«Gsehsch heiss us …»

Sexuelle Belästigung unter Jugendlichen – wie können Eltern ihre Kinder stärken?

Kontakt suchen, Nähe auspro­bie­ren – das gehört zur Jugend dazu. Zahlen des Kantons Zürich zeigen aber, dass Verlet­zun­gen der sexu­el­len Inte­gri­tät unter Jugend­li­chen zuge­nom­men haben. Sei es in der Schule, auf Social Media, aber auch in jugend­li­chen Paar­be­zie­hun­gen. Sexu­al­päd­ago­gin Katja Hoch­stras­ser gibt konkrete Ideen, wie Eltern ihre Kinder stärken können.

Jugend­li­che testen Grenzen aus, auch rund um die Sexua­li­tät. Nicht jedes jugend­li­che Verhal­ten müsse dabei grund­sätz­lich verteu­felt werden, meint Katja Hoch­stras­ser, Fach­frau bei der Fach­stelle SpiZ Sexu­al­päd­ago­gik Zürich. Denn es gehe in diesem Alter um ein Auspro­bie­ren und die Frage «Wie weit kann ich gehen?». Dabei gilt aber: Sobald sich eine Annä­he­rung nicht für alle Betei­lig­ten gut anfühlt, über­schrei­tet die handelnde Person eine Linie und muss aufhö­ren. «Grau­be­reich» gibt es nicht. Ansons­ten verletzt sie die Inte­gri­tät ihres Gegen­übers und macht sich unter Umstän­den straf­bar.

Diese Grenzen zu spüren, bei sich selber und bei anderen, braucht aber Übung – sie anderen dann auch noch deut­lich zu machen, ebenso. Denn werden Grenzen über­schrit­ten, machen Schreck und Über­for­de­rung oft starr oder sprach­los. Durch die inten­sive Nutzung der sozia­len Medien würden Jugend­li­chen aller­dings zuneh­mend Lern­erfah­run­gen mit Nähe und Distanz fehlen, so die Sexu­al­päd­ago­gin.

Eltern stärken ihre Kinder, wenn sie ihre Wahr­neh­mung für Nähe und Distanz früh schär­fen. Darüber hinaus können sie mit ihnen Verhal­tens­wei­sen für den Notfall üben. In Bedräng­nis fällt es ihnen so besten­falls leich­ter, zu handeln. Dazu gehören: Grenzen markie­ren, Situa­tion verlas­sen, Hilfe holen.

Die Sexu­al­päd­ago­gin gibt Ideen für fünf Situa­tio­nen. Als Beispiele für mögli­che Reak­tio­nen zum Bespre­chen für Eltern und Jugend­li­che.


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«Boa, chica!» – «Gsehsch heiss us …» – «pfeifpfeif»
Mika wird in der Schule ange­macht.

Was sagen: Am besten nichts. Igno­rie­ren. Ist Mika sehr selbst­be­wusst und kann solche Sprüche gut hand­ha­ben, kann sie kontern und die Grenze markie­ren. Dann aber nicht weiter auf die Provo­ka­tion einlas­sen. Denn das wird genau gesucht und gibt Nährboden.
Was tun: Weiter­lau­fen oder weglau­fen. Sich inner­lich stärken und selbst gut zureden: «Es war ein dummer Spruch. Die andere Person sucht Aufmerk­sam­keit, probiert aus, was funk­tio­niert. Darauf will ich mich nicht einlassen.»
Was vermei­den: Konfron­ta­tion und Grund­satz­dis­kus­sio­nen. Die anderen über­le­gen in der Regel nicht so viel, probie­ren nur aus, was funk­tio­niert. Werden die Sprüche nicht beach­tet, hört das Verhal­ten in der Regel auf.
Wie weiter: Nehmen die Provo­ka­tio­nen nicht ab, laut sagen: «Ihr beläs­tigt mich, das geht nicht. Ich fühle mich nicht wohl.» Dann bei einer erwach­se­nen Person melden. Bei der Lehr­per­son, den Eltern, der Schul­so­zi­al­ar­beit. Diese sind verpflich­tet, zu handeln. Vielen Jugend­li­chen hilft es, wenn sie sich zuvor an Freunde oder Kolle­gin­nen wenden und vereint aktiv werden.

Was ist sexu­elle Beläs­ti­gung?

Eine sexu­elle Beläs­ti­gung liegt grund­sätz­lich vor, wenn eine Person gegen ihren Willen mit einem Verhal­ten konfron­tiert wird, das einen sexu­el­len Bezug aufweist.

Zum Beispiel:

  • obszöne Bemer­kun­gen (sexis­ti­sche Witze, anzüg­li­che Sprüche, beläs­ti­gende Tele­fo­nate etc.)
  • herab­wür­di­gende Blicke und Gesten
  • uner­wünschte Körper­kon­takte (schein­bar zufäl­lige Berüh­run­gen, Begrap­schen etc.)
  • porno­gra­fi­sches Mate­rial vorzei­gen (obszöne Bilder aufhän­gen, Pornos auf Handys, per E-Mail etc.)
  • uner­wünschte Einla­dun­gen mit eindeu­ti­ger Absicht
  • Verspre­chen von Vortei­len, um eine sexu­elle Hand­lung zu erzwin­gen

Sexu­elle Beläs­ti­gung ist nach Art. 198 StGB straf­bar.

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Hand auf Bein
Mattea fühlt in der Schule eine Hand auf ihrem Bein unter dem Pult.

Was sagen: Wenn reden möglich ist, laut: «Hör auf, mich zu betatschen!»
Was tun: Sofort aufste­hen, am besten den Tisch wegschie­ben und den Platz wech­seln. Das ist eine fiese, subtile, aber massive sexu­elle Beläs­ti­gung! Gerade der innere Ober­schen­kel ist eine sehr intime Körper­stelle. Ausser­dem ist die Hand vom Ober­schen­kel schnell zwischen den Beinen. Viele erstar­ren in einer solchen Situa­tion. Schnell zu reagie­ren ist aber wichtig. Ist reden nicht möglich: Nur aufste­hen, Tisch wegschie­ben, Platz wechseln.
Wie weiter: Die Lehr­per­son laut über den Grund des Platz­wech­sels infor­mie­ren. Aufmerk­sam­keit von aussen ist jetzt wichtig. Vermut­lich wird sich das Gegen­über wehren: «Was, ich hab gar nichts gemacht!» Davon nicht irri­tie­ren lassen. Ein so massi­ver Über­griff muss nicht disku­tiert werden. Stark bleiben: «Ich weiss, was ich gespürt habe. Ich will nicht mehr neben dir sitzen. Mach das nicht mehr.» Dann auf keine weite­ren Diskus­sio­nen einlas­sen. Die Lehr­per­son muss hier unter­stüt­zen. Nimmt sie den Vorfall nicht ernst, zur Schul­so­zi­al­ar­beit gehen. Wenn möglich zu Hause den Vorfall erzäh­len.

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Uner­wünschte Nach­rich­ten im Chat
Sascha erhält von einem Klas­sen­ka­me­ra­den Nach­rich­ten mit obszö­nem Text und uner­wünsch­ten Bildern.

Was tun: Sofort schrei­ben: «Schick mir diese Nach­rich­ten nicht mehr. Ich will das nicht von dir erhal­ten.» Je nachdem einen Screen­shot erstel­len. Danach Bilder sofort löschen! Überall, auch in der Cloud. Vielen ist nicht bewusst, dass sie sich beson­ders bei Nackt­bil­dern schnell im straf­recht­li­chen Raum bewegen. Sind es Bilder von anderen, etwa Nudes einer Kolle­gin, diese sofort infor­mie­ren: «Deine Bilder werden herum­ge­schickt» und «Nudes unter 18 Jahren können straf­recht­lich verfolgt werden».
Was vermei­den:
Keines­falls weiter­lei­ten! Man wird dadurch zur Mittä­te­rin oder zum Mittä­ter. Wird etwa auch noch nach eigenen Nackt­bil­dern gefragt: Nicht auf die Forde­rung einlas­sen! Allge­mein: Am besten nie Nackt­bil­der von sich selbst erstel­len. Auf gar keinen Fall bei Erpres­sung oder Drohung.
Wie weiter: Wenn die Nach­rich­ten nicht ausblei­ben: Bilder einer erwach­se­nen Bezugs­per­son zeigen. Diese sollen die Schule oder die betrof­fe­nen Eltern kontaktieren.
Spezi­al­fall Nackt­bil­der: In Chats verhal­ten sich viele Jugend­li­che leicht­sin­nig. Doch die Bestim­mun­gen im Straf­ge­setz besagen: Wer Nackt­bil­der von unter 16-Jähri­gen (eigene oder fremde) herstellt, spei­chert, austauscht etc., macht sich straf­bar. Das ist Kinder­por­no­gra­fie (Art. 197 StGB i. V. m. Art. 1 Abs. 2 Jugend­straf­ge­setz). Auch Nackt­bil­der von 16- bis 18-Jähri­gen ohne ausdrück­li­ches Einver­ständ­nis sind straf­bar. Vielen ist das aber nicht bewusst.
Tipp für Eltern: Rund um das Verhal­ten in Chats und beson­ders beim Thema Nackt­bil­der dürfen sich Eltern mehr invol­vie­ren. Das heisst: Präsenz zeigen und Gesprä­che führen. Wie kommu­ni­ziere ich in Chats? Was geht und was geht nicht? Weitere Tipps für Eltern zu den Themen Beläs­ti­gung, Sexting und Sextor­tion bieten zum Beispiel die Schwei­ze­ri­sche Krimi­nal­prä­ven­tion, Pro Juven­tute oder Jugend und Medien

Fünf wich­tige Botschaf­ten

  1. «Grau­be­reich» gibt es nicht. Sobald sich eine Annä­he­rung nicht gut anfühlt, muss die andere Person aufhö­ren. Ansons­ten verletzt sie die Inte­gri­tät ihres Gegen­übers und macht sich straf­bar.
  2. Eltern können mit Jugend­li­chen üben, Grenzen aufzu­zei­gen. Das kann in Bedräng­nis helfen. Zum Beispiel laut «Hey!», «Stopp!» oder ein anderes geläu­fi­ges Wort rufen.
  3. Aus einer Situa­tion wegzu­lau­fen ist völlig okay. Erst später zu reagie­ren ebenso, denn in der Situa­tion selbst können Schock und Über­for­de­rung oft gross und lähmend sein. Auch der Austausch mit Freun­din­nen oder Freun­den kann helfen, bevor (allen­falls gemein­sam) gehan­delt wird.
  4. Gewalt hilft selten. Bei massi­ver Bedro­hung aber unbe­dingt wehren!
  5. Jugend­li­che haben sexu­elle Rechte. Diese sind von der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion WHO fest­ge­hal­ten.

4

Zu nahe im Ausgang
Sammy lernt im Ausgang Jonah kennen. Erst reden sie, dann kommt Jonah immer näher. Sammy fühlt sich nicht mehr wohl.

Was sagen: «Hey! Stopp. Es ist nett mit dir zu reden, aber nicht mehr.»
Was tun: Eigent­lich müsste Jonah fragen: «Du gefällst mir, darf ich dir näher­kom­men?» Tut er das nicht: Schritt zurück machen. Distanz schaf­fen. Dabei darf Sammy freund­lich bleiben, aber auch die Hände hoch­neh­men, um die Grenzen physisch klar aufzu­zei­gen.
Wie weiter:
Werden die Grenzen klar markiert, hören Annä­he­rungs­ver­su­che in der Regel auf. Wenn nicht, sofort aus der Situa­tion gehen, zu Freun­den oder anderen Leuten in der Nähe. Je nachdem melden: Einem Türste­her, dem Umfeld.
Tipp für Eltern: Solche Situa­tio­nen sind für Jugend­li­che wichtig und lehr­reich. Wie weit möchte ich gehen? Wie merke ich, wie sich mein Gegen­über fühlt? Wie teile ich mit, wenn es mir zu weit geht? Diese Kompe­ten­zen sind zentral. Allge­mein für den Ausgang, aber auch für alle Arten von Bezie­hun­gen. Es ist wichtig, das mit Jugend­li­chen zu thema­ti­sie­ren.

5

Zu nahe in der Beziehung
Bea hat neu einen Freund. Wenn sie alleine sind, möchte er immer ein biss­chen mehr Inti­mi­tät als sie.

Was sagen: Eigent­lich müsste Beas Freund fragen: «Gefällt dir das, darf ich noch weiter­ma­chen?» Tut er das nicht, kann Bea sagen: «Ich möchte nur küssen, mehr nicht. Ich möchte nicht, dass deine Hand unter meinen Pulli geht.» Reagiert Beas Freund nicht, laut wach­rüt­teln: «Hey, stopp, ich möchte wirk­lich nicht weiter­ge­hen.» Viel­leicht auch wegstos­sen, grober werden.
Was tun: Viele Mädchen blockie­ren in dieser Situa­tion oder bleiben stumm. Handeln ist aber wichtig. Fehlen die Worte: Klar wegstossen.
Wie weiter: Bea soll es später anspre­chen: «Letztes Mal habe ich mich nicht wohl gefühlt, es ging mir zu weit. Ich mag dich. Aber beim nächs­ten Mal möchte ich nur küssen und Händ­chen halten.» Möglich ist auch, für ein nächs­tes Mal im Voraus ein Code­wort oder Zeichen abzumachen.
Tipp für Eltern: Über Wünsche, Bedürf­nisse und Sexua­li­tät muss geredet werden. Aber unbe­dingt solange die Kleider noch an sind. In der Erre­gung wird es schwie­rig. Das können Eltern mit Jugend­li­chen thema­ti­sie­ren. Hilf­reich ist, wenn sich Eltern ins Thema Konsens einle­sen.

Katja Hochstrasser ist Fachfrau für sexuelle und reproduktive Gesundheit SGCH und Sexualpädagogin bei SpiZ Sexualpädagogik Zürich.

Katja Hoch­stras­ser

Katja Hochstrasser ist Fachfrau für sexuelle und reproduktive Gesundheit SGCH und Sexualpädagogin bei SpiZ Sexualpädagogik Zürich. Sie ist Mitglied in der Eidgenössischen Kommission für Fragen zu sexuell übertragbaren Infektionen (EKSI) und coacht auch Eltern zu Themen wie sexuelle Gesundheit und Herausforderungen während der Pubertät.

Neuste Befra­gun­gen zeigen, dass die Erfah­run­gen mit sexu­el­ler Gewalt bei Jugend­li­chen im Kanton Zürich in den letzten Jahren zuge­nom­men haben. Sowohl bei Mädchen als auch Jungen sowie in allen Berei­chen. Etwa bei Erfah­run­gen mit sexu­el­ler Nöti­gung, sexu­el­ler Beläs­ti­gung im schu­li­schen Kontext, sexu­el­ler Beläs­ti­gung im Netz, aber auch mit sexu­el­ler Gewalt in jugend­li­chen Paar­be­zie­hun­gen. Das heisst in jungen Paar­be­zie­hun­gen zum Beispiel konkret: Mehr junge Frauen gaben an, in ihren Bezie­hun­gen zum Berüh­ren von intimen Stellen, zum Schi­cken von Nackt- oder anderen sexu­el­len Aufnah­men oder gar zum Geschlechts­ver­kehr gedrängt worden zu sein, obwohl klar war, dass sie das nicht wollten.

Mehr zur Studie Jugend­ge­walt im Kanton Zürich

Fach- und Bera­tungs­stel­len rund um sexu­elle Gewalt in Zürich

  • Casta­gna
    Beratungs- und Infor­ma­ti­ons­stelle für sexuell ausge­beu­tete Kinder, Jugend­li­che und in der Kind­heit ausge­beu­tete Frauen und Männer
  • 147.ch
    Beratung für Kinder und Jugend­li­che, vertrau­lich, kosten­los und rund um die Uhr

Eine Auswahl empfoh­len vom Amt für Jugend und Berufs­be­ra­tung (AJB) Zürich