Dr. Heidi Simoni, Psychologin und Psychotherapeutin FSP, Leiterin Marie Meierhofer Institut für das Kind

Durch die Augen eines Säuglings – für Kinder und vom Kind her denken

Wahr­neh­mun­gen und Fakten verdrän­gen zu können, ist eine über­le­bens­wich­tige Fähig­keit. Positiv formu­liert geht es darum, sich zu fokus­sie­ren und aus einer Flut von Infor­ma­tio­nen und Erfah­run­gen eine bedeut­same Auswahl zu treffen. Erst wenn wir gewisse Dinge syste­ma­tisch, kollek­tiv und unhin­ter­fragt ausblen­den, begeben wir uns even­tu­ell auf einen Holzweg. Diese Gefahr muss uns privat, beruf­lich und öffent­lich bewusst sein, beson­ders wenn wir für andere Verant­wor­tung tragen und Entschei­dun­gen treffen.

Als Leite­rin eines Insti­tuts mit dem Auftrag, sich für gute Lebens­be­din­gun­gen ganz junger Kinder und ihrer Bezugs­per­so­nen einzu­set­zen, treibt mich die Frage nach «blinden Flecken» in unserer konkre­ten Arbeit und im gesell­schaft­li­chen Diskurs zur frühen Kind­heit beson­ders um. Vieles wird im Namen von Kindern und zu deren Wohl behaup­tet und gemacht. Je weniger Kinder verbal und logisch bereits wie Erwach­sene denken und argu­men­tie­ren können, umso leich­ter – und manch­mal skru­pel­los – geht das.

Die Geschichte des Umgangs mit Kleinst­kin­dern ist voll von Annah­men und Prak­ti­ken, bei denen uns aus heuti­ger Sicht die Haare zu Berge stehen. So galten Neuge­bo­rene lange als unemp­find­lich gegen­über körper­li­chem Schmerz. Tren­nung und Verlust von Bezugs­per­so­nen wurden bis weit ins letzte Jahr­hun­dert baga­tel­li­siert, weil kleine Kinder – vermeint­lich! - keine Erin­ne­rung haben. Deshalb wurden sie etwa bei Spital­auf­ent­hal­ten mit ihrer sprach­lo­sen, emotio­na­len Not im Stich gelas­sen. Erst nach und nach hat sich die Einsicht durch­ge­setzt, dass Kinder neben physisch hygie­ni­schen Bedin­gun­gen auch psychisch und emotio­nal ein aufmerk­sa­mes Umfeld brau­chen. Manchen Eltern und Bezugs­per­so­nen dürfte das schon vorher nicht entgan­gen sein. Die Macht der fach­li­chen und öffent­li­chen Meinung ist jedoch nicht zu unter­schät­zen.

Und wo stehen wir heute, wenn es um die Jüngs­ten in unserer Gesell­schaft geht? Die Spitze des Eisbergs von Miss­hand­lung und Vernach­läs­si­gung haben wir recht gut im Blick. Wir erken­nen auch, dass uns immer noch viel zu viele Kinder, die Schaden erlei­den, unter dem Radar durch­schlüp­fen. Es gibt einen Diskurs über adäqua­tes Erzie­hungs­ver­hal­ten und elter­li­che Verant­wor­tung. Die Kinder- und Fami­li­en­hilfe beglei­tet und unter­stützt mit einer diffe­ren­zier­ten Ange­bots­pa­lette Fami­lien darin, ihre Aufga­ben zu erfül­len.

Trotz­dem hinter­lässt der Gedanke an den Alltag von Säug­lin­gen und Kleinst­kin­dern oft ein mulmi­ges Gefühl. Der öffent­li­che Diskurs um Kinder­be­treu­ung wird stark durch die Rekru­tie­rung von Müttern für den Arbeits­markt und von dogma­ti­schen Fami­li­en­bil­dern domi­niert. Eine struk­tu­rell unter­stützte und indi­vi­du­ell gestalt­bare Verein­bar­keit von Fami­lien- und Erwerbs­ar­beit für Mütter und Väter käme der Gesell­schaft und vorab den Kindern zu Gute. Tatsäch­lich lieben und brau­chen es Kinder schon ganz früh, regel­mäs­sig mit anderen Kindern und verschie­de­nen Erwach­se­nen Zeit zu verbrin­gen. In vielen Fami­li­en­kon­stel­la­tio­nen und Wohn­um­fel­dern ist dies heute jedoch nur einge­schränkt möglich. Aus Kinder­sicht sind deshalb Spiel­grup­pen, Kitas und Orte zum Spielen wert­volle Lebens­wel­ten. Aber: Was erlebt der neun Monate alte Fritz, wenn er in einer einzi­gen Woche je zwei 10-Stunden-Tage in der Kita und bei den Gross­el­tern sowie drei Tage mit Mutter oder Vater oder beiden Eltern verbringt, also etwa fünf verschie­dene Tages­ab­läufe erlebt und von acht verschie­de­nen Perso­nen gewi­ckelt wird? Viel mehr hätte er von mehr aber kürze­ren Kita-Tagen sowie alltäg­li­cher entspann­ter Zeit zu Hause und von einem fami­liä­ren Netz, das er nach und nach entde­cken könnte. Das würde aller­dings eine andere, tatsäch­lich abge­stimmte Fami­lien-, Gleich­stel­lungs- und Arbeits­markt­po­li­tik bedin­gen.

Dr. Heidi Simoni
Psycho­lo­gin und Psycho­the­ra­peu­tin FSP, Leite­rin Marie Meier­ho­fer Insti­tut für das Kind