung zu Erwach­se­nen bedeu­tet.»

Regula Kupper

Regula Kupper arbeitet, nach zehn Jahren Auslandaufenthalten mit ihrer Familie in Indonesien und Ecuador, seit fast 18 Jahren in der Kinder- und Jugendhilfe. Sie führte acht Jahre lang eine Abteilung der Jugend- und Familienberatung und übernahm dann 2017 die Leitung des kjz Winterthur.

Sandra Stössel

Sandra Stössel ist Juristin (lic. iur.) mit zusätzlichem Master in Kinderrechten (Master in children’s rights) und seit 20 Jahren im Kindesschutz tätig. Seit 2013 arbeitet sie im Fachbereich Kinder- und Jugendhilfe des AJB. Zunächst arbeitete sie als Jugendsekretärin im Schulkreis Uto der Stadt Zürich, dann als Leiterin des Fachbereichs Kinder- und Jugendhilfe in den Sozialen Diensten der Stadt Zürich. Von 2008 bis 2011 war sie Projektleiterin für das Projekt Kindeswohl und Kinderrechte im AJB. Dann folgten zwei Jahre bei Integras, Fachverband für Sozial- und Sonderpädagogik.