«Pflegeeltern brauchen ein grosses Herz, das fest auf dem Boden steht»
Familie Kleesattel gibt Sura (8) seit August 2020 regelmässig ein zweites Zuhause. Das Mädchen kommt alle zwei Wochen von Freitag bis Sonntag und ungefähr sechs Ferienwochen pro Jahr zu ihnen. Ein Gespräch mit Jasmin und Mark Kleesattel über persönliche Anforderungen an Pflegeeltern, die schönen und herausfordernden Seiten ihres Alltags als Pflegefamilie und ein spezielles Ritual von Sura während der Eingewöhnungsphase.
Herr und Frau Kleesattel, wie wurden Sie zur Pflegefamilie von Sura?
Jasmin Kleesattel: Weder bei Sura noch den anderen Pflegekindern, die wir vor ihr bei uns hatten, haben wir uns vorgängig irgendwo eingetragen oder uns aktiv um ein Pflegeverhältnis bemüht. Von jedem einzelnen Kind haben wir vielmehr über sieben Ecken erfahren. Wir tauschten uns bei Sura wie immer vorgängig im Familienrat aus und fragten uns, ob wir ein Pflegekind aufnehmen wollen. Als Resultat kam ein ganz bewusstes und klares Ja heraus. Dann begann das Anmelde- und Bewilligungsverfahren bei der Abteilung Pflegefamilien des Amts für Jugend und Berufsberatung.
Wie haben Sie den Prozess bis zur bewilligten Entlastungsplatzierung erlebt?
Mark Kleesattel: Der Ablauf verlief grundsätzlich schnell und unkompliziert. Die meiste Zeit nahm das Bewilligungsverfahren in Anspruch. Zuerst fand ein Gespräch mit einer Person der Abteilung Pflegefamilien statt. Auch die Kinder waren involviert. Im nächsten Schritt zeigten wir unser Haus und das Zimmer, das wir für das Pflegekind vorgesehen hatten.
Welche Erfahrungen haben Sie bei der Zusammenarbeit mit den Behörden gemacht?
JK: Die Zusammenarbeit verlief wohlwollend und zielorientiert. Was wir hinsichtlich des neuen Kinder- und Jugendheimgesetzes schade finden, ist, dass es gesetzlich strenge Vorgaben betreffend des benötigten Abschlusses und des Arbeitspensums gibt, um eine Fachpflegefamilie* zu werden.
MK: Wir verlassen uns bei unseren Pflegekindern insbesondere auf unsere intrinsischen Kompetenzen. Titel und Theorie spielen dabei keine Rolle, da wir aus dem Herz und dem Gefühl heraus handeln, obschon meine Frau durch ihre Arbeit als Sozialpädagogin das fachliche Know-how in den Alltag einfliessen lässt.
Die Zusammenarbeit mit den Behörden verlief wohlwollend und zielorientiert.
Jasmin Kleesattel
Wie eng und entscheidend ist der Kontakt mit den Herkunftseltern?
JK: Mit der Mutter von Sura stehen wir in sehr intensivem Austausch. Das erachten wir als sehr wichtig. Es ist für ein Pflegekind bedeutsam, dass durch das Pflegeverhältnis nicht ein Entweder-oder zwischen Herkunfts- und Pflegeeltern entsteht. Beide Eltern und das Pflegekind müssen miteinander kommunizieren, damit alle gemeinsam in dieselbe Richtung schreiten können.
Welche Erinnerungen haben Sie von der ersten Begegnung mit Sura?
JK: Ich besuchte die Familie zusammen mit Ella. Sura war schon damals eine sehr offene Person. Sie hat uns sofort die Wohnung und ihr Zimmer gezeigt. Wir haben uns sehr schnell gut verstanden. Auch mit der Mutter hat sich schnell eine Beziehungsgrundlage entwickelt. Bei der anschliessenden Eingewöhnung kam Sura zu uns nach Hause, wo sie Mark und Tim kennenlernte. Für mich war es wichtig, Suras Elternhaus zu besuchen und das Mädchen in seiner gewohnten Umgebung zu erleben. So konnte ich die Familienstruktur besser verstehen.
Wie haben Ihre Kinder auf Sura reagiert und wie fügte sich Sura in Ihre Familie ein?
JK: Ella und Tim waren sich die Situation bereits gewohnt. Sie reagierten ihr gegenüber sehr offen. Am Anfang war Sura ein spezielles Ritual wichtig: Hin und wieder wünschte sie sich etwas Zeit, während der sie für uns unsichtbar war.
MK: Wir haben ihr diese Zeit gerne gegeben und ihr Bedürfnis mitgetragen – auch unsere Kinder. Mit diesem Ritual konnte Sura eine Beobachterrolle einnehmen und schauen, wie die Stimmung bei uns ist und was gerade läuft. Anfangs dauerte dieses Unsichtbarsein eine halbe Stunde, dann eine Viertelstunde. Mittlerweile ist dieses Ritual kein Thema mehr.
Was sind die Herausforderungen für Sie als Pflegeeltern?
JK: Schwierig ist manchmal, gleichzeitig allen Bedürfnissen und Ansprüchen der drei Kinder gerecht zu werden. Zudem erfordern ab und zu Streit- und Eifersucht-Szenen unsere Aufmerksamkeit. Ganz wichtig ist dann, dass wir mit Ella, Tim und Sura einen gemeinsamen Weg finden, der für alle gleichermassen stimmt.
Bei der Entlastungsplatzierung können die Herkunftseltern den Weg ihres Kindes mitgehen.
Mark Kleesattel
Mit welcher Herausforderung müssen Ella und Tim lernen umzugehen?
MK: Unsere Kinder sind sehr offen gegenüber anderen Familienstrukturen und mögen es, wenn viele Personen bei uns zuhause sind. Trotzdem gibt es Situation, bei denen Jasmin oder ich schlichten müssen. Mami, Papi und die Spielsachen zu teilen, ist nicht immer einfach.
JK: Ella und Tim sehen aber durchaus auch die Vorteile eines dritten Kindes. Wenn Sura zum Beispiel eine spannende Idee für ein Spiel einbringt, die sie selber nicht gehabt hätten. Obwohl es manchmal Unstimmigkeiten gibt, verstehen sich die drei als Team. Problematisch ist nicht der Streit, sondern die Situation, wenn der Konflikt nicht gelöst werden kann.
Wo sehen Sie die Vorteile einer Entlastungsplatzierung?
MK: Ein wichtiger Vorteil der Entlastungsplatzierung entsteht für das Gesamtsystem Herkunftseltern-Pflegeeltern-Kinder. Bei einer Dauerplatzierung macht das Pflegekind einen Weg in seinem Leben mit den Pflegeeltern. Die Herkunftseltern sind grösstenteils ausgeschlossen. Bei der Entlastungsplatzierung können die Herkunftseltern diesen Weg mit ihrem Kind mitgehen.
JK: Ein weiterer Vorteil sehe ich für das Pflegekind. Sura hat die Möglichkeit, bei uns regelmässig eine Auszeit in Anspruch zu nehmen, wächst aber trotzdem bei der Herkunftsfamilie auf. Das ist der grosse Unterschied zwischen Dauer- und Entlastungsplatzierung.
Gibt es Nachteile, die mit einer Entlastungsplatzierung einhergehen?
JK: Eine Entlastungsplatzierung erfordert viel mehr Organisation und Kommunikation. Konkret planen wir immer von Ferien zu Ferien, also ungefähr zwei Monate im Voraus. Falls die Pflegeeltern kurzfristig Entlastung brauchen, kommen manchmal auch spontane Wochenenden oder Tage hinzu.
MK: Der Mehraufwand an Organisation und Kommunikation fällt zum Beispiel dann ins Gewicht, wenn wir Freizeit- oder Ferienpläne schmieden. Dann müssen wir vorher die Herkunftseltern darüber informieren, damit sie Bescheid wissen und Sura die passenden Kleider mitnimmt. Doch trotz des Mehraufwands: Sura bei uns zu haben, ist eine absolute Bereicherung für uns alle.
* Für die Anerkennung als Fachpflegefamilie muss der hauptsächlich betreuende Pflegeelternteil gemäss der Kinder- und Jugendheimverordnung (KJV) über einen speziellen Abschluss verfügen (z. B. Sozialpädagoge HF, Soziale Arbeit) und darf nebenbei höchstens 20 Prozent arbeiten.
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