Die angedrohte Heimplatzierung hängt wie ein Damoklesschwert über der Familie Messmer
Rudolf und Martha Messmer* haben früh geheiratet und gemeinsam vier Kinder. Rudolf Messmer arbeitet in der Maschinenfabrik Escher Wyss. Er ist für das Erwerbseinkommen zuständig, gemäss Zivilgesetzbuch ist er das «Familienoberhaupt».** Martha Messmer betreut die Kinder, führt den Haushalt und bessert mit Heimarbeit das Einkommen ihres Mannes auf. Sie flickt Kleider und wenn immer sich ihr die Möglichkeit bietet, putzt sie in besseren Quartieren Wohnungen und Amtsstuben. Die Kinder spielen nach der Schule im Freien. Das gehört an der Heinrichstrasse zum gängigen Strassenbild, ist den Sozialreformern der Stadt Zürich aber ein Dorn im Auge. Spielplätze gibt es keine. Die Wohnverhältnisse sind eng. Familie Messmer wohnt in zwei kleinen Zimmern. Das Ehepaar hat öfters Streit. Meistens sind die ständigen Geldsorgen oder die Wirtshausbesuche von Rudolf Messmer Anlass für die Auseinandersetzungen. Die Nachbarn beäugen die Familie schon länger misstrauisch. Als es «wieder einmal laut zu und her geht», wenden sie sich in einem anonymen Schreiben an die Amtsvormundschaft der Stadt Zürich, die sich an der nahe gelegenen Selnaustrasse befindet. Diese schickt ein paar Tage später eine Fürsorgerin vorbei, um die Lebensverhältnisse der Familie Messmer zu überprüfen. Sie betritt kurz vor Mittag unangemeldet die kleine Wohnung und nimmt sogleich «die ungemachten Betten und ungelüfteten Zimmer» wahr, wie sie später in ihrem Bericht vermerkt:
«Das Geschirr vom Morgenessen steht noch auf dem Tisch, Essensreste liegen auf dem Boden. Auch die Hygiene lässt zu wünschen übrig. Das Haar der Kinder ist ungekämmt, die Hemden sind schmutzig. Martha Messmer kommt ihren Hausfrauenpflichten nur ungenügend nach. Auch der Vater macht keinen sehr resoluten Eindruck.» Die Vormundschaftsbehörde beschliesst auf Antrag der Amtsvormundschaft, eine Fürsorgeaufsicht zu errichten. Fortan besucht die Fürsorgerin die Familie regelmässig und erteilt der Mutter Anweisungen zur Kindererziehung und Haushaltführung. Die angedrohte Heimplatzierung hängt wie ein Damoklesschwert über der Familie Messmer.
Fakt
Im Kanton Zürich und insbesondere in den Städten Winterthur und Zürich entstanden in der Zwischenkriegszeit zahlreiche soziale Wohnprojekte, um der Wohnungsnot zu begegnen. Gleichwohl blieb der grosse Wohnungsmangel spürbar. Das Angebot blieb deutlich hinter der Nachfrage zurück. Die Mieterschutzbestimmungen – in der Zeit des Ersten Weltkriegs erlassen –, wurden in den 1920er-Jahren stufenweise zurückgenommen und schliesslich 1926 ganz abgeschafft. Die Folge davon waren rasch ansteigende Mietpreise im Zeitraum 1920 bis 1930, die anschliessend auf hohem Niveau stagnierten.
* Die Protagonistinnen und Protagonisten der Zeit sind fiktive Figuren. Sie sind bei ihrer Erstnennung durch einen Asterisk gekennzeichnet.
** Auch wenn es sich um fiktive Geschichten handelt, stammen die Zitate sinngemäss aus Quellentexten.