André Woodtli, Amtsvorsteher

Für Unruhe und Ordnung sorgen

Vor drei Jahr­zehn­ten, am 7. Dezem­ber 1988, eröff­nete der deut­sche Philo­soph Odo Marquard in Frank­furt die Ausstel­lung «Medien der Zukunft – Zukunft der Medien» mit einem Vortrag. Der Titel lautete: Zukunft braucht Herkunft. Die bündige Knapp­heit dieser Formel hat wohl dazu beigetra­gen, dass der Vortrags­ti­tel später zum blos­sen Kalen­der­spruch avan­cierte. Wer aber den ganzen Vortrag liest, merkt, wie aktuell er ist und wie hilf­reich dadurch, dass Marquard mit seiner «Kompen­sa­ti­ons­these» Gegen­sätze nicht aus der Welt schaf­fen will, son­dern dazu auffor­dert, sie zu verste­hen und ihre Span­nung auszu­hal­ten: «Denn die neue Welt kann nicht sein ohne die alten Fertig­kei­ten. Mensch­lich­keit ohne Moder­nität ist lahm; Moder­ni­tät ohne Mensch­lich­keit ist kalt: Moder­ni­tät braucht Mensch­lich­keit, denn Zukunft braucht Herkunft.»

Wer Neues anpa­cken will, braucht die Sicher­heit von Vertrau­tem. Marquard illus­triert dies mit einem veri­ta­blen AJB-Beispiel, mit Kindern, die ihre alltäglich­en Neuent­de­ckun­gen, ihre Kinder­welt-Erobe­run­gen, ihre Entwick­lungs­auf­ga­ben zu bewäl­ti­gen vermö­gen, indem sie das Vertraute stets mit sich herum­tra­gen: den Teddybären. Auch der Teddy­bär ist übri­gens als Requi­sit der Kinder­wel­ten in etwa hundert Jahre alt. «Zukunft braucht Herkunft» gilt für gesell­schaft­li­che und indi­vi­du­elle Entwick­lun­gen und gilt für Orga­ni­sa­tio­nen. Also auch fürs AJB. Dann ist aber eine Über­set­zung nötig. Etwa: Unruhe braucht Ordnung. Was ist dann der Teddy­bär für Orga­ni­sa­tio­nen? Die «aufge­räumte» Orga­ni­sa­tion. Alles, was dazu beiträgt: der klare Zweck, die verbind­lichen Struk­tu­ren, die verläss­li­chen Abläufe und so weiter. Diese Ordnung schafft Vertrauen und dient der Orga­ni­sa­tion – wie der Teddy­bär dem Kind – dazu, Unruhe aufzu­neh­men, auszu­hal­ten und zu verar­bei­ten, d. h. Unruhe produk­tiv zu machen. Unruhe entsteht durch Verän­de­rungs­im­pulse: die Inno­va­tio­nen der Konkur­renz, der stär­kere Ziel­grup­pen­be­zug, die for­cier­te Effi­zi­enz­stei­ge­rung, die Digi­ta­li­sie­rung und so weiter. Unruhe stellt Ordnung infrage. Je besser Orga­ni­sa­tio­nen in der Lage sind, sich beun­ru­hi­gen zu lassen, desto entschie­de­ner reagie­ren sie auf Verän­de­run­gen in ihrem Umfeld. Sie sind nicht nur ange­passt, sondern bleiben anpas­sungs­fä­hig. Kurz: dyna­mikro­bust. Stra­te­gie setzt diese dyna­mikro­buste Ordnung voraus. Für das AJB kommt Unruhe nicht nur aus der Zukunft. Auch aus der Herkunft: In Rekord­zeit wurde vor wenigen Jahren ein Bundes­ge­setz zur Aufar­bei­tung der fürsor­ge­ri­schen Zwangs­mass­nah­men und Fremd­plat­zie­run­gen ausge­ar­bei­tet und vom Bundes­par­la­ment beschlos­sen. Seit dem 1. April 2017 ist es in Kraft. Der unbe­streit­bare Hinter­grund: Bis 1981 wurden Zehn­tau­sende Kinder und Jugend­li­che von Behör­den als billige Arbeits­kräfte verdingt, in auto­ri­tär geführte Einrich­tun­gen und – teil­weise ohne Gerichts­ent­scheid – in Straf­an­stal­ten fremd­plat­ziert. Kinder und Jugend­li­che waren massi­ver körper­li­cher und psychi­scher Gewalt ausge­setzt, wurden miss­han­delt, ausge­beu­tet und sexuell missbraucht. Auch sind junge Frauen ge­zwungen worden, einer Abtrei­bung, einer Steri­li­sa­tion oder einer Adop­tion zuzu­stim­men. Kinder und Jugend­li­che waren in Heimen oder auch in Klini­ken Medikamen­tenversuchen mit uner­prob­ten Substan­zen oder Zwangs­me­di­ka­tio­nen ausge­setzt. Gerade im Jubi­lä­umsjahr stellen wir uns den beun­ru­hi­gen­den Kapi­teln un­serer Geschichte. Die Herkunft bietet uns glück­li­cherweise auch viel Ordnungs­kraft: Bereits vor hundert Jahren galt im Ansatz ein umfas­sen­des Bildungs­verständ­nis, galt die Aufmerk­sam­keit der Vor- und Fürsorge, herrschte die Einsicht vor, dass Fami­lien auf geeig­nete und unter­stüt­zende Rahmen­be­din­gun­gen ange­wie­sen sind. Die AJB-Herkunft birgt glei­cher­mas­sen Beun­ru­hi­gungs­po­ten­zial wie Ordnungs­kraft – und beides hilft uns bei der Gestal­tung der AJB-Zukunft. Denn Zukunft braucht Herkunft.

André Woodtli
Amts­vor­ste­her