Maggie, Pascale, Nadim und Omid

Vertrauen ist alles

Als 2015 Hundert­tau­sende Menschen Rich­tung Europa flüch­te­ten, wollte Maggie helfen. Bald lernten sie und ihre Kinder Pascale und Nadim den damals 14-jähri­gen Afgha­nen Omid kennen – heute ist er Teil der Familie.

Zum Glück ist das Wohn­zim­mer gross. Das Sofa braucht Platz. Für eine Familie mit Teen­agern ist es wie gemacht, man sinkt hinein, es schei­nen endlose Gesprä­che möglich in dieser weichen blauen Oase. Später wird Omid berich­ten, wie Nadim und er sich hier schon viele Male gegen­sei­tig zuge­hört und beraten haben, wie zwei Brüder. Jetzt sitzt der junge Mann aus Afgha­ni­stan aufrecht da, sein Ohrring glit­zert im Sonnen­schein, der durchs Fenster­ dringt. Pascale hat es sich auf der länge­ren Seite bequem gemacht, den linken Arm über der Rücken­lehne ausge­streckt, Beine ange­win­kelt. Mutter Maggie über­blickt alles von einem Sessel aus. Bis soeben war auch Nadim da, aber der 17-Jährige musste an eine Tanz­probe. Die vier bilden eine Familie, Omid ist seit drei Jahren Teil davon. Der Afghane flüch­tete 2015 von seinem Heimat­dorf via Iran, Türkei und Grie­chen­land zu Boden und auf Wasser nach Mittel­eu­ropa. Irgend­wann sass er in einem Zug Rich­tung Zürich. Ein 14-Jähri­ger ohne Billett und ohne Worte. Die Polizei griff ihn auf. Seine schwie­rige Reise mit Ziel Schwe­den – ein Land, von dem er nichts wusste, ausser dass er dort eine Zukunft haben könnte, so hatte man es ihm gesagt – endete in einem Zürcher Gefäng­nis. Schliess­lich brachte man ihn in einem Zentrum für minder­jäh­rige unbe­glei­tete Flücht­linge (Mineurs Non Accom­pa­gnés MNA) unter und stellte ihm einen Sozi­al­ar­bei­ter des AJB zur Seite. Über ein Programm des Roten Kreuzes lernte Maggie Omid kennen. «2015 war das Jahr, in dem so viele Menschen nach Europa flüch­te­ten. Ich wollte helfen und konnte mir vorstel­len, einen jungen Menschen zu betreuen. Unser erstes Treffen war am 16. März 2016», erin­nert sich die 54-jährige Projekt­lei­te­rin in einer Kommu­ni­ka­ti­ons­agen­tur. Es sollten noch Monate verge­hen und viel Papier beschrie­ben werden, bis Omid mit seiner Tasche im Zürcher Kreis 3 einzie­hen würde. In der Zwischen­zeit befreun­de­ten sich Nadim und Pascale mit Omid. Letz­tere lernte mit ihm Deutsch, «im Sommer oft am See».

Ich wollte helfen und konnte mir vorstel­len, einen jungen Menschen in der Familie zu betreuen.

Bei der Frage, wie Omid ihr aller Leben verän­dert habe, muss die sonst nicht so leicht erschüt­ter­bare Maggie die Tränen unter­drü­cken. «Er ist eine grosse Berei­che­rung für uns», sagt sie mit brüchi­ger Stimme. Omid schaut sie verdutzt und auch etwas verle­gen an. Auch Pascale bekommt feuchte Augen.

Die 26-jährige Deutsch­leh­re­rin wohnt nicht mehr zu Hause, aber ganz in der Nähe und ist regel­mäs­sig da. Die selbst­be­wusste junge Frau ist stolz auf Omid und sagt dies auch. «Anfangs war er sehr scheu. Aber er ist ein guter Beob­ach­ter und stellt Fragen. Was er in der Zwischen­zeit alles gelernt hat, ist unglaub­lich.» Maggie beschreibt ihren Pfle­ge­sohn als intui­tiv und intel­li­gent: «Er weiss, was er braucht.» Natür­lich sei es nicht immer nur harmo­nisch. Verbind­lich­keit etwa habe der Junge lernen müssen. Man streite auch. Einfach anders. «Mit Omid kann ich nicht emotio­nal und laut sein wie mit Nadim, sonst zieht er sich erschro­cken zurück.»

Diesen Sommer fängt Omid, der mitt­ler­weile 17 Jahre alt ist, die Sek B besucht und auch dank der Familie in nur drei Jahren Deutsch und vieles mehr ge­lernt hat, eine Lehre als Montage-Elek­tri­ker an. Es ist Maggie ein Rätsel, weshalb nicht mehr Kinder und Jugend­li­che wie Omid in Fami­lien leben können: «Ich wüsste nicht, wo sie schnel­ler lernen, wie eine Gesell­schaft funk­tio­niert, wie man hier lebt, welche Werte uns wichtig sind», sagt die Frau, die ihre Offen­heit nicht von unge­fähr hat: «Da meine Eltern beide aus Nach­bar­län­dern in die Schweiz migriert sind und vor allem meine Mutter in einem multi­kul­tu­rel­len Milieu aufge­wach­sen ist, war Offen­heit gegen­über anderen Spra­chen und Kultu­ren bei uns immer eine Selbst­ver­ständ­lich­keit.» Sie weiss, was Inte­gra­tion voraus­setzt: «Eine Zukunft sehen dürfen. Die Gesell­schaft muss dir das Gefühl geben, dass du will­kom­men bist. Inte­gra­tion funk­tio­niert nur, wenn man zu einem Teil der Gesell­schaft werden kann, durch Arbeit zum Beispiel.» Wie sieht das Omid, was braucht er – und was hat er in seiner neuen Familie gefun­den? Der zurück­hal­tende Teen­ager, der gerne südame­ri­ka­ni­sche Musik hört und ambi­tio­niert Fuss­ball spielt, sagt ganz leise: «Vertrauen.»

Text: Esther Banz