Rudolf und Martha Messmer, ein Portrait aus den 1910er- und 1920er Jahren

Die angedrohte Heimplatz­ierung hängt wie ein Damoklesschwert über der Familie Messmer

Rudolf und Martha Messmer* haben früh gehei­ra­tet und gemein­sam vier Kinder. Rudolf Messmer arbei­tet in der Maschi­nen­fa­brik Escher Wyss. Er ist für das Erwerbs­ein­kom­men zustän­dig, gemäss Zivil­ge­setz­buch ist er das «Fami­li­en­ober­haupt».** Martha Messmer betreut die Kinder, führt den Haus­halt und bessert mit Heim­ar­beit das Einkom­men ihres Mannes auf. Sie flickt Kleider und wenn immer sich ihr die Möglich­keit bietet, putzt sie in besse­ren Quar­tie­ren Wohnun­gen und Amts­stu­ben. Die Kinder spielen nach der Schule im Freien. Das gehört an der Hein­rich­strasse zum gängi­gen Stras­sen­bild, ist den Sozi­al­re­for­mern der Stadt Zürich aber ein Dorn im Auge. Spiel­plätze gibt es keine. Die Wohn­ver­hält­nisse sind eng. Familie Messmer wohnt in zwei kleinen Zimmern. Das Ehepaar hat öfters Streit. Meis­tens sind die stän­di­gen Geld­sor­gen oder die Wirts­haus­be­su­che von Rudolf Messmer Anlass für die Ausein­an­der­set­zun­gen. Die Nach­barn beäugen die Familie schon länger miss­trau­isch. Als es «wieder einmal laut zu und her geht», wenden sie sich in einem anony­men Schrei­ben an die Amtsvor­mundschaft der Stadt Zürich, die sich an der nahe gele­ge­nen Seln­au­strasse befin­det. Diese schickt ein paar Tage später eine Fürsor­ge­rin vorbei, um die Lebens­ver­hält­nisse der Familie Messmer zu über­prü­fen. Sie betritt kurz vor Mittag unan­ge­mel­det die kleine Wohnung und nimmt sogleich «die unge­machten Betten und unge­lüf­te­ten Zimmer» wahr, wie sie später in ihrem Bericht vermerkt:

«Das Geschirr vom Morgen­es­sen steht noch auf dem Tisch, Essens­reste liegen auf dem Boden. Auch die Hygiene lässt zu wünschen übrig. Das Haar der Kinder ist unge­kämmt, die Hemden sind schmut­zig. Martha Messmer kommt ihren Haus­frau­en­pflich­ten nur unge­nü­gend nach. Auch der Vater macht keinen sehr reso­lu­ten Eindruck.» Die Vormund­schafts­be­hörde beschliesst auf Antrag der Amts­vor­mund­schaft, eine Fürsor­ge­auf­sicht zu errich­ten. Fortan besucht die Fürsor­ge­rin die Familie regel­mäs­sig und erteilt der Mutter Anwei­sun­gen zur Kinder­er­zie­hung und Haus­halt­füh­rung. Die ange­drohte Heimplatz­ierung hängt wie ein Damo­kles­schwert über der Familie Messmer.

Fakt

Im Kanton Zürich und insbe­son­dere in den Städten Winter­thur und Zürich entstan­den in der Zwischen­kriegs­zeit zahl­rei­che soziale Wohn­pro­jekte, um der Wohnungs­not zu begeg­nen. Gleich­wohl blieb der grosse Wohnungs­man­gel spürbar. Das Angebot blieb deut­lich hinter der Nach­frage zurück. Die Mieter­schutz­be­stim­mun­gen – in der Zeit des Ersten Welt­kriegs erlas­sen –, wurden in den 1920er-Jahren stufen­weise zurück­ge­nom­men und schliess­lich 1926 ganz abge­schafft. Die Folge davon waren rasch anstei­gende Miet­preise im Zeit­raum 1920 bis 1930, die anschlies­send auf hohem Niveau stagnier­ten.

* Die Prot­ago­nis­tin­nen und Prot­ago­nis­ten der Zeit sind fiktive Figuren. Sie sind bei ihrer Erst­nen­nung durch einen Aste­risk gekenn­zeich­net.

** Auch wenn es sich um fiktive Geschich­ten handelt, stammen die Zitate sinn­ge­mäss aus Quel­len­tex­ten.