Das sagt die kjz-Expertin

Mein Kind und seine sexuelle Identität – wie Eltern unterstützen können

Hetero, homo, trans und queer – die Begriffe rund um die sexu­elle Iden­ti­tät sind in aller Munde. Aber wie ist das bei den eigenen Kindern, wie entwi­ckeln sie diese Iden­ti­tät? Und wie können Eltern sie dabei unter­stüt­zen? Antwor­ten von kjz-Exper­tin Katha­rina Beerli.

Katha­rina Beerli, zunächst grund­sätz­lich – was versteht man unter der sexu­el­len Iden­ti­tät?
Bei der sexu­el­len Iden­ti­tät geht es um Fragen wie: Wer bin ich als sexu­el­ler Mensch? Was mag ich, was mag ich nicht? Was oder wer löst in mir sexu­elle Gefühle aus und inwie­weit macht mich das einzig­ar­tig? Die Antwor­ten auf diese Fragen folgen nicht einer klaren Unter­tei­lung in zwei Geschlech­ter, sie können äusserst viel­fäl­tig ausfal­len.

Als Eltern mag das viel­leicht etwas befrem­den, sich mit Fragen rund um die Sexua­li­tät seines Kindes zu beschäf­ti­gen.
Das ist so, solche Fragen können irri­tie­ren. Meist verbin­den wir diese ja mit der Erwach­se­nen­welt. Ausser­dem gehören sie in unserer Gesell­schaft nach wie vor zu einem Tabu­thema. Die Vorstel­lung, dass das Finden der sexu­el­len Iden­ti­tät ein Prozess ist, der plötz­lich beginnt oder mit der Puber­tät einsetzt, ist aber falsch. Die Sexua­li­tät gehört von Anfang an zum Leben eines Kindes dazu. Schon Babys entde­cken ihren Körper und erleben dabei Gefühle, die span­nend oder anre­gend sind. So finden sie etwa das Herum­spie­len an ihren Geschlechts­tei­len schon früh span­nend. Später verspü­ren Kinder zum Beispiel wohlige Gefühle beim Spielen auf der Schau­kel. Eltern sind daher von Anfang an gefragt, sie auf diesem Weg zu beglei­ten, und sollten dieses Verhal­ten nicht aus Scham igno­rie­ren oder gar verbie­ten.

Das Finden der sexu­el­len Iden­ti­tät ist ein Prozess – nichts, das plötz­lich da ist oder erst mit der Puber­tät beginnt.

Wie können Eltern sie beglei­ten?
Indem wir sie darin stärken, dass das Entde­cken des Körpers etwas Natür­li­ches ist. Beob­ach­ten wir beim Wickeln, wie ein Kind an den Geschlechts­tei­len herum­spielt, können wir beispiels­weise in Worte fassen, was es gerade tut: «Ich sehe, dass es dir gefällt, wenn du dich an deinem Penis berührst.» Wenn wir diesen Gefüh­len im kind­li­chen Alltag Raum geben und vermit­teln, dass es erlaubt ist, sie zu leben und auszu­pro­bie­ren, kann die Entwick­lung beim Kind tabufrei ablau­fen.

Was bedeu­tet es für die Entwick­lung der sexu­el­len Iden­ti­tät, wenn ein Junge beispiels­weise im Prin­zes­sin­nen­kleid herum­lau­fen möchte?
Ich würde das als Eltern nicht über­in­ter­pre­tie­ren, sondern dieses Verhal­ten erst einmal als aktu­el­len Wunsch zur Kennt­nis nehmen. Wir Erwach­sene stecken in einer Welt voller Schub­la­den. Das ist aber unsere Welt, nicht jene der Kinder. Kleidet sich ein Junge gerne als Prin­zes­sin, kann das mit der sexu­el­len Iden­ti­tät zu tun haben, muss aber nicht. Wir helfen dem Kind am meisten, wenn wir es bei seinem Klei­dungs­wunsch unter­stüt­zen. Gleich­zei­tig ist es wichtig, Kinder auf Heraus­for­de­run­gen ausser­halb des geschütz­ten fami­liä­ren Rahmens vorzu­be­rei­ten. Unsere Gesell­schaft ist wertend und wird es wohl immer bleiben. Die Wahr­schein­lich­keit besteht, dass das Kind gehän­selt wird. Hier liegt es an uns, Kinder für solche Situa­tio­nen zu stärken. Haben wir das Gefühl, dass sie damit trotz unserer Unter­stüt­zung nicht klar­kom­men, müssen wir unsere Verant­wor­tung wahr­neh­men. Das kann beispiels­weise bedeu­ten, dass Prin­zes­sin­nen­klei­der nur zuhause getra­gen werden, solange das Kind unter Hänse­leien leidet.

Auch wenn die Entwick­lung der sexu­el­len Iden­ti­tät im Kindes­al­ter beginnt, gibt es Unter­schiede zur Puber­tät. Worin liegen diese?
Der Unter­schied liegt in der Ausrich­tung des Inter­es­ses. Vor der Puber­tät ist das Inter­esse vor allem auf das Kind selbst gerich­tet. Es inter­es­siert sich dafür, was in seinem eigenen Körper passiert und was sich wie anfühlt. Auch Doktor­spiele dienen primär dem Entde­cken der eigenen Gefühls- und Körper­welt. Die Puber­tät ist der Start­schuss für das Inter­esse an der Aussen­welt. Kinder merken plötz­lich, dass es da noch mehr gibt und die sexu­elle Iden­ti­tät bekommt neue Impulse. Wie bei allen Prozes­sen rund um die Iden­ti­täts­su­che geht es nun darum, die eigenen Bedürf­nisse zu erken­nen. Ein Mittel dafür ist die Suche nach Unter­schie­den zu anderen. Damit geht Abgren­zung einher – auch von den Eltern.

Was, wenn Eltern merken, dass sie sich bei aller Liebe zum Kind mit seiner sexu­el­len Iden­ti­tät schwer­tun?
Als Eltern hat man immer gewisse Erwar­tun­gen, bewusst oder unbe­wusst. Dabei ist man auch stark geprägt von Umfeld, Kultur und Erzie­hung. Entwi­ckelt sich ein Kind in eine andere Rich­tung als erwar­tet, kann das zu Turbu­len­zen oder auch Frus­tra­tio­nen führen. Das ist mensch­lich. Wir können uns die sexu­elle Iden­ti­tät aber nicht aussu­chen. Für alle Kinder ist es für eine gesunde und selbst­be­wusste Entwick­lung unglaub­lich wert­voll, wenn sie spüren, dass ihre Eltern sie so akzep­tie­ren und lieben, wie sie sind. Für Eltern ist es in dieser Situa­tion oft hilf­reich, wenn sie mit jeman­dem über ihre Gefühle reden können. Fach­stel­len bieten auch Gesprä­che für Eltern an.

Wir können uns die sexu­elle Iden­ti­tät nicht aussu­chen.

Merken Sie bei Ihrer Arbeit Verän­de­run­gen zu früher?
In meinen Bera­tun­gen habe ich das Gefühl, das Wissen der Jugend­li­chen hat zuge­nom­men. Die soge­nannte Hete­ro­nor­ma­ti­vi­tät, also die Annahme, dass alle Menschen hete­ro­se­xu­ell sind, ist nicht mehr einfach nur selbst­ver­ständ­lich, so wie sie das vor kurzem noch war. Und Jugend­li­che getrauen sich heute mehr, bereits früh zu ihrer sexu­el­len Iden­ti­tät zu stehen. Ein gestei­ger­tes Bewusst­sein in der Gesell­schaft bedeu­tet aber nicht auto­ma­tisch eine grös­sere Tole­ranz. Es liegt daher nach wie vor ein langer Weg vor uns, bis Kinder ihre sexu­elle Iden­ti­tät frei von Schub­la­den, Vorur­tei­len und Erwar­tun­gen entwi­ckeln und leben können.

Katharina Beerli hat soziale Arbeit studiert und einen Master in systemischer Therapie sowie eine Weiterbildung in Hypnosystemik abgeschlossen.

Katha­rina Beerli

Katharina Beerli hat soziale Arbeit studiert. Sie hat einen Master in systemischer Therapie sowie eine Weiterbildung in Hypnosystemik abgeschlossen. Seit 2022 bildet sie sich in Sexualtherapie weiter. Katharina Beerli arbeitet seit 2010 für das Amt für Jugend und Berufsberatung AJB, zunächst im kjz Horgen und seit 2016 im kjz Bülach in der Abteilung Sozialarbeit und Mandate.

Infor­ma­tio­nen und Fach­stel­len für Jugend­li­che

  • feel-ok.ch
    Umfangreiches Online-Portal, u. a. zu Liebe und Sexua­li­tät
  • Hey You
    Broschüre zur Sexu­al­auf­klä­rung für Jugend­li­che ab 12 Jahren, von Sexu­elle Gesund­heit Schweiz
  • Hoppel poppel aber mit Recht – Deine Gesund­heit, deine Rechte
    Informationsbroschüre zur sexu­el­len Gesund­heit für Jugend­li­che, von Sexu­elle Gesund­heit Schweiz
  • lilli.ch
    Umfangreiches Online-Portal, u. a. zu Liebe und Sexua­li­tät. Fragen einrei­chen möglich
  • Lust und Frust
    Fachstelle für Sexu­al­päd­ago­gik und Bera­tung der Stadt Zürich

Eine Auswahl empfoh­len vom Amt für Jugend und Berufs­be­ra­tung (AJB) Zürich

Weitere Infor­ma­tio­nen für Eltern