Katja und die anonyme Samenspende

«Meine Eltern haben über viele Jahre ein Geheimnis darum gesponnen»

Katja* (45) arbeitet als Sozialarbeiterin. Sie ist jung Mutter geworden und hat heute zwei erwachsene Kinder. Ihre Eltern haben damals eine anonyme Samenspende in der Frauenklinik Bern in Anspruch genommen. Schon als kleines Kind hat Katja gespürt, dass die Familie ein Geheimnis mit sich trug.

Katja, wie hast du erfahren, dass dein Vater nicht dein biologischer Vater ist?
Meine Eltern haben über viele Jahre ein Geheimnis darum gesponnen und dieses mit sich herumgetragen. Eines Tages, ich war 18, habe ich selbst herausgefunden, dass mein Vater nicht mein biologischer Vater sein kann – dank des Biologieunterrichts in der Schule. Wir behandelten gerade das Thema der Vererbungslehre und haben in diesem Zusammenhang von einem einfachen Vaterschaftstest mittels Blutgruppe erfahren. Beim nächsten Arzttermin liess ich aus Interesse meine Blutgruppe bestimmen und musste merken, dass diese nicht zu den Blutgruppen meiner Eltern passte. Zuhause habe ich dann meine Eltern damit konfrontiert.

Wie haben die Eltern darauf reagiert?
Meine Mutter hat weiterhin versucht, das Geheimnis aufrechtzuerhalten, doch anhand ihrer Reaktion merkte ich sofort, dass etwas nicht stimmte. Erst etwas später, als meine Mutter der Wahrheit nicht mehr ausweichen konnte, hat sie mir gestanden, dass mein Vater nicht mein biologischer Vater sei und ich durch künstliche Befruchtung entstanden sei.

Wie hat sich diese Situation für dich angefühlt?
Das war ein Schock! Mir schossen tausend Fragen durch den Kopf: Wer bin ich? Bin ich überhaupt echt? Wer ist mein biologischer Vater? So machte sich eine grosse und erdrückende Unsicherheit in mir breit. Ich habe alles angezweifelt, auch mich selbst. Von einer Sekunde zur nächsten habe ich meine ganze Identität verloren. Gleichzeitig verspürte ich aber auch Erleichterung. Das Gefühl, dass ich anders bin, wurde bestätigt. Ich konnte meiner Intuition trauen.

Ich fühlte mich, als würde ich ständig aus der Reihe tanzen, als wäre ich anders als der Rest meiner Familie»

Intuition? Hattest du Vermutungen, die in diese Richtung deuteten?
Ich hatte immer das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, konnte aber nicht genau sagen, was es war. Ich fühlte mich, als würde ich ständig aus der Reihe tanzen, als wäre ich anders als der Rest meiner Familie. Schon mit zwölf Jahren habe ich meine Mutter gefragt, ob mein Vater wirklich mein «richtiger» Vater sei. Über die Jahre habe ich meiner Mutter viele Möglichkeiten geboten, um ehrlich mit mir zu sein, aber sie war es nicht. Natürlich weiss ich, dass meine Eltern mir damit nie etwas Schlechtes tun wollten.

Machst du deinen Eltern Vorwürfe?
Ich werfe meinen Eltern nicht vor, dass sie sich für eine anonyme Samenspende entschieden haben. In den 70er-Jahren war das Wissen um moderne Fortpflanzungsverfahren noch spärlich. Meine Eltern sind einfach der Empfehlung der Ärzte gefolgt. Ich hätte mir aber gewünscht, dass sie ein solch wichtiges Thema nicht zu einem Geheimnis machen. Ein kompletter Identitätsverlust mitten in meinem Leben wäre vermeidbar gewesen. Ich hätte die Tatsache von Anfang an in mein Selbstverständnis einbauen können und mich mit meinem Anderssein nicht so alleine gefühlt.

Wie hätten deine Eltern das Thema angehen sollen?
So wie ich mit meinen Kindern diesbezüglich umgehe: offen, ehrlich, transparent. Als ich Kinder bekommen habe, merkte ich, dass ich einen Teil dieser Geschichte auch ihnen weitergebe. Daher wollte ich von Anfang an mit ihnen darüber sprechen. Mir war wichtig, Geheimniskrämerei zu vermeiden. Eigentlich ist es ganz einfach. Kinder bieten ihren Eltern so viele Möglichkeiten, um das Thema auf eine unverkrampfte Weise einbringen zu können.

Wie konntest du die Tatsache verarbeiten, dass du durch moderne Fortpflanzungsverfahren gezeugt worden bist?
Das war schwierig. Ich fühlte mich mit meinen Gefühlen und dem Thema alleine gelassen. Die Möglichkeit, mich im Internet zu informieren oder mit anderen Betroffenen zu sprechen, gab es damals noch nicht. Dies war auch der Grund, wieso ich mit dem Aufkommen des Internets den Verein Spenderkinder Schweiz gegründet habe. Der Austausch mit anderen Erwachsenen, die das Gleiche oder Ähnliches erlebt haben, hat mir sehr geholfen.

Es ist Aufgabe der Eltern, das Recht auf Kenntnis der Abstammung zu respektieren und zu implementieren.

Wie geht ihr als Familie heute mit dem Thema um?
Wir alle haben in den vergangenen 25 Jahren sehr viel gelernt. Heute habe ich den Schock, die Unsicherheit und den plötzlichen Identitätsverlust von damals gut verarbeitet. Ich weiss, dass ich, wie alle anderen, eine Daseinsberechtigung habe und gleichwertig bin. Ich bin durch das genetische Material zweier Menschen entstanden, wie alle anderen auch. Nur sind bei meiner Entstehung drei Menschen beteiligt gewesen und nicht zwei. Aber mein Vater ist und bleibt mein Vater, auch wenn ich meinen biologischen Vater sehr gerne kennenlernen würde.

Bist du zufrieden mit dem heutigen Verhalten deiner Familie?
Grösstenteils, ja. Gewisse Dinge verletzen mich aber heute noch. Für meine Mutter ist es zum Beispiel noch immer sehr schwierig, den Spendervater zu akzeptieren. Sie würde ihn am liebsten aus unserem Leben streichen und vergessen. Für mich ist die Situation natürlich eine ganz andere. Ich glaube, sie versteht meine Sichtweise bis heute nicht. Für mich ist dieser Mensch ein Teil von mir und nicht bloss ein Helferchen, das ein Paar bei ihrem Kinderwunsch unterstützt hat. Für mich ist er der Vater, den ich bis heute nicht kennenlernen konnte. Indem meine Mutter ihn weghaben will, fühlt es sich so an, als würde sie auch einen Teil von mir weghaben wollen.

Hast du Tipps für Familien, die moderne Fortpflanzungsverfahren nutzen?
Schaut bitte euer Kind als Mensch mit eigenen Rechten an! Jedes Kind hat das Recht auf Kenntnis seiner Abstammung. Es ist Aufgabe der Eltern, dieses Recht zu respektieren und zu implementieren. Das heisst, es braucht eine offene und transparente Haltung. Informiert euer Kind von Anfang an und akzeptiert den Spender als notwenigen Dritten. Auch wenn er für euch nur für einen kurzen Augenblick wichtig ist. Für das Kind bleibt er ein Leben lang der biologische Vater, ein Teil von ihm. Dieser Perspektivenwechsel ist wichtig und erspart einiges an Kummer und Leid.

* Name durch die Redaktion geändert