Familien und die Corona-Krise

Was ein Jahr Corona-Pandemie verändert hat

Wie geht es den Kindern, Jugend­li­chen und Fami­lien seit Ausbruch der Pande­mie? Dieser Frage sind verschie­dene Studien nach­ge­gan­gen. Fast alle kommen zum glei­chen Schluss: Jugend­li­che sowie Fami­lien in sozial oder mate­ri­ell prekä­ren Verhält­nis­sen sind beson­ders belas­tet. Vor allem die psychi­sche Belas­tung, die finan­zi­elle Lage und soziale Isola­tion machen den Betrof­fe­nen zu schaf­fen.

Zu Beginn der Corona-Krise stellte sich im Amt für Jugend und Berufs­be­ra­tung die Frage, wie es der Bevöl­ke­rung geht und ob der Kindes­schutz weiter­hin sicher­ge­stellt werden kann. Um dies­be­züg­lich à jour zu sein, wurde der Kindes­schutz­ra­dar entwi­ckelt. Verschie­dene Akteure aus dem Kindes­schutz im Kanton geben jeweils Auskunft über Entwick­lun­gen, die sie bei Kindern, Jugend­li­chen und Fami­lien beob­ach­ten. Gemäss der letzten Erhe­bung im Novem­ber 2020 hat sich das Befin­den der Menschen seit dem Sommer 2020 verschlech­tert. Die befrag­ten Akteure berich­ten von psychi­scher Belas­tung und Stress bei einigen Ziel­grup­pen. Sorge berei­ten insbe­son­dere Zukunfts­un­si­cher­hei­ten, die finan­zi­elle Lage, soziale Isola­tion sowie Probleme bei der Alltags- und Frei­zeit­ge­stal­tung. In den Bera­tun­gen stehen Themen wie Konflikte zwischen Fami­li­en­mit­glie­dern im Vorder­grund.

Gleich­zei­tig erleben die Akteure zwar auch Ziel­grup­pen, die sich gut an die aktu­el­len Umstände anpas­sen können. Insge­samt schät­zen die befrag­ten Akteure die Lage im Bereich des Kindes­schut­zes (Stand Novem­ber 2020) jedoch als ange­spannt ein, nur 24 % sehen sie noch im grünen Bereich.

Junge Menschen psychisch belas­tet

Auch der Corona-Report von Pro Juven­tute, der auf verschie­de­nen Studien und Berich­ten basiert, zeich­net kein rosiges Bild: Von allen Alters­grup­pen sind junge Menschen durch die Krise psychisch am stärks­ten belas­tet. Sie leiden insbe­son­dere unter den sozia­len Einschrän­kun­gen durch die Pande­mie-Mass­nah­men. Beson­ders gefähr­det sind dabei vulnerable Kinder und Jugend­li­che: «Bestehende soziale Isola­tion, prekäre Lebens­ver­hält­nisse oder psychi­sche Vorer­kran­kun­gen verstär­ken die nega­ti­ven Auswir­kun­gen der Krise.» Diese Kinder und Jugend­li­che haben gemäss dem Corona-Report ein höheres Risiko, auch lang­fris­tig unter den viel­fäl­ti­gen psychi­schen Belas­tun­gen der Pande­mie zu leiden.

Jugend­li­che, die Ange­hö­rige betreuen, sind beson­ders gefor­dert

Vor beson­de­ren Heraus­for­de­run­gen stehen Kinder und Jugend­li­che, die Ange­hö­ri­gen­be­treu­ung leisten, die soge­nann­ten «Young Carers». Geschätzt 49 000 Kinder und Jugend­li­che im Alter zwischen 9 und 15 Jahren (Stand 2018) leisten in der Schweiz Care-Arbeit für Geschwis­ter, Eltern oder Gross­el­tern. In zwei Studien aus Gross­bri­tan­nien berich­ten die befrag­ten Jugend­li­chen über eine starke Zunahme der Betreu­ungs­auf­ga­ben im Lock­down. Zuge­nom­men hat sowohl die eigent­li­che Betreu­ungs­zeit als auch die Care Arbeit für Geschwis­ter, für die erkrankte Eltern(teile) nicht mehr ausrei­chend sorgen konnten.

Für bis zu 20 % der «Young Carers» erhöhte sich der Betreu­ungs­auf­wand um 30 Wochen­stun­den oder mehr. Insbe­son­dere «Young Carers» von psychisch kranken Eltern waren gefor­dert. Drei Viertel von ihnen fühlten sich gestress­ter und machten sich mehr Sorgen um ihre Zukunft als vor der Pande­mie. Die Schule als «Safe Space» fiel während der Schul­schlies­sung weg und die Jugend­li­chen hatten neben ihren Betreu­ungs­auf­ga­ben oft nicht genug Zeit für ihre Fern­un­ter­richts-Aufga­ben.

Schule und Lehre im Brenn­punkt

Die Schul­schlies­sun­gen und der Fern­un­ter­richt erhöhen ausser­dem das Risiko für Kinder aus sozial benach­tei­lig­ten und bildungs­fer­ne­ren Fami­lien, schu­lisch weiter abge­hängt zu werden. Die bereits bestehen­den Ungleich­hei­ten bezüg­lich Bildung und Berufs­aus­sich­ten werden durch die Krise verschärft. Wobei die Kinder in der Schweiz verhält­nis­mäs­sig gut daste­hen: Welt­weit sind für mehr als 168 Millio­nen Kinder die Schulen seit fast einem Jahr geschlos­sen, wie neueste Daten von UNICEF zeigen. Die am stärks­ten gefähr­de­ten Kinder und Kinder ohne Zugang zu Fern­un­ter­richt riskie­ren laut UNICEF, über­haupt nicht in die Schule zurück­zu­keh­ren.

Für Lernende in einer Berufs­lehre erschwe­ren tempo­räre Betriebs­schlies­sun­gen die Ausbil­dung und führen zu Bildungs­lü­cken. Nach der Lehre eine Stelle zu finden bzw. im Lehr­be­trieb zu verblei­ben, ist durch die Pande­mie schwie­ri­ger gewor­den. Die Verweil­dauer junger Menschen in der Arbeits­lo­sig­keit droht daher zuzu­neh­men. Im Januar 2021 waren über 17 000 Jugend­li­che in der Schweiz arbeits­los gemel­det, ein Jahr zuvor waren es 41 % weniger, wie der Report von Pro Juven­tute aufzeigt. Der Bericht kommt zum eindeu­ti­gen Schluss, dass Hand­lungs­be­darf besteht, denn «die Corona-Pande­mie beein­träch­tigt sonst das Leben einer ganzen Gene­ra­tion, verschärft soziale Ungleich­hei­ten und verur­sacht über Jahr­zehnte hohe soziale Kosten». Schliess­lich wird diese Gene­ra­tion wohl am längs­ten mit den Folgen der aktu­el­len Krise leben müssen.

Ange­bote sind zu wenig bekannt

Hand­lungs­be­darf gibt es auch bezüg­lich dem Wissen über Unter­stüt­zungs­an­ge­bote: In der Novem­ber-Erhe­bung der Swiss Corona Stress Study berich­ten über­durch­schnitt­lich viele der über 14-jähri­gen Schü­le­rin­nen und Schüler, Studie­ren­den und Lernen­den von einem «sehr hohen» Stress­le­vel. Gleich­zei­tig kennt gemäss einer noch unver­öf­fent­lich­ten Studie fast die Hälfte der 15- bis 25-Jähri­gen keine Anlauf­stelle, an die sie sich in Notla­gen wenden können.

Allein­er­zie­hende und fremd­plat­zierte Kinder

Auch im fami­liä­ren Zusam­men­le­ben hinter­lässt die Pande­mie­si­tua­tion ihre Spuren und wiederum sind bereits belas­tete Fami­lien und Fami­lien in sozial oder mate­ri­ell prekä­ren Verhält­nis­sen nach dem Report von Pro Juven­tute beson­ders gefähr­det. Sie weisen ein deut­lich höheres Risiko auf für eine Verschlech­te­rung des Fami­li­en­kli­mas, für inner­fa­mi­liäre Span­nun­gen und für Konflikte bis hin zur Gewalt.

Gesund­heits­för­de­rung Schweiz hat dabei Fami­li­en­si­tua­tio­nen iden­ti­fi­ziert, die mit beson­de­ren Heraus­for­de­run­gen in der Pande­mie konfron­tiert sind. Dazu gehören Kinder von Allein­er­zie­hen­den, die vor allem in Lock­down-Phasen eine Benach­tei­li­gung riskie­ren: Etwa durch ein erhöh­tes Armuts­ri­siko von Allein­er­zie­hen­den, höheres Konflikt­po­ten­zial, weniger Unter­stüt­zung bei Schul­ar­bei­ten, einge­schränkte Besuche beim anderen Eltern­teil oder durch eine erhöhte Gefähr­dung bei einer COVID-19-Erkran­kung des erzie­hen­den Eltern­teils.

Die Umstel­lung des Alltags und die aktu­elle Unsi­cher­heit können auch für fremd­plat­zierte und sonder­päd­ago­gisch geför­derte Kinder schwer­wie­gende Folgen haben. Insbe­son­dere das Besuchs­ver­bot in Heimen für Menschen mit Behin­de­run­gen wird als proble­ma­tisch ange­se­hen.

Armuts­be­trof­fene Fami­lien

Kinder aus armuts­be­trof­fe­nen Fami­lien (2014: rund 70 000) leben oft in beeng­ten Wohn­ver­hält­nis­sen und haben weniger Zugang zu elek­tro­ni­schen Kommu­ni­ka­ti­ons­tech­no­lo­gien, was insbe­son­dere im Fern­un­ter­richt zu einer schu­li­schen Benach­tei­li­gung führen kann, wie Gesund­heits­för­de­rung Schweiz aufzeigt. Zu diesem Schluss kommt auch die Studie der KOF, die auf dem SRG Corona-Bevöl­ke­rungs­mo­ni­to­ring basiert. So sind Haus­halte am unteren Ende der Einkom­mens­ver­tei­lung stärker von der Krise betrof­fen. Perso­nen mit einem Haus­halts­ein­kom­men von unter 4000 Franken verzeich­nen eine durch­schnitt­li­che Einkom­mens­ein­busse von 20 %. Bei Haus­hal­ten mit einem Monats­ein­kom­men von mehr als 16 000 Franken beträgt der Rück­gang hinge­gen nur 8 Prozent.

Perso­nen aus einkom­mens­schwa­chen Haus­hal­ten waren zudem häufiger von einer nach­tei­li­gen Entwick­lung der Erwerbs­si­tua­tion betroffen. Rund ein Drittel dieser Befrag­ten mussten im Verlauf der Pande­mie Kurz­ar­beits­geld bezie­hen oder wurden gar arbeits­los. Von den Befrag­ten der obers­ten Einkom­mens­klasse traf dies hinge­gen nur auf einen Sechs­tel zu. Die genann­ten Auswir­kun­gen auf armuts­be­trof­fene Fami­lien gelten zudem auch für einen Teil der Migra­ti­ons­be­völ­ke­rung. Eine signi­fi­kant höhere Armuts­ge­fähr­dungs­quote und mangelnde Kennt­nisse der Eltern in der Landes­spra­che erschwe­ren u. a.die Unter­stüt­zung der Kinder im Home­schoo­ling.

Weil die Pande­mie und ihre direk­ten und indi­rek­ten Folgen für Menschen in belas­te­ten Lebens­si­tua­tio­nen beson­ders gravie­rende Auswir­kun­gen haben, ist es wichtig, diese Entwick­lun­gen weiter­hin genau zu verfol­gen. Der Kindes­schutz­ra­dar des AJB ist dafür ein wich­ti­ges Instru­ment. Die nächste Erhe­bung ist für Mai 2021 geplant.

Ladina Gart­mann

Ladina Gartmann hat Soziologie, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Sozial- und Präventivmedizin in Zürich und Kopenhagen studiert. Nach einigen Jahren in der angewandten Forschung ist sie seit 2017 als Projektleiterin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Kinder- und Jugendhilfe vom AJB tätig und begleitet verschiedene Forschungs- und Pilotprojekte, u.a. die Erprobung der Methode Familienrat oder die beiden Greenhouse-Saatboxen «Care 4 Young Carers» und «Rudel der Löwinnen».