Fragen zur Erziehung und Entwicklung Ihrer Kinder und zum Familienalltag? Die Fachleute unserer Kinder- und Jugendhilfezentren (kjz) beraten Sie gern.
Zum kjz-BeratungsangebotOhne Gewalt erziehen – warum das so wichtig ist
Neue Resultate belegen, dass fast 50 Prozent aller Kinder Gewalt in der Erziehung erleben. Wie können wir Kinder davor schützen und vor allem, warum müssen wir das? Gewaltforscher Dirk Baier gibt Antworten.
Dirk Baier, warum ist es so wichtig, dass Kinder vor Gewalt geschützt werden?
Weil Gewalterfahrungen Kinder umfassend und langanhaltend schädigen. Aus der Forschung wissen wir: Erfahrene Gewalt geht mit Depressivität und Suizidalität einher, führt zu tieferen schulischen Leistungen, beeinflusst den späteren Alkohol- und Drogenkonsum, stärkt fremdenfeindliche Haltungen und vieles mehr. Wer als Kind Gewalt in der Familie beobachtet hat oder ihr selbst ausgesetzt war, wird zudem später selbst häufiger zum Täter oder zur Täterin bei häuslicher Gewalt. Es gibt also genug Gründe, gegen Gewalt in der Erziehung vorzugehen.
Warum wenden Eltern dennoch Gewalt an?
Selten greifen Eltern auf Gewalt zurück, weil sie böse sind oder Spass daran haben. Sie sind vielmehr überfordert, reagieren aus einer Überlastung heraus, fühlen sich provoziert und denken, auf diese Weise Autorität markieren zu müssen. Ihnen fehlen alternative Verhaltensweisen. Diese sind aber lernbar. Eltern dürfen daher unbedingt Hilfe holen, etwa bei Fachstellen wie der Elternbildung im Kanton Zürich oder den Kinder- und Jugendhilfezentren.
Erfahrene Gewalt geht mit Depressivität einher, führt zu tieferen schulischen Leistungen, stärkt fremdenfeindliche Haltungen und vieles mehr.
Wie können wir Kinder noch besser vor Gewalt schützen?
Den Eltern sollte immer und immer wieder bewusst gemacht werden, welche negativen Folgen Gewalt hat. Meiner Erfahrung nach möchten Eltern aber lieber über die Schulleistungen ihrer Kinder sprechen, darüber, was Kindergarten und Schule für ihr Kind tun sollen. Doch es ist wichtig, dass sie wie ein Mantra immer wieder hören: Niemals Gewalt.
Der Ständerat hat im November 2022 die Verankerung der gewaltfreien Erziehung im ZGB befürwortet. Wie stehen Sie zu diesem Entscheid?
Ich befürworte ein solches Verbot uneingeschränkt. Doch wir waren wohl alle ein wenig überrascht vom Ständerat. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder vergebliche Anläufe im Parlament und auch der Bundesrat hatte kürzlich in einer Stellungnahme formuliert, dass er «kein(en) Anlass für die Schaffung einer neuen gesetzlichen Regelung zur gewaltfreien Erziehung» sehe. Die Schweiz steht mit dieser Haltung allerdings europaweit recht isoliert da; die deutliche Mehrheit der Länder hat das Züchtigungsverbot gesetzlich verankert. Auch die Mehrheit der Bevölkerung befürwortet den gesetzlichen Schutz der Kinder. Und dass die Erziehung keine reine Privatsache ist, wissen wir spätestens seit der Einführung der Schulpflicht.
Eltern sollen wie ein Mantra immer wieder hören: Niemals Gewalt.
Welche Folgen erwarten Sie von der Änderung des Gesetzes?
Trotz Befürwortung weiss ich, dass die Wirkung des Gesetzes beschränkt sein wird. Die Einführung halbiert nicht gleich die Zahl der jungen Menschen, die elterliche Gewalt erfahren. Zu einer gewissen Reduktion dürften aber bereits die Diskussionen darum führen. Diese klären etwa, dass auch Ohrfeigen ein illegitimes Erziehungsmittel sind. Das ist noch nicht bis zu jedem Elternteil durchgedrungen. Studien zeigen wiederum, dass Eltern in Ländern mit einem solchen Gesetz Handlungen wie Ohrfeigen häufiger als strafbare Körperverletzung am Kind wahrnehmen. Wer das weiss, greift auch seltener darauf zurück.
Gesetze geben in meinen Augen ausserdem der Prävention Rückenwind. Organisationen, die sich gegen elterliche Gewalt engagieren, erhalten damit quasi einen öffentlichen Auftrag. Das macht es leichter, auch in Schulen Gehör für das Thema zu finden und Workshops oder Ähnliches anzubieten. Alles in allem gehe ich daher schon davon aus, dass eine gesetzliche Verankerung das Miteinander in den Familien über kurz oder lang friedlicher machen wird.