Für Unruhe und Ordnung sorgen
Vor drei Jahrzehnten, am 7. Dezember 1988, eröffnete der deutsche Philosoph Odo Marquard in Frankfurt die Ausstellung «Medien der Zukunft – Zukunft der Medien» mit einem Vortrag. Der Titel lautete: Zukunft braucht Herkunft. Die bündige Knappheit dieser Formel hat wohl dazu beigetragen, dass der Vortragstitel später zum blossen Kalenderspruch avancierte. Wer aber den ganzen Vortrag liest, merkt, wie aktuell er ist und wie hilfreich dadurch, dass Marquard mit seiner «Kompensationsthese» Gegensätze nicht aus der Welt schaffen will, sondern dazu auffordert, sie zu verstehen und ihre Spannung auszuhalten: «Denn die neue Welt kann nicht sein ohne die alten Fertigkeiten. Menschlichkeit ohne Modernität ist lahm; Modernität ohne Menschlichkeit ist kalt: Modernität braucht Menschlichkeit, denn Zukunft braucht Herkunft.»
Wer Neues anpacken will, braucht die Sicherheit von Vertrautem. Marquard illustriert dies mit einem veritablen AJB-Beispiel, mit Kindern, die ihre alltäglichen Neuentdeckungen, ihre Kinderwelt-Eroberungen, ihre Entwicklungsaufgaben zu bewältigen vermögen, indem sie das Vertraute stets mit sich herumtragen: den Teddybären. Auch der Teddybär ist übrigens als Requisit der Kinderwelten in etwa hundert Jahre alt. «Zukunft braucht Herkunft» gilt für gesellschaftliche und individuelle Entwicklungen und gilt für Organisationen. Also auch fürs AJB. Dann ist aber eine Übersetzung nötig. Etwa: Unruhe braucht Ordnung. Was ist dann der Teddybär für Organisationen? Die «aufgeräumte» Organisation. Alles, was dazu beiträgt: der klare Zweck, die verbindlichen Strukturen, die verlässlichen Abläufe und so weiter. Diese Ordnung schafft Vertrauen und dient der Organisation – wie der Teddybär dem Kind – dazu, Unruhe aufzunehmen, auszuhalten und zu verarbeiten, d. h. Unruhe produktiv zu machen. Unruhe entsteht durch Veränderungsimpulse: die Innovationen der Konkurrenz, der stärkere Zielgruppenbezug, die forcierte Effizienzsteigerung, die Digitalisierung und so weiter. Unruhe stellt Ordnung infrage. Je besser Organisationen in der Lage sind, sich beunruhigen zu lassen, desto entschiedener reagieren sie auf Veränderungen in ihrem Umfeld. Sie sind nicht nur angepasst, sondern bleiben anpassungsfähig. Kurz: dynamikrobust. Strategie setzt diese dynamikrobuste Ordnung voraus. Für das AJB kommt Unruhe nicht nur aus der Zukunft. Auch aus der Herkunft: In Rekordzeit wurde vor wenigen Jahren ein Bundesgesetz zur Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ausgearbeitet und vom Bundesparlament beschlossen. Seit dem 1. April 2017 ist es in Kraft. Der unbestreitbare Hintergrund: Bis 1981 wurden Zehntausende Kinder und Jugendliche von Behörden als billige Arbeitskräfte verdingt, in autoritär geführte Einrichtungen und – teilweise ohne Gerichtsentscheid – in Strafanstalten fremdplatziert. Kinder und Jugendliche waren massiver körperlicher und psychischer Gewalt ausgesetzt, wurden misshandelt, ausgebeutet und sexuell missbraucht. Auch sind junge Frauen gezwungen worden, einer Abtreibung, einer Sterilisation oder einer Adoption zuzustimmen. Kinder und Jugendliche waren in Heimen oder auch in Kliniken Medikamentenversuchen mit unerprobten Substanzen oder Zwangsmedikationen ausgesetzt. Gerade im Jubiläumsjahr stellen wir uns den beunruhigenden Kapiteln unserer Geschichte. Die Herkunft bietet uns glücklicherweise auch viel Ordnungskraft: Bereits vor hundert Jahren galt im Ansatz ein umfassendes Bildungsverständnis, galt die Aufmerksamkeit der Vor- und Fürsorge, herrschte die Einsicht vor, dass Familien auf geeignete und unterstützende Rahmenbedingungen angewiesen sind. Die AJB-Herkunft birgt gleichermassen Beunruhigungspotenzial wie Ordnungskraft – und beides hilft uns bei der Gestaltung der AJB-Zukunft. Denn Zukunft braucht Herkunft.
André Woodtli
Amtsvorsteher