Das sagt der kjz-Experte

Jugendliche erfahren mehr sexuelle Gewalt – wie sollen Eltern das Thema angehen?

Neuste Befra­gun­gen zeigen, dass die Erfah­run­gen mit sexu­el­ler Gewalt bei Jugend­li­chen im Kanton Zürich in den letzten Jahren zuge­nom­men haben. Sowohl bei Mädchen wie auch Jungen. Erzie­hungs­be­ra­ter Claude Ramme spricht darüber, wie Eltern die anspruchs­volle Thema­tik mit Kindern angehen können.

Alle sieben Jahre werden Jugend­li­che im Kanton Zürich zu ihren Gewalt­er­fah­run­gen befragt, darun­ter auch zu sexu­el­ler Gewalt. Die Ergeb­nisse der Befra­gung von 2021 zeigen, dass sexu­elle Gewalt, insbe­son­dere gegen junge Frauen, in den vergan­ge­nen Jahren zuge­nom­men hat. Und zwar in allen Berei­chen – etwa bei Erfah­run­gen mit sexu­el­ler Nöti­gung, sexu­el­ler Beläs­ti­gung im schu­li­schen Kontext, sexu­el­ler Beläs­ti­gung im Netz, aber auch mit sexu­el­ler Gewalt in jugend­li­chen Paar­be­zie­hun­gen.

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In jungen Paar­be­zie­hun­gen zum Beispiel heisst das konkret: Mehr junge Frauen gaben an, in ihren Bezie­hun­gen zum Berüh­ren von intimen Stellen, zum Schi­cken von Nackt- oder anderen sexu­el­len Aufnah­men oder gar zum Geschlechts­ver­kehr gedrängt worden zu sein, obwohl klar war, dass sie das nicht wollten. Das Forschungs­team geht dabei von einer tatsäch­li­chen Zunahme aus und schliesst etwa einen #Me-Too-Effekt aus.

Diese Zahlen beun­ru­hi­gen. Wie können Eltern ihre Kinder best­mög­lich stärken und gegen sexu­elle Gewalt wappnen? Erzie­hungs­be­ra­ter Claude Ramme im Gespräch.

Sexu­elle Gewalt ist kein leich­tes Thema. Wie können Eltern das mit ihren Kindern angehen?
Grund­sätz­lich geht es darum, dass der Körper eines Kindes dem Kind gehört, und nieman­dem sonst, und dass Nein­sa­gen erlaubt ist. Das können Eltern schon sehr früh thema­ti­sie­ren. Dieser Präven­ti­ons­ge­danke zielt darauf ab, ein Kind über seinen Körper und seine Inte­gri­tät aufzu­klä­ren, damit es mit ihm vertraut ist und dadurch ein Selbst­ver­ständ­nis dafür entwi­ckelt. Dabei sind auch die Aspekte Nähe und Distanz wichtig: Kinder haben eine natür­li­che Scham­grenze. Die gilt es einzu­hal­ten. Wenn Kinder nicht wollen, dass sie jemand berührt oder umarmt, dürfen sie das sagen. Als Eltern wiederum müssen wir das ernst nehmen, dürfen es nicht verharm­lo­sen oder gar bela­chen.

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Sie spre­chen Umar­mun­gen oder Berüh­run­gen an, die gegen­über Kindern oft als selbst­ver­ständ­lich gelten.
Ja genau. Viele von uns kennen das, dieses Berüh­ren, manch­mal sogar Betat­schen durch Verwandte, Bekannte und Halb­fremde. Das geht nicht, das ist über­grif­fig. Und Kinder empfin­den das auch so, die meisten mögen es nicht. Das müssen sie sagen dürfen, mindes­tens den eigenen Eltern. Und sie müssen sich darauf verlas­sen können, dass die Eltern sie unter­stüt­zen oder gar davor bewah­ren, indem sie es den Erwach­se­nen früh­zei­tig signa­li­sie­ren oder gar proak­tiv anspre­chen. Beur­tei­len Eltern das als normal oder lassen es zu auf Kosten der Inte­gri­tät des Kindes, wird das Kind später nicht wissen, ob es das ertra­gen muss, weil das halt einfach dazu­ge­hört. Im Umkehr­schluss heisst dies auch, dass Kinder, die Nein sagen, egal bei welchem Thema, nicht grund­sätz­lich verdammt, sondern viel­mehr darin gestärkt werden.

Ab welchem Alter empfeh­len Sie, mit Kindern über sexu­elle Gewalt zu reden, ohne dass es über­for­dert?
Sexuelle Gewalt als Tat ist in jedem Alter über­for­dernd. Wenn der Begriff «sexu­elle Gewalt» gebraucht wird, dann braucht es ein grund­le­gen­des Verständ­nis von Gewalt und Sexua­li­tät. Das hängt vom Sprach­ver­mö­gen und der Reife des Kindes ab. Es gibt einige sehr gute Kinder­bü­cher zu dem Thema. Eines davon ist Mein Körper gehört mir von pro familia und ist für Kinder ab fünf Jahren. Vorher ist es schwie­rig, da Kinder erst langsam ein Verständ­nis für sich und ihren Körper aufbauen. Im Buch selbst wird nicht über sexu­elle Gewalt gespro­chen, sondern über die selbst­be­wusste Einstel­lung des Kindes zu sich und seinem Körper.

Zahlen zeigen, dass auch die sexu­elle Gewalt in jungen Paar­be­zie­hun­gen zuge­nom­men hat. Was können Eltern präven­tiv tun?
Teenager, insbe­son­dere Mädchen und junge Frauen, stehen nicht selten unter Druck, durch Kolle­gin­nen, Kolle­gen, Freunde. Es wäre wichtig, dass sie sich von diesem Druck abgren­zen können. Das geht aber nur, wenn das Selbst­ver­trauen gross genug ist. Daran kann schon früh gear­bei­tet werden. Ausser­dem ist wichtig: Vertrauen, zuhören und Jugend­li­che als gleich­wer­tige Menschen anneh­men. Dazu gehört auch, für ihre Nöte Verständ­nis zu zeigen und diese nicht auf die leichte Schul­ter zu nehmen. Respekt ist keine Einbahn­strasse. Eltern sollten ihre Kinder genauso respek­tie­ren wie Kinder ihre Eltern. Über poten­zi­elle Gefah­ren kann auch offen gespro­chen werden; darüber, dass wir als Eltern uns Sorgen machen, wenn das Kind alleine raus­geht. Offen­heit der Eltern bringt mehr als ein schlich­tes Verbot.

Wie soll man als Eltern vorge­hen, wenn das Kind von einem Über­griff erzählt?
Wenn Eltern einen Verdacht haben, können sie versu­chen nach­zu­fra­gen. Fragen bergen jedoch immer die Gefahr einer Wertung. Auch können sie schnell sugges­tiv werden. Wenn ein Miss­brauch im Raum steht, braucht es Objek­ti­vi­tät – das gelingt Eltern kaum je, sie sind viel zu nah dran. Grund­sätz­lich empfehle ich deshalb, sich unver­züg­lich an externe Fach­leute zu wenden. Casta­gna zum Beispiel. In dieser Situa­tion ist es wichtig, dass Eltern nicht aus Über­for­de­rung falsch reagie­ren. Wenn Eltern die Schil­de­run­gen ernst nehmen und dem Kind Sicher­heit vermit­teln, ist die erste Hürde aber genom­men.

Was tun, wenn ein Kind von sexu­el­ler Gewalt erzählt

  • Wenden Sie sich umge­hend an eine Fach­stelle.
  • Nehmen Sie das Kind ernst und vermit­teln Sie Sicher­heit.

Sexu­elle Gewalt findet heute gemäss Studie vermehrt im öffent­li­chen Raum, aber auch im schu­li­schen Kontext statt. Welche Abma­chun­gen zwischen Eltern und Jugend­li­chen sind sinn­voll, um sie mit gutem Gefühl alleine loszie­hen zu lassen?
Ich habe viel Verständ­nis für Eltern, die ihre Kinder nicht loszie­hen lassen wollen. Wir sind alle in stän­di­ger Sorge um unsere Kinder, wollen, dass sie nicht verletzt werden – erst recht nicht, wenn es um sexu­elle Verlet­zun­gen geht. Und die Welt ist unüber­sicht­lich gewor­den, in meinem Empfin­den. Umge­kehrt können sie nicht lernen, sich in der Frei­zeit zu bewegen, wenn sie einge­sperrt werden. Es ist also eine Grat­wan­de­rung. Diese beinhal­tet die von Ihnen ange­spro­che­nen Abma­chun­gen. Schön ist, wenn wir wissen, mit wem sie loszie­hen. Und viel­leicht sind sie auch bereit, sich ab und zu via Messen­ger-Dienst nach dem Befin­den fragen zu lassen. Auch Verbind­lich­keit ist wichtig, und auch diese bauen wir für gewöhn­lich früh ein in unsere Erzie­hung. Ich würde einfach aufpas­sen, dass es nicht zu viele Abma­chun­gen sind. All das klappt nur, wenn wir uns als Bezugs­per­so­nen so unauf­ge­regt wie möglich zur Verfü­gung stellen. Und ich würde das Kind so gut wie möglich mitein­be­zie­hen.

Claude Ramme hat Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich studiert.

Claude Ramme

Claude Ramme hat Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaft studiert und eine psychoanalytisch orientierte Psychotherapie-Ausbildung am Freud-Institut Zürich absolviert. Als Sozialpädagoge arbeitete er in verschiedenen Institutionen sowie als Psychotherapeut in der ipw BSJ, der Beratungsstelle für Jugendliche und junge Erwachsene in Winterthur und Glattbrugg. Seit 2021 ist er als Erziehungsberater im kjz Dielsdorf tätig.


Fach- und Bera­tungs­stel­len rund um sexu­elle Gewalt in Zürich

  • Casta­gna
    Beratungs- und Infor­ma­ti­ons­stelle für sexuell ausge­beu­tete Kinder, Jugend­li­che und in der Kind­heit ausge­beu­tete Frauen und Männer
  • 147.ch
    Beratung für Kinder und Jugend­li­che, vertrau­lich, kosten­los und rund um die Uhr

Eine Auswahl empfoh­len vom Amt für Jugend und Berufs­be­ra­tung (AJB) Zürich

Weitere Infor­ma­tio­nen

  • feel-ok.ch
    Umfangreiche Infor­ma­tio­nen rund um sexu­elle Gewalt und andere Themen für Jugend­li­che
  • lilli.ch
    Umfassendes Online-Angebot rund um Gewalt­prä­ven­tion und sexu­elle Gesund­heit für Jugend­li­che und junge Erwach­sene mit dem Ziel der Gewalt­prä­ven­tion und der Förde­rung sexu­el­ler Gesund­heit
  • Wann ist nah zu nah?
    Flyer mit Anre­gun­gen für Eltern und Erzie­hungs­be­rech­tigte zum Schutz ihrer Kinder von Limita Zürich
  • Sieben wich­tige Botschaf­ten für den Erzie­hungs­all­tag
    Anregungen von Limita Zürich, die helfen können, Kinder allge­mein zu stärken und besser vor sexu­el­ler Ausbeu­tung zu schüt­zen.

Kampa­gnen gegen Sexis­mus und sexu­elle Gewalt

  • Zürich schaut hin
    Kampagne für ein Zürich ohne Beläs­ti­gung und Über­griffe
  • Kein Platz für Sexis­mus
    Überregionale Kampa­gne u. a. der Kantone Appen­zell Ausser­rho­den und St. Gallen, die die Alltäg­lich­keit und Viel­falt sexu­el­ler Beläs­ti­gung sicht­bar machen und öffent­lich reflek­tie­ren will.
  • zukrass.ch
    Kampagne für Jugend­li­che, die körper­li­che, sexu­elle oder psychi­sche Gewalt erlebt haben, des Kantons Zürich, der Kanto­na­len Opfer­hil­fe­stelle und der Opfer­hilfe Zürich