UNICEF-Studie zu den Kinderrechten

Wie nehmen Kinder in der Schweiz ihre Rechte wahr?

In der Schweiz hat jedes Kind ein Recht darauf, gesund und sicher aufzu­wach­sen, sein Poten­zial zu entfal­ten, ange­hört und ernst genom­men zu werden. Dies, weil die Schweiz die Kinder­rechte vor 24 Jahren rati­fi­ziert hat. UNICEF hat nun Kinder und Jugend­li­che in einer Studie befragt, wie die Rechte aus ihrer Sicht umge­setzt werden. Die Studie zeigt: Nicht alle können ihre Rechte wahr­neh­men. Auch im Eltern­haus besteht Nach­hol­be­darf.

Erzie­hung ohne Gewalt. Frei­zeit. Mitspra­che. Dies sind drei der gesamt­haft 41 Rechte der UNO Kinder­rechts­kon­ven­tion. Für ein siche­res und gesun­des Aufwach­sen sind diese drei Rechte essen­zi­ell. Aber wie steht es aus Sicht der Kinder und Jugend­li­chen um deren Umset­zung? UNICEF Schweiz und Liech­ten­stein und das Insti­tut für Soziale Arbeit und Räume der Ostschwei­zer Fach­hoch­schule gingen dieser Frage nach. Kinder­rechts­exper­tin Sandra Stössel zeigt dabei auf, weshalb diese Rechte so wichtig für die Entwick­lung der Kinder sind.

Recht auf Förde­rung, Wohl­be­fin­den und Erho­lung

Verschie­dene Förder­rechte der Kinder­rechts­kon­ven­tion tragen der best­mög­li­chen Entwick­lung und dem kind­li­chen Wohl­be­fin­den Rech­nung. Um zu erfah­ren, wie das Recht auf Förde­rung und Wohl­be­fin­den in der Familie umge­setzt ist, wurden die Kinder und Jugend­li­chen in der Studie* gefragt, ob ihnen ihre Eltern zuhören und ob ihre Eltern Zeit für sie haben. Erfreu­li­cher­weise wird die grosse Mehr­heit (84 Prozent) von ihren Eltern (an)gehört und bekommt viel bis ganz viel Zeit von ihnen (86 Prozent). Fast ein Fünftel der Kinder wünscht sich jedoch, dass ihnen die Eltern mehr zuhören und 14 Prozent hätten gerne, dass die Eltern mehr Zeit mit ihnen verbrin­gen.

Etwas mehr als die Hälfte der befrag­ten Kinder und Jugend­li­chen fühlt sich zu Hause zudem so wohl, dass sich aus ihrer Sicht nichts verän­dern soll. Die rest­li­chen Befrag­ten wünschen sich vor allem, selbst­be­stimm­ter leben und entschei­den zu können, weniger Streit in der Familie, andere Wohn­ver­hält­nisse sowie, dass sich ihre Eltern und/oder Geschwis­ter anders verhal­ten.

Erho­lung und Entspan­nung ist für rund zwei Drittel der Befrag­ten selbst­ver­ständ­lich: Sie haben viel oder sogar ganz viel Zeit, um sich unter der Woche zu erholen und entspan­nen. Auf der anderen Seite geben rund 16 Prozent an, unter der Woche wenig bis keine Zeit für Erho­lung und Entspan­nung zu haben. Je älter die Kinder und insbe­son­dere die Jugend­li­chen sind, desto weniger Zeit haben sie unter der Woche für Erho­lung zur Verfü­gung.

Um wich­tige Bezugs­per­so­nen auszu­ma­chen, wurden die Kinder und Jugend­li­chen gefragt, an wen sie sich mit Proble­men wenden oder wem sie Geheim­nisse anver­trauen. An erster Stelle stehen die Eltern (71 Prozent), gefolgt von Freun­den und Freun­din­nen (71 Prozent) und Geschwis­tern (38 Prozent). Vier Prozent der Kinder und Jugend­li­chen gaben an, nieman­den zu haben, an den sie sich mit Proble­men oder Geheim­nis­sen wenden können.

Einschät­zung der Kinder­rechts­exper­tin

Wie für Erwach­sene ist es auch für Kinder wichtig, jeman­den zu haben, dem sie vertrauen und auf den sie sich verlas­sen können. Erste Nähe und erstes Vertrauen erfährt das Kind häufig durch die Verläss­lich­keit und Gebor­gen­heit bei den Eltern, beispiels­weise durch das Einschla­fen in ihren Armen, das Dasein eines Eltern­teils, wenn es aufwacht, das Erhal­ten von Nahrung, wenn es hungrig ist, oder indem sie es vor Gefah­ren schüt­zen. Im Verlaufe der Kind­heit und des Erwach­sen­wer­dens können diese Perso­nen wech­seln, manch­mal sogar häufig. Mit dem Älter­wer­den verlässt ein Kind mehr und mehr den fami­liä­ren Rahmen des Eltern­hau­ses. Es lernt weitere Perso­nen kennen, diese zu mögen und even­tu­ell sogar ihnen zu vertrauen. Das kann ein Götti oder eine Gotte sein oder ein Kinder­gar­teng­spänli. Solche Bezie­hun­gen zu knüpfen und zu pflegen gehört zu den Grund­be­dürf­nis­sen eines Kindes. Es muss dabei Erfah­run­gen machen können, was funk­tio­niert, was schwie­rig ist oder gar nicht geht. Das heisst für Eltern und Bezugs­per­so­nen, es ist wichtig, das Kind beim Schmie­den von Freund­schaf­ten und Bezie­hun­gen zu unter­stüt­zen. Es hilft, dafür gewisse Grund­re­geln zum Schutz zu verein­ba­ren und einzu­üben. Zum Beispiel: 

  • Nur Mama, Papa oder Geschwis­ter holen dich von der Schule ab.
  • Du darfst nicht mit Fremden mitge­hen.
  • Nach der Schule kommst du zuerst nach­hause.
  • Dein Körper gehört dir, niemand darf dich ohne deine Erlaub­nis anfas­sen.

Recht auf Schutz und gewalt­freies Aufwach­sen

Artikel 19 hält fest, dass Kinder das Recht auf Schutz und gewalt­freies Aufwach­sen haben. Viele Kinder in der Schweiz erleben ihr Aufwach­sen so. Das Sicher­heits­emp­fin­den in der Familie ist bei den befrag­ten Kindern und Jugend­li­chen gross, nur rund 6 Prozent fühlen sich mittel, eher oder gar nicht sicher. Letz­tere wünschen sich weniger Streit, keine physi­sche und psychi­sche Gewalt, weniger Leis­tungs­druck, mehr Vertrauen und Frei­heit, bessere Kommu­ni­ka­tion und mehr finan­zi­elle Mittel, um sich siche­rer zu fühlen. Die Erfah­rung von Strafe sowie physi­scher und psychi­scher Gewalt in der Familie ist aller­dings kein Rand­phä­no­men: Rund ein Viertel berich­tet, dass ihre Eltern ihnen schon einmal wehge­tan oder sie ausge­lacht, nach­ge­macht, beschimpft oder belei­digt hätten. Auch zeigt sich: Je älter ein Kind ist, desto eher berich­tet es von physi­scher oder psychi­scher Gewalt wie ausla­chen, beschimp­fen, belei­di­gen und igno­rie­ren.

Einschät­zung der Kinder­rechts­exper­tin

Schutz und Sicher­heit werden häufig durch Struk­tu­ren und Grenzen, die Erwach­sene setzen, gewähr­leis­tet. Das heisst, damit Kinder Frei­räume erobern und sich gefahr­los entwi­ckeln können, brau­chen sie sinn­volle Begren­zun­gen und Regeln. Wohl­wol­lend gesetzte Grenzen fördern auch die Entwick­lung innerer Struk­tu­ren. Grenzen müssen liebe­voll, das heisst auf Zuwen­dung und Fürsorge aufbau­end, gesetzt werden. Strafen und Schläge basie­ren häufig auf dem Macht- und Ohnmachts­ver­hält­nis zwischen Erwach­se­nen und Kindern, verur­sa­chen Ängste und sind inak­zep­ta­bel als Mittel zur Grenz­set­zung.

Um adäquate Grenzen und Regeln heraus­zu­fin­den, braucht es den Einbe­zug des Kindes. Seine Meinung dazu ist wichtig, auch wenn die Erwach­se­nen entschei­den. Dafür hilft es, genü­gend Ideen und Hand­lungs­op­tio­nen im Ruck­sack zu haben, um auch in verfah­re­nen Situa­tio­nen nicht auf Strafen und Schläge auszu­wei­chen. Hier können verschie­dene Kurse der Eltern­bil­dung Unter­stüt­zung bieten.

Recht auf Mitspra­che und Betei­li­gung

Kinder und Jugend­li­che haben das Recht auf Infor­ma­tion, Betei­li­gung, Mitspra­che und Mitbe­stim­mung in allen sie direkt oder indi­rekt betref­fen­den Belan­gen (Artikel 12). Das Recht auf Mitspra­che und Betei­li­gung in der Familie wird mehr­heit­lich gut umge­setzt. Fast drei Viertel der befrag­ten Kinder und Jugend­li­chen geben an, oft oder immer von ihren Eltern nach ihrer Meinung gefragt zu werden (74 Prozent). Wich­tige Aspekte für die Kinder und Jugend­li­chen, die sie gerne mit ihren Eltern bespre­chen möchten, sind Schule und Beruf, Erwach­sen­wer­den, Bezie­hung und Sexua­li­tät, Zusam­men­le­ben in der Familie, Zukunfts­pläne, ihre Sorgen und Ängste sowie auch gesell­schafts­po­li­ti­sche Themen wie Gerech­tig­keit und Umwelt.

Die befrag­ten Kinder und Jugend­li­chen können zu einem grossen Teil über ihre Privat­sphäre mitbe­stim­men oder selbst­stän­dig entschei­den, beispiels­weise beim Zugang zum Kinder­zim­mer oder der Wahl ihrer Freunde. Rund 36 Prozent können zudem selber die Zeit­dauer der Nutzung von Handy und Compu­ter fest­le­gen, bei 29 Prozent wird dies gemein­sam inner­halb der Familie entschie­den.

Jedoch geben rund 9 Prozent der Befrag­ten an, dass sie von ihren Eltern selten oder nie nach ihrer Meinung gefragt werden und über ihre Privat­sphäre nicht selber entschei­den können. Insge­samt wünschen sich 17 Prozent, dass sie in der Familie mehr mitbe­stim­men können.

Einschät­zung der Kinder­rechts­exper­tin

Parti­zi­pa­tion oder Betei­li­gung gehört zu den Grund­be­dürf­nis­sen eines Kindes, gleich wie bei den Erwach­se­nen. Wenn sich ein Kind ins Fami­li­en­le­ben oder ins gesell­schaft­li­che Leben einbrin­gen kann, macht es Erfah­run­gen, die wichtig sind für das Zusam­men­le­ben und für die künf­tige Verant­wor­tung im eigenen Leben. Dabei muss auch Schei­tern möglich sein. Echte Betei­li­gung beruht auf Respekt und bedingt eine dialo­gi­sche Grund­hal­tung. Das heisst, man muss mitein­an­der spre­chen, einan­der zuhören und sich gegen­sei­tig ernst nehmen. Das ist anstren­gend für alle Betei­lig­ten, gewiss. Je nach Alter und Entwick­lung des Kindes soll es über gewisse Dinge selber entschei­den können. Nämlich, wenn es die Folgen seiner Entschei­dung voll und ganz abschät­zen und dafür die Verant­wor­tung über­neh­men kann. Im Fami­li­en­all­tag kann es sehr berei­chernd sein, wenn ein Kind mitdenkt und seine Meinung und Ideen einbringt, zum Beispiel über Frei­zeit­ak­ti­vi­tä­ten, über Feri­en­pläne oder über einen notwen­di­gen Umzug. Echte Demo­kra­tie beginnt am Küchen­tisch.

Wich­tige Grund­sätze für die Parti­zi­pa­tion in der Praxis sind:

  • Die Betei­li­gungs­mög­lich­kei­ten müssen den sich entwi­ckeln­den Fähig­kei­ten des Kindes ange­passt sein.
  • Das Kind muss verste­hen, worum es geht (verständ­li­che Infor­ma­tion).
  • Das Kind muss wissen, welche Rolle es einnimmt (darf seine Meinung sagen, darf mitent­schei­den, darf selber entschei­den).
  • Es muss klar sein, wer was entschei­det und die Verant­wor­tung trägt.
  • Regeln werden gemein­sam aufge­stellt.
  • Das Kind muss nach der Entschei­dung erfah­ren, wie seine Meinung einbe­zo­gen worden ist.

Armut als Gefahr für die Kinder­rechte

Die Studie deckt schliess­lich eine besorg­nis­er­re­gende Ungleich­heit auf: Armuts­be­trof­fene Kinder und Jugend­li­che können ihre Rechte in gerin­ge­rem Masse wahr­neh­men als Gleich­alt­rige, erhal­ten durch­schnitt­lich weniger Gehör und Zeit von ihrem Umfeld und werden selte­ner nach ihrer Meinung gefragt. Auch erleben Kinder und Jugend­li­che, die teil­weise oder stark von mate­ri­el­ler Armut betrof­fen sind, deut­lich häufi­ger physi­sche und psychi­sche Gewalt als Gleich­alt­rige ohne eine solche Belas­tung.

Einschät­zung der Kinder­rechts­exper­tin

Wenn Eltern oder ein Eltern­teil stark unter Druck stehen und die finan­zi­el­len Sorgen zuneh­men, wächst häufig auch die Span­nung in der Familie. Die Eltern haben viel­leicht weniger Zeit für das Kind oder die Kinder, weil sie um die finan­zi­elle Exis­tenz kämpfen müssen. Viel­leicht nehmen sie einen zweiten Job an oder müssen viele Behör­den­gänge machen. Das Kind seiner­seits kann viel­leicht nicht an Ausflü­gen teil­neh­men oder sich keinen Kino­be­such mit Freun­den leisten. Das kann Ausgren­zung zur Folge haben. Aus diesem Grunde ist es für die Zusam­men­ar­beit mit der Familie wichtig, die Armut prio­ri­tär zu adres­sie­ren (z. B. mit Ange­bo­ten, Hinwei­sen oder Unter­stüt­zungs­leis­tun­gen) und dem Kind die Teil­habe an Frei­zeit- und Kultur­ak­ti­vi­tä­ten zu ermög­li­chen. Seine Betei­li­gung ist in der Familie nach wie vor wichtig und es muss mit den Eltern nach Lösun­gen gesucht werden. Bei Jugend­li­chen, die sich bereits langsam vom Eltern­haus ablösen, treten gleich­alt­rige Jugend­li­che und die Betei­li­gung in der Gemein­schaft (z. B. in einem Verein oder in der offenen Jugend­ar­beit) in den Vorder­grund. Sie brau­chen Möglich­kei­ten, sich mit Gleich­alt­ri­gen zu treffen und so eigene Erfah­run­gen zu machen.

Sandra Stössel

Sandra Stössel ist Juristin (lic. iur.) mit zusätzlichem Master in Kinderrechten (Master in children’s rights) und seit 20 Jahren im Kindesschutz tätig. Seit 2013 arbeitet sie im Fachbereich Kinder- und Jugendhilfe des AJB. Zunächst arbeitete sie als Jugendsekretärin im Schulkreis Uto der Stadt Zürich, dann als Leiterin des Fachbereichs Kinder- und Jugendhilfe in den Sozialen Diensten der Stadt Zürich. Von 2008 bis 2011 war sie Projektleiterin für das Projekt Kindeswohl und Kinderrechte im AJB. Dann folgten zwei Jahre bei Integras, Fachverband für Sozial- und Sonderpädagogik.

* Die Studie Kinder­rechte aus Kinder- oder Jugend­sicht von UNICEF Schweiz und Liech­ten­stein und des Insti­tut für Soziale Arbeit und Räume des Depar­te­ments der Sozia­len Arbeit der Ostschwei­zer Fach­hoch­schule hat 1715 Kinder und Jugend­li­che zwischen 9 und 17 Jahren aus allen Sprach­re­gio­nen der Schweiz sowie aus Lich­ten­stein befragt. Der Fokus liegt darauf, wie es aus Sicht von Kindern und Jugend­li­chen um die Umset­zung ihres Rechtes auf Förde­rung und Wohl­be­fin­den, Mitspra­che und Betei­li­gung und Schutz und gewalt­freies Aufwach­sen steht. Dabei wurden die Lebens­be­rei­che Schule, Familie, Wohnort und Frei­zeit­be­schäf­ti­gung ange­schaut.