Patchworkfamilie mit Pflegekind

«Wir haben die Familie, die wir uns immer wünschten»

Simone Preis­werk und Dunja Krempin leben mit zwei Kindern in einer unkon­ven­tio­nel­len Fami­li­en­kon­stel­la­tion. Tochter Hannah (4) ist das leib­li­che Kind von Dunja Krempin, Pfle­ge­sohn Noah (4) lebt seit drei Jahren dauer­haft bei ihnen. Finn (3), sein Halb­bru­der, wohnt im selben Haus bei einer Nach­ba­rin der Familie. Er kommt zur Entlas­tung ab und zu am Wochen­ende zu ihnen.

Frau Preis­werk, Frau Krempin, wieso haben Sie mit Noah* ein Pfle­ge­kind bei sich aufge­nom­men?
Dunja Krempin: Wir wollten eigent­lich von Anfang an ein Pfle­ge­kind bei uns aufneh­men und haben bald schon einen Infor­ma­ti­ons­an­lass besucht. Die Geburt von Hannah bestärkte uns schliess­lich in unserem Wunsch.

Simone Preis­werk: Hinzu kommt, dass wir uns als gleich­ge­schlecht­li­ches Paar präde­sti­niert fühlten für ein Pfle­ge­kind.

Wenn Sie zurück­bli­cken: Wie lief die Einge­wöh­nungs­phase ab und wie kam Noah* zu Ihnen?
SP: Der Weg von Noah zu uns war etwas kompli­ziert. Sein erstes Lebens­jahr verbrachte er bei einer SOS-Pfle­ge­mut­ter. Während dieser Zeit hatten wir ihn ein paar Mal besucht und stun­den­weise gehütet – das erste Mal mit fünf Monaten. Geplant war, dass er an Weih­nach­ten 2019 zu uns kommt. Es gab aber recht­li­che Probleme gefolgt von Corona. Im Juli 2020 war es schliess­lich soweit und wir konnten Noah bei seiner SOS-Pfle­ge­mut­ter abholen.

Hannah war noch sehr klein, als Sie Noah aufge­nom­men hatten. Hat sie auf ihr neues Brüder­chen reagiert?
DK: Entge­gen unseren Erwar­tun­gen haben beide Kinder sehr stark aufein­an­der reagiert. Die ersten zwei Jahre waren unglaub­lich streng. Wir konnten sie nicht zwei Minuten alleine lassen, weil sie sich sonst gegen­sei­tig gebis­sen hätten. Hannah war auf Noah eifer­süch­tig.

SP: Sie war plötz­lich nicht mehr der allei­nige Mittel­punkt; damit hatte sie verständ­li­cher­weise Mühe. Einfa­cher wurde es, als beide drei Jahre alt waren und spre­chen konnten. Seither verste­hen sie sich als Team und spielen oft mitein­an­der. Sie strei­ten zwar ab und zu, aber so wie ganz normale Geschwis­ter.

Noah erkennt die fami­liäre Verband­lung. Er unter­schei­det klar zwischen seinem Halb­bru­der und Freun­den.

Simone Preiswerk

Wie war die Reak­tion von Noah auf seine neue Familie?
SP: Für Noah war es eine grös­sere Verän­de­rung. Man merkt ihm bis heute an, dass er nach der Geburt von seiner leib­li­chen Mutter und mit drei­zehn Monaten von seiner SOS-Pfle­ge­mut­ter getrennt wurde. Das sind zwei Bezie­hungs­ab­brü­che in einer Zeit, in der Bindung sehr wichtig ist. So machen ihm Über­gänge Mühe. Er verreist nicht gerne in die Ferien; das löst bei ihm Stress aus. Und trotz­dem: Ich finde, er hat die Verän­de­run­gen sehr gut gemeis­tert.

Später ist mit Finn* hin und wieder ein drittes Kind in Ihre Familie gekom­men. Wie funk­tio­niert diese Drei­er­kon­stel­la­tion?
DK: Noahs Halb­bru­der Finn kam das erste Mal zu uns, nachdem ihn unsere Nach­ba­rin bei sich aufge­nom­men hatte. Das war vor einem Jahr. Noah hat sich einer­seits sehr gefreut. Seither hat er wie Hannah, die einen älteren Halb­bru­der hat, eben­falls ein Geschwis­ter. Ande­rer­seits wurde er eifer­süch­tig auf Finn. Er wusste plötz­lich nicht, ob er seine Pfle­ge­el­tern mit Finn teilen musste. Hannah wiederum tangiert der gele­gent­li­che Zuwachs nur wenig. Sie weilt während seinen Besu­chen oft bei ihrem Vater.

SP: Noah und Finn haben diesel­ben Inter­es­sen. Sie können lange zusam­men im Zimmer spielen. Ich habe das Gefühl, dass sich Noahs anfäng­li­che Unsi­cher­heit gelegt hat. Denn mitt­ler­weile ist allen klar, dass Finn zwar hin und wieder am Wochen­ende bei uns ist – wie auch andere Nach­bars­kin­der–, er aber seine eigene Familie hat. Trotz­dem erkennt Noah die fami­liäre Verband­lung. So unter­schei­det er klar zwischen seinem Bruder und Freun­den.

Haben Sie Kontakt zur leib­li­chen Mutter von Noah und Finn?
DK: Einmal im Monat verbringt Noah in Anwe­sen­heit eines Besuchs­be­glei­ters zwei Stunden Zeit mit ihr. Wir bringen ihn jeweils zum Treffen und holen ihn danach wieder ab. In diesem Kontext sehen wir auch seine leib­li­che Mutter. Sie spricht nicht so gut Deutsch, ist nach den Treffen oft müde und traurig. Die Gesprä­che mit ihr sind deshalb nur kurz. Wir sind aber alle wohl­wol­lend unter­wegs. Uns war von Beginn weg wichtig, dass das Verhält­nis zu Noahs leib­li­cher Mutter von Sympa­thie und Empa­thie geprägt ist.

Finn lebt bei Ihrer Nach­ba­rin im Dauer­pfle­ge­ver­hält­nis. War es für Sie keine Option, auch ihn aufzu­neh­men?
SP: Nach der Geburt von Finn hat die Abtei­lung Pfle­ge­fa­mi­lien des Amts für Jugend und Berufs­be­ra­tung uns ange­fragt, ob wir Finn nicht auch aufneh­men könnten. Wir waren aber zu dem Zeit­punkt mit der Betreu­ung von Hannah und Noah so ausge­füllt, dass wir uns ein drittes Kind nicht vorstel­len konnten. Die beiden waren ja wie Zwil­linge, prak­tisch gleich alt.

Das Patch­work-Modell ist schön, erfor­dert aber viel Offen­heit und Tole­ranz gegen­über anderen Menschen.

Dunja Krempin

Holten Sie darauf­hin die Nach­ba­rin ins Boot?
DK: Genau. Wir haben die Geburt von Finn und die Umstände bei ihr thema­ti­siert. Sie konnte sich vorstel­len, Finn aufzu­neh­men. Die Behör­den fanden das Konzept toll, dass Finn prak­tisch Tür an Tür mit seinem Halb­bru­der und wie er mit vielen anderen Kindern inner­halb der Genos­sen­schaft aufwach­sen kann.

SP: Das läuft auch ganz gut. Wir über­neh­men ihm gegen­über aber keine Mutter­rol­len, sondern leben ein Verhält­nis wie dies zwischen Tanten und Neffen. Dadurch grenzen wir uns als Kern­fa­mi­lie für Hannah und Noah ab. Das ist für die Kinder emotio­nal wichtig und für uns Eltern aus orga­ni­sa­to­ri­schen Gründen. Und trotz­dem stellt sich ganz auto­ma­tisch ein Nach­bar­schafts­ver­hält­nis plus ein.

Wie gehen die beiden Halb­brü­der mit der Situa­tion um, dass sie nicht in dersel­ben Familie wohnen?
SP: Das ist im Moment keine Frage, die bei ihnen auftaucht. Es scheint für sie wie auch für Hannah das Normalste der Welt zu sein, dass man Geschwis­ter haben kann, die nicht im selben Haus­halt wohnen.

Mit welchen Heraus­for­de­run­gen werden Sie als Pfle­ge­el­tern konfron­tiert?
DK: Das Patch­work-Modell ist schön, erfor­dert aber viel Offen­heit und Tole­ranz gegen­über anderen Menschen.

SP: Pfle­ge­el­tern zu sein, ist In unserem Fall nicht so heraus­for­dernd. Denn die Situa­tion mit der Herkunfts­fa­mi­lie von Noah gestal­tet sich sehr unkom­pli­ziert. Heraus­for­dernd sind aber unbe­dachte, vorein­ge­nom­mene Fragen, die von aussen an uns heran­ge­tra­gen werden. Manche sind proble­ma­tisch, wenn sie die Kinder hören.

Wie schät­zen Sie die Situa­tion ein, dass Noah drei Mütter hat und keinen aktiven Vater?
SP: Noah wie auch Hannah haben trotz­dem männ­li­che Bezugs­per­so­nen. Hier im Haus gibt es einige sehr aktive Väter und auch der Nonno ist sehr hinge­bungs­voll. In der Kita arbei­ten auch Betreuer, ebenso im Hort, wo sie demnächst hinge­hen werden.

DK: Ich glaube, es spielt letzt­lich nicht so eine Rolle, wie sich die Geschlech­ter der Eltern zusam­men­set­zen. Wir haben vorher auf dem Land gewohnt. Dort erhielt dieses Thema eine andere Gewich­tung und Sicht­weise. Hier im urbanen Umfeld wird die Kinder­be­treu­ung egali­tä­rer aufge­teilt. Im Vorder­grund steht weniger, welches Geschlecht die Eltern­teile haben.

* Namen durch die Redak­tion geän­dert

Pfle­ge­fa­mi­lie werden – was Sie wissen müssen

Möchten auch Sie ein Pfle­ge­kind tempo­rär oder dauer­haft bei sich aufneh­men? Dann haben Sie bestimmt viele Fragen. Wir haben Ihnen die wich­tigs­ten Infor­ma­tio­nen zusam­men­ge­stellt inklu­sive eines Eignungs­tests.