Gewalterfahrungen bei Jugendlichen haben zugenommen
Für den Kanton Zürich sind neuste Daten zu den Gewalterfahrungen von Jugendlichen in den letzten Jahren publiziert worden. Nach einer Beruhigung nach 2007 haben seit 2014 fast alle Formen von Jugendgewalt wieder zugenommen. Eine Übersicht der wichtigsten Entwicklungen.
Seit 1999 werden im Kanton Zürich alle sieben bis acht Jahre Tausende Jugendliche zu ihren Gewalterfahrungen befragt. Die wichtigsten Ergebnisse der Studie* im Überblick.
Zunahme der Gewaltdelinquenz, insbesondere bei Raub, Erpressung und Sexualdelikten
In der untersuchten Periode von 2014 bis 2021 ist die Gewaltdelinquenz von Jugendlichen kontinuierlich angestiegen. Insbesondere zeigt sich eine Zunahme von Raub und Erpressung mit Gewaltandrohung und auch bei den Opferzahlen von Sexualdelikten und sämtlichen Formen von Schulmobbing werden Höchststände verzeichnet. Die Zunahme von verschiedenen Formen von Gewalt geht zudem mit einer Zunahme der Jugenddelinquenz insgesamt einher. Die Anzahl an Gewaltopfern ist gestiegen und diese erleben zudem mehr Gewalttaten.
Kein #MeToo-Effekt
Bei der sexuellen Gewalt weisen gemäss Studienbericht «sämtliche verfügbaren Opferindikatoren auf ein bisher in diesem Umfang nie beobachtetes Niveau hin». Dabei erleben die jungen Frauen im Schnitt deutlich mehr Übergriffe. Da gleichzeitig die Anzeigerate tendenziell zurückging, lässt sich die Zunahme nicht mit einer erhöhten Sensibilisierung im Sinne eines #MeToo-Effektes erklären. Auch frauenfeindliche Einstellungen scheinen nicht die Ursache zu sein: Gemäss eigenen Angaben sind die Jugendlichen 2021 egalitaristischer und weniger «machistisch» eingestellt als in der letzten Befragung vor sieben Jahren. Gleichzeitig ist der Pornokonsum von männlichen Jugendlichen massiv gestiegen. Bei den 11. Klässlern sind rund zwei Drittel der jungen Männer Pornokonsumenten.
Anonyme Gewalt im öffentlichen Raum
Ein grosser Anteil von Gewaltdelikten findet im öffentlichen Raum statt, der Gewaltanstieg betrifft somit in erster Linie den öffentlichen Raum. Zugenommen haben dabei Delikte, die in Gruppen ausgeübt werden, wie beispielsweise Konflikte zwischen Gangs oder Fangruppen, sowie rassistisch motivierte Gewalt. Zudem ist die Gewalt anonymer und unpersönlicher geworden, die Tatmotive sind oft zufälliger Art und die Opfer oftmals Zufallsopfer.
Jugendliche fühlen sich weniger sicher
Die subjektiv wahrgenommene Bedrohung durch Gewalt hat seit der letzten Jugendbefragung zugenommen. Am deutlichsten ist dabei das Bedrohungsgefühl im öffentlichen Raum. Die Jugendlichen fühlen sich somit deutlich weniger sicher als vor zehn Jahren. Besorgniserregend sind schliesslich der langfristige Anstieg der Frühdelinquenz, d. h. das delinquente Verhalten von unter 13-Jährigen, sowie die gesunkene Zufriedenheit in der Schule.
Ein Grossteil der Delikte wird von 4 bis 6 Prozent eines Jahrgangs verübt
Eine eindeutige Erklärung für die gestiegene Gewalt können die Forschenden nicht geben. Die Befunde der Studie weisen jedoch darauf hin, dass nicht etwa eine generell stärkere Risikobelastung der jugendlichen Bevölkerung zur erhöhten Gewalt führt, sondern eine höhere «Risikoreaktivität» der am meisten belasteten Gruppe. Eine kleine Gruppe stark risikoexponierter Jugendlicher scheint eine besonders ausgeprägte Gewaltbereitschaft aufzuweisen und die Schlussfolgerung liegt gemäss den Studienautoren und -autorinnen nahe, dass diese Gruppe seit der letzten Befragung gewachsen ist. Somit sind ein wenig mehr Täter und Täterinnen zu verzeichnen als 2014 und diese sind tätlicher als vor sieben Jahren.
Dieser Befund wird auch durch die Daten der Kriminalstatistik bestätigt, die aufzeigen, dass ein relativ kleiner Teil von Jugendlichen für einen Grossteil der Gewaltdelikte verantwortlich ist: 40 bis 60 Prozent der registrierten Delikte werden von rund 4 bis 6 Prozent der Jugendlichen eines Jahrganges verübt. Die neuesten Zahlen der Jugendanwaltschaft und Kriminalstatistik deuten nun auf eine Stabilisierung auf hohem Niveau hin.
Corona-Krise ohne entscheidenden Einfluss
Um den Einfluss der Corona-Krise auf die Gewaltraten zu ermitteln, wurden die Angaben der Jugendlichen zu erlebter Gewalt im laufenden Jahr 2021, im Jahr davor (2020) und noch ein Jahr früher (2019) verglichen. Für die unterschiedlichen Gewalttypen Raub, Erpressung, sexuelle Gewalt und Körperverletzung wurden insgesamt ähnliche Verläufe gefunden und es lässt sich keine auffällige Diskontinuität erkennen. Zudem ist die Zunahme der Jugendgewalt bereits im Jahr 2019 vor der Pandemie feststellbar. Somit kommt das Studienteam zum Schluss, dass der identifizierte Gewaltanstieg nicht den singulären Umständen der Corona-Krise zuzuschreiben ist, sondern eher einen langfristigen Trend abbildet.
Präventionsarbeit ist gefragt
Die Ergebnisse der Studie zeichnen ein deutliches Bild und betonen den Bedarf an verstärkten Anstrengungen im Bereich der Gewaltprävention und -intervention. Handlungsbedarf sieht das Studienteam insbesondere im Bereich der Prävention von sexueller Gewalt und Mobbing an Schulen. Zudem ist die Früherkennung und Frühintervention von grosser Bedeutung, um an den Ursachen der Entstehung von Jugendgewalt anzusetzen.
* 2021 wurde die Studie zur Entwicklung von Gewalterfahrungen Jugendlicher zum vierten Mal durchgeführt. Die Befragung findet alle sieben Jahre statt, 2021 wurden rund 4400 Jugendliche befragt und der Rücklauf lag mit ca. 90 Prozent sehr hoch. Die Studie beinhaltet einen Längsschnittvergleich für die 15- bis 16-Jährigen für die letzten 23 Jahre sowie neu einen Querschnittsvergleich über die drei Altersgruppen 13- bis 14-Jährige, 15- bis 16-Jährige und 17- bis 19-Jährige.