Was ist ein guter «Lebenslauf»?

«Wer sich für einen Beruf mit Herz entscheidet, wird Arbeit haben»

Der Lebens­lauf hat für den Menschen auf dem Arbeits­markt dieselbe Funk­tion wie die Etikette auf der Dose im Regal: Er liefert Kauf­ar­gu­mente. Aber was sagt er aus – über den Menschen und über die Arbeits­welt? Und was ist ein guter Lebens­lauf heute? Ein Gespräch mit Guido Schil­ling, Chris­tine Viljehr und Theo Wehner.

Eine sehr persön­li­che Frage gleich zu Beginn: Was ist gut an Ihrem eigenen Lebens­lauf?
Theo Wehner: Dass ich ihn immer wieder anders erzäh­len kann. Dass er nicht von anderen so erzählt werden kann, wie ich ihn erzähle. Und gut wäre, wenn er auch gut zu Ende ginge.

Chris­tine Viljehr: Das Gute an mein­em Lebens­lauf ist, dass zwischen meinem ersten Schritt in die Arbeits­welt und meiner heuti­gen Posi­tion viel Wissen und Jahre voller lehr­rei­chen Erfah­run­gen stecken. Beides – Wissen und Erfah­rung – gibt mir heute und für die Zukunft einen guten Boden.

Guido Schil­ling: Mein Lebens­lauf zeigt, dass ich ein neugie­ri­ger Mensch bin. Dadurch erhielt ich Einblick in unter­schied­lichste Bran­chen – das hilft mir in meinem jetzi­gen Beruf.

Guido Schil­ling, Sie sind Head­hun­ter und arbei­ten ganz oben im Prime Tower. Was ist in Ihren Augen ein guter Lebens­lauf?
GS: Er hat etwas Kompak­tes, zeigt aber auch Bewe­gung und Entwick­lung. Er ist in sich stabil und steht auf mehre­ren Beinen; er ist also gut abge­stützt und so solide, dass der betref­fende Mensch nicht hinfällt, wenn ein Bein wegbricht.

Einen Plan A, B und C haben – so?
GS: Ja, das scheint mir wichtig. Wo man früher dachte, man könne bei einem Unter­neh­men eintre­ten und ein Leben lang dort bleiben, gilt heute: Man sollte mit dem Unvor­her­ge­se­he­nen rechnen. Das bedeu­tet auch, dass man sich im Leben noch etwas anderem widmen sollte als dem 7-bis-17-Uhr-Job. Man sollte bis ins hohe Alter neugie­rig bleiben und ausser­halb des eigenen Jobs dazu­ler­nen – das zahlt auch auf den jetzi­gen Beruf und das jetzige Tätig­keits­ge­biet ein.

CV: Für mich gehört dazu, dass man als Mensch für sich sagen kann: Ich bin zufrie­den. Auch wenn man zwanzig Jahre in der glei­chen Firma bleibt – das gibt es auch heute noch. Und dann glaube ich aber auch, dass der Lebens­lauf viel mit Timing zu tun hat.

Wie meinen Sie das?
CV: Es sollte ein Mix sein aus Praxis und Phasen, in denen man sich neues Wissen aneig­net, um viel­leicht einen nächs­ten Schritt zu tun, dyna­misch zu bleiben. Zufrie­den­heit und Timing sind für mich die Merk­male eines guten Lebens­laufs.

Der Lebens­lauf soll also auch etwas Zukunfts­ori­en­tier­tes beinhal­ten?
CV: Ja, es gibt Zeiten, in denen man spürt: Jetzt müsste ich mal über­le­gen, was das Nächste sein könnte, ob es etwas braucht, um dem eigenen Weg einen Schub oder eine Rich­tung zu geben. Aber nicht in jeder Lebenssitua­tion: Es gibt Phasen, in denen man einfach im Jetzt sein darf.

TW: Mich inter­es­siert: Werde ich im Leben von etwas gezogen oder schiebt mich mein Leben? Warum mache ich den nächs­ten Schritt? Heute können wir es uns erlau­ben, unser Leben aufgrund von Sehn­sucht oder Unzu­frie­den­heit zu verän­dern.

Wer defi­niert eigent­lich, was ein guter Lebens­lauf ist?
CV: Aus Sicht der Berufs­be­ra­ten­den: Jeder für sich selbst – der Mass­stab dabei ist die eigene Zufrie­den­heit. Aber das heisst nicht, dass ein poten­zi­el­ler Arbeit­ge­ber diesen Lebens­lauf dann auch gut findet.

TW: Es gilt zu unter­schei­den zwischen dem Lebens­lauf und der Auto­bio­gra­fie: Letz­tere schreibe ich für mich. Den Lebens­lauf aber schreibe ich für andere, da gibt es eine Erwar­tung, die ich erfül­len will; die kann mit der persön­li­chen Erwar­tung über­ein­stim­men oder auch nicht. Beim Lebens­lauf sind Schloss und Schlüs­sel gesucht. Es gibt ja den Begriff des CV-Designs: Kosme­tik am Lebens­lauf zu betrei­ben, ist relativ neu.

Wie neu?
TW: Neuzeit. Die alten Grie­chen waren nicht an einem Lebens­lauf inte­ressiert, sondern an der Histo­rio­gra­fie. Die Polis, also die Gemein­schaft, spiel­te eine Rolle, nicht der Einzelne. Heute, mit der zunehm­enden Individualisier­ung, muss ich in irgend­wel­che Verwer­tungs­zu­sam­men­hänge des Lebens passen – der Lebens­lauf wird zur Konstruk­tion, zu einer Anein­an­der­rei­hung von Ereig­nis­sen für jeman­den, der daraus etwas Ganzes machen soll.

GS: Das unter­stütze ich voll und ganz. Der Lebens­lauf ist auf das Ziel­bild, das ich errei­chen will, auszu­rich­ten. Ich muss dem Leser aufzei­gen können, dass ich seine Bedürf­nisse abdecke.

Man gewich­tet, streicht hervor, lässt weg …
TW: Das Anschauen der eigenen Bio­grafie ermög­licht, die Viel­falt des eigenen Lebens zu begrei­fen, sie sich bewusst zu machen. Aber wenn ich heute einzig schauen muss, wo ich hinpasse, resul­tiert daraus Einfalt. Und diese «McDo­nal­di­sie­rung» des Lebens findet heut­zu­tage tatsäch­lich statt. So gestal­ten und präsen­tie­ren wir unser Leben: damit es eben passt. Dabei gehen Bunt­heit und Viel­falt verlo­ren, das müssen wir wieder ändern!

Wird da auch Krea­ti­vi­tät abge­würgt, werden unge­wöhn­li­che Karrie­ren verhin­dert?
TW: Wenn ich mir manche Berufs­grup­pen anschaue, ist die Verein­heit­li­chung der Biogra­fien das Erste, was mir auffällt. Die Bunt­heit fehlt da komplett. Wir müssten uns fragen: Warum haben wir die Möglich­kei­ten des Mensch­seins und das Anein­an­der­rei­hen von Ergeb­nis­sen und Ereig­nis­sen in Berufen so dermas­sen stan­dar­di­siert, warum haben wir die Viel­falt preis­ge­ge­ben?

GS: Unsere Auftrag­ge­ber suchen tatsäch­lich meist mehr vom Glei­chen. Ich bin einver­stan­den damit, dass es Viel­falt braucht. Weil die Heraus­for­de­run­gen in dieser immer komple­xe­ren Welt, die sich immer schnel­ler dreht, nur durch Viel­falt gelöst werden können, nicht durch Unifor­mi­tät.

Die Heraus­for­de­run­gen in dieser immer komple­xe­ren Welt, die sich immer schnel­ler dreht, können nur durch Viel­falt gelöst werden, nicht durch Uniformität.

Guido Schilling

Welchen Wert schreibt man der Viel­falt und Bunt­heit in der Berufs­be­ra­tung zu?
CV: Lebens­läufe sind tatsäch­lich sehr oft stan­dar­di­siert. Span­nend sind die Über­gänge, die in ihnen kaum ersicht­lich sind – über sie reden wir in der Berufsbera­tung: Welche Muster gibt es und warum? Passie­ren Verän­de­run­gen aus eigener Moti­va­tion heraus oder warum eben nicht? Über­gänge lassen erken­nen, was sinn­volle nächste Schritte sein könnten.

TW: Es gibt einen grossen Unter­schied zwischen Bera­tung und Selek­tion, auch was den Lebens­lauf betrifft. In der Bera­tung gibt es noch viele Chancen, Kanten zuzu­las­sen. In der Selek­tion aber müssen Sie den einen finden. Wenn wir heute zurück­schauen: In der Finanz­krise von 2007 hatten alle Finanz­ex­per­ten in leiten­der Stelle den passen­den Lebens­lauf, alle wurden zuvor expli­zit für diese Stelle ausge­wählt, und trotz­dem haben genau sie dieses Desas­ter geschaf­fen. Da fehlte nämlich die Bunt­heit.

Der normierte und vermeint­lich gute Lebens­lauf dient also einer Flaschen­hals-Selek­tion, die am Ende nur schadet?
TW: Ich frage mich: Wie sehr können wir uns heute auf eine Bera­tung und eine Entwick­lung einlas­sen – statt uns der Selek­tion hinzu­ge­ben? Meine Einschät­zung ist, dass es in der Gesell­schaft wenig Bereit­schaft gibt, sich auf eine Entwick­lung einzu­las­sen, denn die ist offen. Es gibt hinge­gen sehr viel Bereit­schaft, sich selbst einer Selek­tion zu unter­wer­fen. Wenn ich sehe, wie viele frei­wil­lig in ein Assess­ment gehen, was eigent­lich nur die Verschie­den­heit redu­ziert – da sind die Nadel­öhre so eng. Da, würde man meinen, geht keiner frei­wil­lig durch. Aber die Reali­tät sieht anders aus.

Sie haben beide von Über­gän­gen gespro­chen. Heute defi­niert das Bildungs­sys­tem die Über­gänge – macht das noch Sinn oder wären andere Ereig­nisse und Refe­ren­zen denkbar?
CV: Das Bildungs­sys­tem gibt einen guten Rahmen. Gerade in jungen Jahren hilft das. Das sind die Mark­steine, mit denen man Schritt für Schritt vorwärts­ge­hen kann. Spätere Übergänge sind ja dann viel­leicht frei­wil­lig oder nicht mehr so stark von der Gesell­schaft vorge­ge­ben. Das System hat sich meiner Meinung nach bewährt.

Sind Auszei­ten in diesem Schema von Über­gän­gen heut­zu­tage über­haupt noch möglich? Etwa ein einjäh­ri­ger Ausland­auf­ent­halt, der den Hori­zont erwei­tert und einen reifen lässt?
CV: Ja, das soll man unbe­dingt machen! Mäan­dern darf sein, bevor man im System einen nächs­ten Schritt macht. Eine zentrale Frage von uns Berufs­be­ra­tern ist aber tatsäch­lich: Beraten wir den Menschen als Subjekt oder als jeman­den, der ins System passen soll?

Und, was machen Sie?
CV: Ein Stück weit ist natür­lich auch die Berufs­be­ra­tung Teil des Systems, wir machen da mit. Wir sollten uns aber immer wieder die Frage stellen: Passt es noch? Wir nehmen uns ja schliess­lich heraus, zu sagen, dass wir unabhängig und neutral seien.

Müsste sich die Berufs­be­ra­tung ändern?
TW: Nein. Sie muss so wachsam sein, wie es Frau Viljehr beschreibt. Vor dreis­sig, vierzig Jahren hätte sie als Berufs­be­ra­te­rin nicht gesagt: «Man muss mäan­dern können!»

Kann sich jemand mit Karrie­re­ab­sich­ten in der Wirt­schaft noch Auszei­ten leisten?
GS: Karriere wird künftig ganz neu geschrie­ben werden. Längst will nicht jeder, der könnte, nach oben. Viele sind heute sogar bereit, weniger zu verdie­nen als ihr Vater. Ich treffe mehr junge, top ausge­bil­dete Leute, die primär ein inter­es­san­te­res Aufga­ben­ge­biet suchen und sich vorstel­len können, Teil­zeit zu arbei­ten.

TW: Karriere heisst ja eigent­lich einfach «Weg»; aber wir haben aus der Karriere in den letzten rund hundert Jahren Pyra­miden gemacht. Es ging immer nur nach oben. Heute würden viele für eine sinnvolle Arbeits­auf­gabe sowohl Status als auch Geld opfern. Nein­sa­gen ist eine Form von Frei­heit, die unsere Gesell­schaft ermög­licht.

Mäandern darf sein, bevor man im System einen nächsten Schritt macht.

Christine Viljehr

Sie haben auch zu Frei­wil­li­gen­ar­beit geforscht und sich sehr fürs bedin­gungs­lose Grund­ein­kom­men enga­giert …
TW: Ja. In die Frei­wil­li­gen­ar­beit finden die Leute übri­gens ohne Selek­tion und Bera­tung. Und dann enga­gie­ren sie sich dort für kein Geld. Weil ihre Werte mit der jewei­li­gen Orga­ni­sa­tion überein­stimmen. Weil sie dort Sinn finden. Leider ist die Kopp­lung von Einkom­men und Exis­tenz in der Arbeits­ge­sell­schaft noch immer so stark, dass die anderen Möglich­kei­ten, die ich in mir habe, eben in die Frei­wil­li­gen­ar­beit respek­tive die Frei­zeit verlegt werden müssen.

Aber die Berufs­bil­der und Arbeits­for­men verän­dern sich. Welche Entwick­lun­gen beob­ach­ten Sie?
CV: In der Berufs­bil­dung ist der Wandel ein grosses Thema. Von manchen Berufen nehmen wir an, dass sie in zwei, drei Jahren ganz anders ausse­hen werden. Zum Beispiel der Verkauf: Da werden viele junge Menschen ge­sucht, aber der Beruf ist aktuell der­­massen im Wandel, dass wir noch gar nicht wissen, welche Kompe­ten­zen dort in Zukunft benö­tigt werden. Wie also beraten? Da tut sich ein grosses Span­nungs­feld auf.

TW: Unter Beruf stellen wir uns etwas Festes vor. Etwas, das auch weiter­hin Gestalt und Gehalt haben wird. Aber das löst sich jetzt auf. Das Verspre­chen vom «anstän­di­gen Beruf, dann hat man was» ist wohl nicht mehr einzu­lö­sen. Bereits jetzt haben viele keinen Job mehr. Der duale Bildungs­weg ist eine grosse Leis­tung, es war eine Errungen­schaft, einen Beruf zu defi­nie­ren. Aber brau­chen wir alle diese Berufsausbil­d­ungen in Zukunft noch? Oder werden wir die Jobs an Algo­rith­men und Roboter abgeben? Ein Roboter hat keinen Lebens­lauf.

War nicht auch «Bildung gleich Erfolg» so ein Verspre­chen? Und wenn ja: Gilt das auch in Zukunft noch?
CV: Es ist nicht alleine die Bildung, die den Erfolg ausmacht, sondern auch das, was man sonst im Leben erwirbt. Es ist der Mix. Man erar­bei­tet sich im Verlauf des Lebens ja ganz viele Kompe­ten­zen abseits der Bildungs­in­sti­tu­tion.

GS: Eine Bildungs­grund­lage erachte ich aber als substan­zi­ell. Auf ihr kann man aufbauen.

Was sind gute Ausbil­dun­gen heut­zu­tage?
GS: Entwe­der etwas Lokales, zum Bei­spiel im Gewerbe, das wir alle brau­chen, oder etwas Tech­no­lo­gi­sches, das über­all auf der Welt gebraucht werden kann. Alles andere kann man über die Weiterbildung dazu­neh­men. Betriebs­wirt­schaft als Erst­stu­dium würde ich heute zum Beispiel nicht mehr empfehlen. Sinn macht etwas, worin man talen­tiert ist.

TW Jüngere Leute werden heute er­mut­igt zu lernen, worauf sie Lust haben. Aber wo lernt man in dem Alter, das zu tun, worauf man Lust hat? Gibt es Zehn­jäh­rige, die Lust haben, mitt­wochs Haus­auf­ga­ben zu machen? Das ist die eigent­li­che Über­for­de­rung! Früher war für einen, der in einen Metz­ger­haus­halt geboren wurde, klar, was aus ihm würde. Das war natür­lich auch eine Orien­tie­rungs­grund­lage.

Was wünschen Sie Ihren Enkeln und was raten Sie ihnen?
TW: Ich wünsche ihnen, dass ihr Leben ein Puzzle ohne Vorlage sein wird, eines mit ganz vielen Ereig­nis­sen respek­tive Puzzle­stei­nen. Der Rat dazu: Ereignis­se sammeln, Erfah­run­gen machen, auspro­bieren: Zwei Schritte vor, einer zurück, dann noch zur Seite …

CV: Dass sie erfüllt sind vom Dasein. Ich sage extra nicht vom Arbeits­le­ben, denn es gehört das Ganze dazu. Und dass sie mit einer gewis­sen Bewusst­heit und Über­zeu­gung im Leben stehen, mit Freude und Neugier. Und als Rat: einfach mit dem Herz dabei sein! Die Berufe, die man mit Herz ausübt, werden auch dieje­ni­gen sein, die Zukunft haben.

GS: Das Herz ist überall matchentschei­dend. Wenn es da nicht stimmt, geht etwas kaputt, dann ist man im falschen Umfeld. In der weniger linea­ren Zukunft wird es auch Agili­tät und Neugier brau­chen. Ich wünsche meinen Göttik­in­dern ausser­dem, dass sie nicht platt­füs­sig werden, sondern bis ins hohe Alter auf den Zehen stehen und ihre Wendig­keit behal­ten. 

Mode­ra­tion und Text: Esther Banz


Guido Schil­ling sucht als Execu­tive Sear­cher quali­fi­zierte Persön­lich­kei­ten für Geschäfts­lei­tun­gen und Verwaltungs­räte. Bekannt ist er auch als Heraus­ge­ber des jähr­lich erschei­nen­den «Schil­ling Reports».

Chris­tine Viljehr machte das KV, studierte später Psycho­lo­gie und spezia­li­sierte sich in Berufs-, Studien- und Lauf­bahn­be­ra­tung sowie Manage­ment und Leader­ship. Sie leitet heute das Berufs­in­for­ma­ti­ons­zen­trum (biz) Urdorf.

Theo Wehner ist emeri­tier­ter Profes­sor für Arbeits­psy­cho­lo­gie an der ETH Zürich. Er forschte sowohl über die Erwerbs­ar­beit als auch über Frei­wil­li­gen­ar­beit und zum bedin­gungs­lo­sen Grund­ein­kom­men.