Das sagt die Leseexpertin

«Reimen, kritzeln, basteln und Hörbücher hören – das alles ebnet den Weg zum Lesenlernen»

Lesen gilt als Schlüs­sel­kom­pe­tenz für Schule und Alltag. Und: Kinder, die gerne lesen, lesen häufi­ger. Können Eltern ihnen den Zugang zur Welt der Buch­sta­ben erleich­tern? Lese­ex­per­tin Barbara Jakob sagt, im Fami­li­en­all­tag gebe es unzäh­lige Gele­gen­hei­ten. Nicht alle seien aber gleich offen­sicht­lich.

Barbara Jakob, können Eltern etwas tun, um Kindern den Weg zum Lesen zu ebnen?
Das grösste Geschenk, das Eltern ihrem Kind machen können, ist das Vorle­sen. Das beginnt schon im ganz frühen Kindes­al­ter mit Bilder­bü­chern. Vorle­sen ist auf unzäh­li­gen Ebenen wirksam: Kinder erleben, dass Bücher und Geschich­ten lustig, span­nend oder gar gruse­lig sein können und viel mit dem Leben zu tun haben. Sie lernen unter­schied­li­che Figuren, deren Perspek­ti­ven und Lösun­gen kennen, und erfah­ren so: Das Beherr­schen der Schrift lohnt sich, um später einmal selber in diese Welten abzu­tau­chen. Darüber hinaus schafft Vorle­sen vertraute Momente der Gebor­gen­heit – und alles, was mit Posi­ti­vem verbun­den ist, hilft uns, das später selber zu wollen.

Vielen ist nicht bewusst, dass wir Sprache und damit auch Lesen primär über das Gehör lernen.

Was macht Lesen weiter zugäng­lich?
Jede Ausein­an­der­set­zung mit Sprache und den Geheim­nis­sen der Schrift hilft. Mitein­an­der zu spre­chen ist die Grund­lage. Darauf aufbau­end gibt es im Alltag unzäh­lige nieder­schwel­lige Gele­gen­hei­ten, sei es gemein­sam Einkaufs­lis­ten zu krit­zeln oder Schrift­zei­chen an der Bushal­te­stelle zu entzif­fern. Anderes ist viel­leicht nicht so offen­sicht­lich. Vielen ist zum Beispiel nicht bewusst, dass wir Sprache und damit auch Lesen primär über das Gehör lernen: Hören wir Sprache immer und immer wieder, verin­ner­li­chen wir ihre Struk­tur. Die Verin­ner­li­chung hilft wiederum, die Struk­tur auch leich­ter im Geschrie­be­nen wieder­zu­er­ken­nen. Deshalb sind zum Beispiel Verse, Reime und Lieder nicht nur wert­voll, weil sie Sprache mit Spiel und Spass verbin­den, sondern weil sie gleich­zei­tig auch das Gehör schulen. Nicht zuletzt ist auch die Fein­mo­to­rik eine wich­tige Wegbe­rei­te­rin für das spätere Lesen: Krit­zeln mit Stift und Papier, schnip­peln und basteln mit Schere und Leim – alles was das Fein­mo­to­ri­sche fördert, hilft.

Lesen- und Schrei­ben­ler­nen laufen gleich­zei­tig ab.

Inwie­fern hängt die Fein­mo­to­rik mit dem Lesen zusam­men?
Indem die Motorik den Schrei­b­er­werb unter­stützt. Denn Lesen kann nicht isoliert betrach­tet werden – Lesen- und Schrei­ben­ler­nen laufen gleich­zei­tig ab. Oft geht das verges­sen. Dabei sind beide Prozesse gleich wichtig und eng mitein­an­der verzahnt. Inter­es­sant ist in diesem Zusam­men­hang die aktu­elle Frage in Ländern, die im Schul­sys­tem früh auf digi­tale Geräte setzen: Welche Folgen hat das für die Hand­schrift und allen­falls auch für den Lese­er­werb?

Empfeh­len Sie den Einsatz von digi­ta­len Medien, um Kinder mit dem Lesen vertraut zu machen?
Wenn sie dazu einge­setzt werden, um die Freude an Sprache zu erleben und sich gemein­sam über Inhalte zu unter­hal­ten, sind sie durch­aus wert­voll. Etwa wenn Eltern mit dem Kind einen kurzen Anima­ti­ons­film schauen und darüber reden, wenn sie zusam­men ein Rätsel lösen oder ein Foto vom Ausflug machen, mit dem das Kind später den Gross­el­tern vom Erleb­ten erzäh­len kann. Gerade auch Hörbü­cher können wert­voll sein, indem Kinder selbst­be­stimmt und immer wieder ein- und dieselbe Geschichte abspie­len können und damit eintau­chen in neue und zugleich immer­glei­che Sprach- und Erzähl­struk­tu­ren.

Ist es sinn­voll, wenn Kinder bereits vor der Schule zuhause lesen lernen?
Grund­sätz­lich ist wichtig: Jedes Kind ist in seinem eigenen Tempo unter­wegs. Jüngere Kinder entde­cken häufig zusam­men mit einem älteren Geschwis­ter das Selbst­le­sen. Meine jüngste Tochter wollte zu Beginn des Kinder­gar­tens zum Beispiel partout nicht mehr, dass wir ihr vorle­sen. Sie wollte alles selbst lesen, egal wie anstren­gend das auch war. Einfach weil ihre ältere Schwes­ter in der Schule gerade lesen lernte. Nach ein paar Wochen befand sie dann, sie könne es nun gut genug, und wollte wieder vorge­le­sen bekom­men. Danach inter­es­sierte sie sich nicht mehr für das Selbst­le­sen bis zur ersten Klasse.

Wichtig ist, dass Kinder im Alltag erfah­ren, dass Schrift etwas Span­nen­des ist.

Was ich damit sagen möchte, ist Folgen­des: Die Eltern sollten das frühe Selbst­le­sen nicht forcie­ren, sondern auf das Inter­esse des Kindes vertrauen. Wichtig ist, dass Kinder im Alltag erfah­ren – Schrift ist etwas Span­nen­des. Zum Beispiel indem die Eltern selbst Lesende und Schrei­bende sind. Viele Kinder­gar­ten­kin­der begin­nen damit, ihren eigenen Namen schrei­ben zu wollen und lesen diesen stolz vor. Oder sie krit­zeln mehr oder weniger «unle­ser­li­che» Einkaufs­zet­tel oder buch­sta­bie­ren konzen­triert Logos, etwa von Gross­ver­tei­lern. Das ist wunder­bar!

Haben Sie einen Lese­tipp zum Abschluss?
Gerne möchte ich den Blick auf einen Typus von Geschich­ten lenken, der sich in den letzten Jahren sehr positiv entwi­ckelt hat, die soge­nann­ten Reihen­ge­schich­ten. Zu erwäh­nen sind etwa die Bücher von Susanne Stras­ser. Das sind Einstei­ger­ge­schich­ten ab circa zwei Jahren mit viel Wieder­ho­lung und Humor – ein Spass für kleine und grosse Lesende!

Barbara Jakob arbeitet beim SIKJM im Bereich Literale Förderung mit Schwerpunkt Frühe Bildung, Bilderbuch und Vermittlung.

Barbara Jakob

Barbara Jakob hat Germanistik, Kunstgeschichte und Anglistik studiert. Anschliessend war sie beim Internationalen Kuratorium für das Jugendbuch IBBY und im Bibliothekswesen tägig. Seit 2003 ist sie am SIKJM im Bereich Literale Förderung mit Schwerpunkt Frühe Bildung, Bilderbuch und Vermittlung.

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Kanto­na­ler Eltern­bil­dungs­tag, 10. Mai 2025

Ein Haupt­re­fe­rat – acht Impuls­re­fe­rate – Kinder­be­treu­ung – span­nende Inputs für Ihren Erzie­hungs­all­tag – Austausch mit anderen Eltern und Erzie­hungs­be­rech­tig­ten: Das ist der Eltern­bil­dungs­tag in der Alten Kaserne in Winter­thur!