Was ist eine «gute Entwicklung»?

 «Das Kind soll sich als lernendes Wesen erleben dürfen»

Wir sind hier, um über die «gute Entwick­lung» eines Kindes zu disku­tie­ren. Eine Frage vorab: Ist «gut» mit «normal» gleich­zu­set­zen?
Oskar Jenni: Das sind Defi­ni­tio­nen von uns Erwach­se­nen. Besser sind Begriffe, die vom Kind her gedacht sind.

Wie könnte eine «gute Entwick­lung» vom Kind her defi­niert werden?
Heidi Simoni: Wir spre­chen in der Psycho­lo­gie gerne von «gelin­gen­der Entwick­lung», weil dies offener ist für Varia­tio­nen und Umwege, wie sie manche Kinder machen. Auf keinen Fall würde ich «gelin­gend» mit «normal» gleich­set­zen. Wesent­lich ist für mich, ob ein Kind auf alters­ge­mässe Art einem Inter­esse nach­ge­hen kann und ein Gefühl von sich als Persön­lich­keit hat, das es als stimmig erlebt.

OJ: Ich sehe das auch so. Gelingen­de Entwick­lung bedeu­tet, dass das Kind zuneh­mend selbst­stän­dig wird und gleich­zei­tig authen­tisch bleibt, das heisst, sich selber kennt und mit allen Stärken und Schwä­chen akzep­tiert. Selbst­stän­dig­keit und Authen­ti­zi­tät sind ja auch Ansprü­che, die wir als Gesell­schaft an Erwach­sene haben.

Sind das auch die Ziele, die in der Sonder­päd­ago­gik entschei­dend sind?
Andrea Häuptli: Kurz etwas zu «gut» und «gelin­gend»: Noch immer werden Normen defi­niert, mit Stufen oder mit Angaben von Entwick­lungs­al­ter, was wo wie wann in der Entwick­lung pas­sieren soll. Da werden Ansprü­che an die Entwick­lung formu­liert, wie sie zu verlau­fen habe. Das finde ich sehr heikel.

Gian Bisch­off: Das sehe ich auch so. Zwar helfen Normen beim Einschät­zen, ob ein Kind etwas braucht oder ob man es einfach seine Entwick­lung machen lassen kann. Und für Eltern sind sie auch ange­nehm, solange ihr Kind die Normen erfüllt. Wenn es aber mit 18 Monaten noch nicht gehen kann, bricht bei diesen Eltern Stress aus. Sehr wichtig finde ich zudem: Auch ein Kind, das einen Entwick­lungs­rück­stand hat, sollte Selbst­stän­dig­keit und Authen­ti­zi­tät erleben können. Das bedingt, dass das Umfeld eine spezi­elle Unter­stüt­zung erhält, damit es versteht, was das Kind da, wo es gerade steht, braucht. Für das Kind selbst ist nicht entschei­dend, was normal ist und was nicht. Für das Kind wäre es gut, es könnte erleben: Ich werde so wahr­ge­nom­men, wie ich bin.

OJ: Dass bei einem Kind mit einem Entwick­lungs­rück­stand beson­ders das Umfeld Unter­stüt­zung erhält, halte ich eben­falls für ausser­or­dent­lich wichtig. Wir sind eine Gesell­schaft, die immer noch die Tendenz hat, stark auf das Kind zu fokus­sie­ren und wenig auf das Umfeld. Die Eltern respek­tive das Umfeld brau­chen aber Unter­stüt­zung und Bera­tung. Nach und nach findet aber ein Umden­ken in der Gesell­schaft statt, ein Para­dig­men­wech­sel – in meinen Augen passiert dieser Prozess einfach noch zu langsam.

Noch immer werden Normen defi­niert, was wo wie wann in der Entwick­lung passie­ren soll. Das finde ich sehr heikel.

Andrea Häuptli

Warum ist es so wichtig, dass ein Kind sich in seiner Entwick­lung selbst erlebt, auch bei einem Entwick­lungs­rück­stand?
OJ: Das Kind muss lernen, seine Stärken und Schwä­chen zu akzeptie­r­en und damit umzu­ge­hen. Aber auch wir als Gesell­schaft müssen die Ver­schiedenartigkeit der Kinder aner­ken­nen und dabei möglichst viel­fäl­tige Entwick­lungs­mög­lich­kei­ten für die unter­schied­li­chen Bedürf­nisse der Menschen bereit­stel­len.

HS: Es geht weit über das Akzep­tie­ren von Verschie­den­ar­tig­keit hinaus. Jedem Menschen sollte selbst­ver­ständ­lich ein eigener Entwick­lungs­weg zuge­stan­den werden. Heute findet jedoch schu­lisch und gesell­schaft­lich oft eine starke Bewer­tung von Leis­tun­gen, Können und Lern­sti­len statt. In meinen Augen ist es schein­hei­lig, wenn man heute behaup­tet, hand­werk­li­che Geschick­lich­keit sei gleich­wer­tig mit intel­lek­tu­el­ler Leis­tungs­fä­hig­keit. In der gesell­schaft­li­chen Wertung ist es ja nicht mehr so.

AH: In der Sonder­päd­ago­gik erlebt man das insbe­son­dere am Über­gang in den Kinder­gar­ten, wo es um die Kinder­gar­ten­reife geht. Eigent­lich gibt es diesen Begriff und dieses Krite­rium nicht mehr – und doch begeg­nen die Kinder dort ganz klaren Vorstel­lun­gen davon, was Kinder­gar­ten­reife ist. Wenn das Kind noch nicht dort steht, wo man es gerne hätte, wird es zum Beispiel um ein Jahr vom Kinder­gar­ten zurück­ge­stellt mit dem Auftrag, was das Kind mithilfe sonder­päd­ago­gi­scher Mass­nah­men in einem Jahr er­reichen soll. Das Kind soll sozu­sa­gen fit gemacht werden für den Kinder­gar­ten. Da stimmt etwas nicht zusam­men.

Wir müssen die Verschie­den­ar­tig­keit der Kinder akzep­tie­ren.

Oskar Jenni

Irgend­wann soll das Indi­vi­duum in ein System hinein­pas­sen. Wer bestimmt denn eigent­lich die Norm?
OJ: Primär die Gesell­schaft und durch sie die Politik. Sie bestimmt den Bildungs­auf­trag. Meiner Meinung nach über­trägt die Gesell­schaft der Bildung sehr viel Verant­wor­tung und Aufga­ben, die sie eigent­lich – aus Sicht des Kindes – gar nicht lösen kann.

HS: In der Psycho­lo­gie gehen wir von einem ganz anderen Bildungs­be­griff aus, nämlich von der perso­na­len Bildungs­bio­gra­fie. Wir sagen: Das Kind will sich bilden, also sich mit sich selbst und der Welt ausein­an­der­set­zen. Jedes Kind, das gesund­heit­lich und von seinen Möglich­kei­ten her nicht zu sehr einge­schränkt ist, ist neugie­rig. Sich mit der Welt ausein­an­der­zu­set­zen, ist der Beitrag des Kindes zu seiner Entwick­lung, und wir müssen es dabei beglei­ten. Das ist ein ganz anderer Blick auf die Bildung, als wenn man vom Bildungs­sys­tem ausgeht. Und es stimmt, dass viel von dem, was wir von Kindern erwar­ten, was sie errei­chen sollen und wie wir das bewer­ten, eng mit dem Bildungs­sys­tem verknüpft ist – und mit der Wirt­schaft, logi­scher­weise.

Sich mit der Welt ausein­an­der­zu­set­zen, ist der Beitrag des Kindes zu seiner Entwick­lung, und wir müssen es darin beglei­ten.

Heidi Simoni

Gibt es einen Zeit­punkt, in dem es Sinn macht zu inter­ve­nie­ren – oder plädie­ren Sie alle dafür, dass sich das Kind im Sinne des Authen­tisch-sein-Könnens selbst entwi­ckeln und finden soll?
HS: Es braucht ein Umfeld, das es auf­merksam beglei­tet.

OJ: Auch ich möchte noch einmal betonen, wie wichtig es ist, das Umfeld eng mitein­zu­be­zie­hen. Man zieht heute schnell den Schluss: Das Kind hat einen Entwick­lungs­rück­stand, also braucht es thera­peu­ti­sche Unter­stüt­zung. Zentral ist aber die Frage: Welche Bezugs­per­so­nen hat das Kind, wie geht es diesen? Welche Unter­stüt­zung brau­chen sie? Von entschei­den­der Bedeu­tung für eine gelin­gende Entwick­lung sind drei Eigen­schaf­ten, die Bezugs­per­so­nen haben müssen: Erstens müssen sie psychisch gesund und verläss­lich sein. Zwei­tens müssen sie für das Kind da sein, also verfüg­bar. Drit­tens müssen sie das Kind lesen können, seine Bedürf­nisse erken­nen: Was braucht es, damit es sich entwi­ckeln kann? Dies sind die zentra­len Voraus­set­zun­gen, damit sich das Kind wohl und sicher fühlt.

Gebor­gen­heit also?
OJ: Genau, Gebor­gen­heit ist ein sehr passen­der Begriff. Er fasst diesen Zustand, dieses Gefühl von Sicher­heit, Wärme, Wohl­be­fin­den und Akzep­tanz sehr gut zusam­men. Um auf Ihre Frage zurück­zu­kom­men: Eingrei­fen würde ich dann, wenn diese genann­ten Voraus­setzungen des Umfel­des nicht gegeben oder nicht gut sind. Eine Thera­pie kann schon auch ange­zeigt sein, aber der Fokus muss auf dem Umfeld liegen.

HS: Auch was den Kinder­gar­ten be­trifft, könnte man sich fragen: Was braucht denn das Umfeld dort, konkret die Kinder­gar­ten­lehr­per­so­nen, damit sie Kinder so beglei­ten können, wie wir es hier offen­bar einhel­lig als gut erach­ten? Mir scheint, als gäbe es noch eine Lücke zwischen dem Verständ­nis, dass das Kind funk­tio­nie­ren muss in dieser – zumeist grossen – Gruppe und der Einsicht, dass dies einer inklu­si­ven Pädago­gik wider­spricht. Also eine Pädago­gik, welche die Viel­falt der Kinder und ihre unter­schied­li­chen Inter­es­sen und Lern­wege auch abholen kann. Ich nehme wahr, dass Kinder­gartenlehrpersonen dies­be­züg­lich in einem Span­nungs­feld sind, was viel­leicht auch mit dem zuvor beschrie­be­nen Para­dig­men­wech­sel zu tun hat, der noch nicht wirk­lich voll­zo­gen ist.

Was braucht es für diesen Para­dig­men­wech­sel? Und was können Sie alle dazu beitra­gen?
GB: Das Para­doxe ist: In der Erwach­senenwelt werden die krea­ti­ven, schrä­gen Leute bewun­dert. Aber wenn Kinder so sind, sind sie anstren­gend und gelten als schwie­rig, ganz plaka­tiv gesagt. Ich sehe meine Aufgabe darin, den Eltern das aufzu­zei­gen und sie darin zu unter­stüt­zen, dem Kind und seinen Fähig­kei­ten zu vertrauen – entge­gen den Norm­erwar­tun­gen primär im Bildungs­sys­tem. Manche müssen das Bildungs­sys­tem rich­tig­ge­hend «über­le­ben», um anschlies­send ihren eigenen Weg zu finden und gehen zu können. Das muss sich ändern!

OJ: Ich bin da ganz opti­mis­tisch. Was es braucht, ist eine stabile Demo­kra­tie, rechts­staat­li­che Insti­tu­tio­nen, eine gut funk­tio­nie­rende Wirt­schaft, finan­zi­elle Mittel – in all dem sind wir hier­zu­lande nicht so schlecht dran. Und ich sehe, dass der Para­dig­men­wech­sel bereits im Gange ist. Von heute auf morgen geht das natür­lich nicht, es ist ein lang­samer Prozess. Und ich bin da viel­leicht auch etwas unge­dul­dig.

HS: Gleich­zei­tig erlebe ich Eltern, die sich Sorgen machen, ob ihr Kind im Erwach­se­nen­al­ter seinen Platz finden wird – in einer Zukunft, von der sie selbst nicht wissen, wie sie ausse­hen wird. Der Para­dig­men­wech­sel heisst ja auch, Persön­lich­keit und eben die unter­schied­li­chen Persön­lich­kei­ten in den Vorder­grund zu stellen, und nicht mehr unbe­dingt die Erwar­tun­gen, die das Kind erfül­len soll, im Sinne von Leis­tung. Gleich­zei­tig frage ich mich aber auch, ob es nicht sogar wichtig ist, dass die Eltern eine Erwar­tung haben für ihr Kind, also einen Entwick­­lungs- oder Erwar­tungs­ho­ri­zont für das Kind, was dem Kind eine Entwick­lungs­per­spek­tive über­haupt erst eröff­net. Wenn ich zu einem Mitar­bei­ter sage «Ich habe keine Erwar­tun­gen an dich, mach einfach mal», fühlt der Mitar­bei­ter sich nicht aufge­ho­ben und erhält auch keine Impulse, den nächs­ten Schritt zu tun oder über sich hinaus­zu­wach­sen, sich ein biss­chen zu stre­cken und etwas Neues auszu­pro­bie­ren. Das halte ich für eine grosse Schwie­rig­keit für Eltern, Kinder­gar­ten­lehr­per­so­nen und Thera­peu­ten, die Kinder beglei­ten: für das Kind einen Entwick­lungs­ho­ri­zont aufspan­nen zu können und gleich­zei­tig nicht zu starre Erwar­tun­gen zu haben.

OJ: Viele Studien, auch aus unserem Team, haben gezeigt, dass Umwelt­fak­to­ren im Vergleich zu den Eigen­schaf­ten, die das Kind selbst mitbringt, nicht sehr starke Treiber der Entwick­lung sind. Selbst Eltern haben nur beschränkte Möglich­kei­ten, die Entwick­lung eines Kindes wirk­lich zu beein­flus­sen und zu steuern. Es bleibt einem also nichts anderes übrig, als gelas­sen zu bleiben. Gleich­wohl ist es wichtig, das Kind zu lesen, zu erken­nen, was es kann und was noch nicht, wo es Unter­stüt­zung und Führung braucht. Gebor­gen­heit ist dabei die Grund­vor­aus­set­zung, die das Kind braucht.

In der Erwachsen­enwelt werden die krea­ti­ven, schrä­gen Leute bewun­dert. Aber wenn Kinder so sind, sind sie anstren­gend und gelten als schwie­rig.

Gian Bischoff

Was sollte ein Kind von seinem Umfeld mit auf den Weg bekom­men, damit es sich gut entwi­ckeln kann?
HS: Zum einen scheint es mir ganz wichtig, dass sich ein Kind als lernen­des Wesen erleben darf und eine Iden­ti­tät und ein Selbst­kon­zept von sich als lernen­dem Wesen aufbauen kann. Das andere ist, dass Kinder sich als Indi­vi­duen und als Teil einer Gemein­schaft erleben und dass sie sowohl für sich wie auch für die Gemein­schaft einen Beitrag leisten können, aber auch Verant­wor­tung haben.

GB: Für die Entwick­lung eines Kindes ist zentral, dass es ein gutes Selbst­wert­ge­fühl hat, ein Gefühl von «Ich kann etwas bewir­ken in dieser Welt». Damit ist schon ein grosser Teil gewon­nen. Die Aufgabe des Umfel­des ist dabei, das Kind zu verste­hen und seine Stärken zu sehen. Dem Kinde wünsche ich auch, dass viele verschie­dene Leute zu seinem Umfeld gehören, dass es sich einge­bet­tet fühlt und sich auch mit seinem Umfeld reiben und ausein­an­der­set­zen kann.

AH: Ein Verste­hen-Wollen von diesem einzig­ar­ti­gen Kind, noch bevor man Erwar­tun­gen an es hat – und dann das Zumuten, dem Kind einen eigenen Weg zutrauen.

OJ: Es gibt zwei Dinge, wozu wir beitra­gen und dafür sorgen müssen, dass das Kind sie im Verlauf seiner Entwick­lung lernt: Erstens, dass es selbst­stän­dig wird und spürt, dass es selbst aktiv etwas bewir­ken und zum Posi­ti­ven bringen kann. Und zwei­tens, dass es sich selbst gut kennt und einschät­zen kann, wo es etwas wagen und riskie­ren darf. Die Begriffe Auto­no­mie und Authen­ti­zi­tät fassen das gut zusam­men.

Mode­ra­tion: Martina Monti
Text: Esther Banz


Heidi Simoni leitet das Marie Meier­hofer Insti­tut für das Kind. Sie beschäf­tigt sich mit der Entwick­lung und dem Aufwach­sen von Kindern ab Geburt bis ins frühe Schul­al­ter.

Gian Bisch­off ist Mitglied der kanto­na­len Jugend­hil­fe­kom­mis­sion und Kinder­arzt mit Zusatz­aus­bil­dung in Entwick­lungs­päd­ia­trie. Er betreut Kinder ab Geburt. Beson­der­hei­ten im Früh­kin­des- und Schul­al­ter sind Schwer­punkte seiner Arbeit.

Andrea Häuptli ist wissen­schaft­li­che Mitar­bei­te­rin im AJB und leitet die Zentral­stelle Sonder­päd­ago­gik im Früh- und Nach­schul­be­reich.

Oskar Jenni ist Kinder­arzt. Er leitet die Abtei­lung Entwick­lungs­päd­ia­trie am Kinder­spi­tal Zürich, die jähr­lich rund 1 500 Kinder unter­sucht und unter anderem zur Kindes­ent­wick­lung forscht.