Die Bedeutung des Nein-Sagens für eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung
Am kantonalen Elternbildungstag vom 17. Juni konnten die Teilnehmenden auch in diesem Jahr wieder spannende Workshops besuchen – zum Beispiel denjenigen mit Sonja Affolter. Die familylab-Seminarleiterin und vierfache Mutter thematisierte die Wichtigkeit des Nein-Sagens für das Zusammenleben in der Familie und für die Entwicklung der Kinder. Im Interview verrät sie, was passieren würde, wenn Eltern zu ihren Kindern nie Nein sagen würden.
«Nein, ich möchte nicht, dass du da rauf kletterst» oder «Nein, ich möchte nicht, dass du so laut Musik hörst» – Sonja Affolter, wie wichtig ist es, dass man in der Erziehung der Kinder Nein sagt?
Die Bedeutung des Nein-Sagens ist enorm. Wenn ich zu jemandem Nein sage, sage ich in diesem Moment immer Ja zu mir selbst. Es ist eine liebevolle Antwort gegenüber den Kindern, denn wenn ich zu mir Ja sage, übernehme ich Verantwortung für mich. Für die Kinder ist dies eine Wohltat, da sie einfach Kinder sein können, ohne sich um mich kümmern zu müssen. Sie müssen nicht zwischen den Zeilen lesen. Sie merken auch, dass ich mich als Mutter selbst ernst nehme und meine Grenzen respektiere. Ich habe aber auch bemerkt, dass das Nein-Sagen für Eltern oft eine grosse Herausforderung ist. Es ist das Gefühl, dass man dem Kind alles Glück der Welt wünscht und Angst hat, dieses Glück zu beeinträchtigen, indem man Nein sagt.
Wie schafft man es, eine Balance zwischen Strenge und Nachgiebigkeit zu finden?
Ich denke, dass man nicht der Grenzen willen Grenzen setzen muss, denn diese ergeben sich notwendigerweise im Zusammenleben. Ich als Mutter habe Grenzen, mein Kind hat Grenzen, und daraus ergibt sich der Umgang miteinander. Diese genannte Frage erübrigt sich, wenn ich entlang meiner eigenen Grenzen Ja oder Nein sage. Diese Grenzen können sich auch verschieben, wenn ich beispielsweise einen strengen Tag hatte und nicht möchte, dass mein Kind laut Musik hört. An einem anderen Tag liegt dies gut drin. Beim Nein-Sagen achte ich auch auf die Reaktion meines Kindes. Denn es gibt ultimative Neins, bei denen es kein Verhandeln gibt, aber es gibt auch Situationen, in denen ich merke, dass meinem Kind etwas wichtiger ist, als ich es eingeschätzt habe und dann gehen wir in einen Dialog.
Es ist wichtig, dass mein nonverbales und verbales Verhalten übereinstimmen, um das Kind nicht zu verwirren.
Was wäre, wenn man nie Nein sagt und einfach immer alles zulässt?
Das wäre eine Katastrophe, denn wenn ich nie Nein sage, sage ich auch nie Ja zu mir. Wenn man zum Beispiel sehr harmoniebedürftig ist, richtet man sich immer nach anderen. Dadurch sammelt sich immer mehr Frust an, bis man irgendwann explodiert. Es ist also nicht gut für mich selbst. Zudem verhindere ich damit, dass mein Kind eine authentische Beziehung zu mir aufbauen kann und erfährt, wer ich bin. Und gerade in der Pubertät, wenn sich die Eltern-Kind-Beziehung grundsätzlich verändert, wird es dann wahrscheinlich schwierig. Wenn ich also nie Nein sage, besteht keine echte Beziehung und das wäre sehr schade.
Gibt es Unterschiede in Bezug auf das Alter der Kinder?
Wenn die Kinder noch jung sind, ist es wichtig, dass mein nonverbales und verbales Verhalten übereinstimmen, um das Kind nicht zu verwirren. Die Mimik ist sogar noch wichtiger als was ich sage, wenn ich ein kleines Kind habe. Dem sind sich viele nicht bewusst. Am Anfang ist auch wichtig, konsequent zu sein, indem ich zu denselben Dingen Nein sage, damit das Kind meine Werte verinnerlichen kann. Nach ein paar Jahren haben Kinder diese Werte jedoch verinnerlicht, und man muss nicht immer wieder zu diesen grundsätzlichen Dingen Nein sagen. Bei Fragen interessiert es mich, wieso mein Kind dies möchte und mit diesem Wissen kann ich entscheiden. In der Pubertät ändert sich meine Rolle. Mein Kind weiss ja nach jahrelangem Zusammenleben, was ich von Dingen halte, ich brauche dies also nicht zu wiederholen. Ich bleibe Dialog-Partner und vertraue meinem Kind, dass es das Beste macht, das es kann.
Ein Jugendlicher kann nicht plötzlich Nein sagen, wenn er dies als Kind nie durfte.
Ist es auch wichtig, dass sich Mutter und Vater gut abstimmen?
Es ist hilfreich, wenn sich Mutter und Vater über ihre grundsätzlichen Werte einig sind. Weitere Unterschiede können Kinder gut verkraften.
Haben Sie noch generelle Tipps für Eltern, um ihnen das Nein-Sagen leichter zu machen?
In einer Familie ist es wichtig, einander dabei zu unterstützen, Nein zu sagen, schon wenn die Kinder noch ganz jung sind. Wir wünschen uns ja alle Kinder, und später Erwachsene, die für sich sorgen und deshalb immer wieder Nein sagen können, und das muss gelernt sein. Ein Jugendlicher kann nicht plötzlich Nein sagen, wenn er dies als Kind nie durfte oder kein entsprechendes Vorbild hatte. Unsere Rolle als Eltern ist also entscheidend.
Mein zweiter Tipp ist auf unpersönliche und aggressive Ausdrucksweisen wie «Das Mami wird böse, wenn ihr nicht aufräumt» oder «Könnt ihr nicht ein einziges Mal aufhören so einen Krach zu machen?» zu verzichten. Stattdessen empfehle ich eine persönliche Ausdrucksweise wie «Ich will nicht, dass ihr jetzt so einen Krach macht», also zu sagen, was ich will oder nicht will, ohne irgendeinen Unterton zu verwenden. Es ist sinnvoll, dies in einem ruhigen Moment zu üben und zu überlegen, wie man etwas persönlich sagt, ohne dabei verletzend zu werden.
Und als Drittes finde ich es zwar wichtig, dass ich zu meinem Kind Nein sage, aber es muss auch immer wieder die Möglichkeit geben, dass mein Kind Nein zu dem sagt, was ich will. Absolute Gehorsamkeit ist kein Weg für eine gesunde Entwicklung eines Kindes. Ein Beispiel: Unser vierjähriger Sohn hat in seinem Zimmer eine Schublade mit seinen Ostersachen. Ich habe bemerkt, dass er heimlich etwas daraus gegessen hat. Ich muss deshalb nicht mit ihm schimpfen oder gleich die Schublade ausräumen. Ich kann es aushalten, dass er in diesem Moment nicht macht, was ich will, sondern offensichtlich Ja sagt zu seinem Wunsch. Als sein jüngerer Bruder diese Schublade entdeckte, brachte er seine Sachen sowieso freiwillig nach vorne und die Situation hatte sich erledigt.