Wenn Kinder im System in Not geraten

Timo möchte nicht mehr aufstehen. Zu gross ist seine Angst vor der Schule

Wenn Kinder nicht mehr in die Schule gehen, kann das alle Betei­lig­ten an die Grenzen bringen. So erlebt es auch Timos Familie, als Timo (11) immer mehr in Not gerät. «Man kommt auch selbst unter solch einen Druck, weiss kaum mehr, was richtig ist», erzählt seine Mutter. «Hat man es nicht selbst erlebt, kann man sich das kaum vorstel­len.» Die passende Lösung zu finden, ist ein Balan­ce­akt, braucht Fein­ge­fühl und Fach­wis­sen.

«Ich war einfach so fest traurig. Hatte Bauch­weh und Kopf­schmer­zen», erzählt Timo*. Warum er so traurig war, kann er gar nicht recht erklä­ren. Timo ist ein inter­es­sier­ter Schüler, hat gut in der Schule gestar­tet. Ab der dritten Klasse zeigt sich aller­dings eine Lese-Recht­schreib­schwä­che (LRS). Das bedeu­tet: Den Schul­stoff zu verar­bei­ten, dauert für Timo etwas länger. Seine Lehre­rin spricht ihm mehr Zeit zu, versi­chert, auf seine Fragen einzu­ge­hen. Dennoch reicht es nicht immer dazu im Unter­richts­all­tag. Timo möchte mit seinen Fragen aber auf keinen Fall auffal­len. Also strengt er sich umso mehr an. Denn Timo möchte alles richtig machen.

Als in der fünften Klasse weitere Fächer hinzu­kom­men und die Stoff­menge zunimmt, stauen sich seine Fragen an. Timo gerät unter Druck, muss immer öfter weinen beim Einschla­fen, bald auch beim Aufwa­chen. Der Schul­weg wird zur Hürde. Timos Mutter wendet sich an die Klas­sen­lehr­per­son. Bis im Sommer beru­higt sich die Situa­tion, kaum sind die Sommer­fe­rien vorbei, packt die Trau­rig­keit Timo aber wieder wie ange­wor­fen.

Vom Einzel­un­ter­richt zur Ohnmacht

Aussen­ste­hende meinen oft, eine Lösung sei schnell gefun­den. Unter Fach­per­so­nen dagegen gilt Schul­ab­sen­tis­mus als grosse Heraus­for­de­rung: Die Hinter­gründe sind komplex, vieles spielt zusam­men. Nicht immer können Kinder aber formu­lie­ren, was sie so stark belas­tet. Ängste ernst zu nehmen, sie aber durch Schonen auch nicht weiter anwach­sen zu lassen, ist ein Balan­ce­akt. Und: Jeder Fall ist anders. Gleich­zei­tig fehlen an Schulen oft die Kapa­zi­tä­ten, um Kinder indi­vi­du­ell beglei­ten zu können.

Um in solchen Situa­tio­nen sowohl die Schulen wie auch die Kinder, deren Eltern und die Kinder- und Jugend­hilfe zu entlas­ten, gibt es die Anlauf­stelle «Mobile Inter­ven­tion bei Jugend­kri­sen» (MIK). Ihr Team besteht aus erfah­re­nen Sozi­al­ar­bei­ten­den, Psycho­lo­gin­nen und Psycho­lo­gen. Anders als die Schulen hat das Team die Ressour­cen und das Fach­wis­sen, um eng mit den Fami­lien zusam­men­zu­ar­bei­ten. Zum Beispiel auch um zu ihnen nach Hause zu gehen, Aufklä­rungs- und Vermitt­lungs­ar­beit zu leisten.

Auch bei Timo wird eine Fach­per­son der Anlauf­stelle MIK beigezo­gen. Um Timos Ängste besser zu verste­hen und auch die Familie als Ganzes zu stärken. Denn allmäh­lich kämpft auch Timos Mutter mit der Erschöp­fung. Sie ist allein­er­zie­hend, möchte auch Timos älterem Bruder gerecht werden, während der Arbeit­ge­ber Druck macht, sie fehle zu viel. Zusam­men mit der Schule suchen sie nach Lösun­gen. Etwa dass Timo probe­weise für sich alleine in einem Lern­raum arbei­tet und paral­lel dazu thera­peu­ti­sche Unter­stüt­zung bekommt. Als das nicht funk­tio­niert, wird er vorüber­ge­hend von Noten befreit und einzeln unter­rich­tet. Der Druck, das Verpasste möglichst schnell aufzu­ho­len, belas­tet Timo aber so fest, dass bald gar nichts mehr geht. Für den drei­mi­nü­ti­gen Schul­weg braucht er bald über eine Stunde. Bei der Schul­haus­treppe ange­kom­men, klam­mert er sich am Gelän­der fest.

Die Schule kommt an die Grenzen. Ihre inter­nen Möglich­kei­ten sind ausge­schöpft. Als nächs­ter Schritt stünde ein Aufent­halt in einer psych­ia­tri­schen Klinik an. Für Timos Familie ein enormer Schritt. Sie befürch­ten, Timo könnte mit seinen elf Jahren daran zerbre­chen.

Entlas­tung durch Abstand und drei Huskys

In dieser schwie­ri­gen Situa­tion öffnet sich ein neues Fenster, für die Familie kurz vor der totalen Verzweif­lung: Die Fach­per­son der Anlauf­stelle MIK findet einen frei werden­den Platz bei der psych­ia­tri­schen Spitex. Eine Fach­stelle, die Kinder bei grossen Belas­tun­gen lang­fris­tig im Alltag beglei­ten kann. Sie kann Timo vermit­teln. Und die Lösung scheint mit jenem Quänt­chen Glück verbun­den zu sein, das die Familie so drin­gend brau­chen kann: Sie scheint die passende zu sein für Timos Not.

Timo bekommt fortan jeden Tag Besuch von Spitex-Fach­mann Stefan. Mit im Gepäck: drei Husky-Hunde. Diese wirken wie Eisbre­cher. Mit ihnen zusam­men traut sich Timo seit Monaten erst­mals wieder ohne Familie für kurze Gassi­run­den aus dem Haus. In kleinen Schrit­ten erlangt er wieder Sicher­heit. Timo erzählt: «Stefan machte nie Druck, fragte immer, wie es mir gerade geht. Er war einfach nur da für mich.»

Stefan empfiehlt in Timos Fall, vorüber­ge­hend konse­quent Abstand von der Schule zu nehmen. Er über­nimmt die Koor­di­na­tion, infor­miert alle Betei­lig­ten. Timo wird krank­ge­schrie­ben. Zum ersten Mal hat die Familie das Gefühl, einen Moment inne­hal­ten und sich in Ruhe fragen zu können: Was braucht Timo jetzt eigent­lich wirk­lich? Und was passiert, wenn wir ihm nun erst einmal Zeit geben, sich richtig zu erholen?

Die passende Lösung

Rück­bli­ckend sieht Timos Mutter: Alle haben sich bemüht. Bei Timo schien es aber der falsche Weg gewesen zu sein, ihn so schnell wie möglich in die Schule zurück­füh­ren zu wollen. «Wer sich das Bein bricht, braucht ja auch erst einen Moment Zeit zum Heilen. Timo hätte das wohl auch gebraucht. Doch man kommt in dieser Situa­tion auch selbst unter solch einen Druck, weiss kaum mehr, was richtig ist.» Mit etwas Abstand merkt die Familie: Zurück in der Regel­schule würde Timo wieder in die gleiche Not geraten. Um seine vielen Stärken einbrin­gen zu können, können sie sich für ihn nur einen klei­ne­ren Rahmen vorstel­len. Doch wer sich keine Privat­schule leisten kann, braucht dafür einen Sonder­schul­sta­tus – und dieser ist für Kinder mit einer Lese-Recht­schreib­schwä­che nicht vorge­se­hen.

Nach der Pause orga­ni­siert die Familie mit der Spitex selbst­stän­dig einen Schnup­per­platz an einer Schule mit kleinen Klassen, versuchs­weise. Und tatsäch­lich scheint der kleine Rahmen die Lösung zu sein: Timo öffnet sich wieder für die Schule, steht am Morgen auf, will früh genug bereit sein. Im Unter­richt stellt er Fragen, kommt mit seinem Tempo nicht mehr unter Druck, kann seine Ängste ablegen.

Timo scheint am für ihn rich­ti­gen Ort zu sein. Offen bleiben aller­dings die Fragen: Kann sich die Familie diese Lösung leisten? Und wenn nicht, was dann? Timo hat eben erst wieder vorsich­tig Vertrauen in sich und seine Fähig­kei­ten gefasst. Wenn er zurück in die Regel­schule gehen muss, was würde ein erneu­ter Wechsel mit ihm machen?

* Name durch die Redak­tion geän­dert

Sie brau­chen Unter­stüt­zung?

Timo ist nicht das einzige Kind, das Angst hat, in die Schule zu gehen. Kinder müssen in ihrer Angst ernst­ge­nom­men werden. Denn meist steckt mehr dahin­ter. Die Gründe können verschie­den sein Damit die Hinter­gründe verstan­den und weit­rei­chende Folgen vermie­den werden können, müssen alle Betei­lig­ten hinschauen und gemein­sam handeln mit dem Ziel, die Kinder zu stärken. Zum Fach­ge­spräch über Schul­ab­sen­tis­mus

Bei der Anlauf­stelle «Mobile Inter­ven­tion bei Jugend­kri­sen» finden Betrof­fene rasch und unkom­pli­ziert Bera­tung und Unter­stüt­zung. Das Team besteht aus erfah­re­nen Sozi­al­ar­bei­ten­den und Psycho­lo­gin­nen und Psycho­lo­gen. Das Angebot ist kosten­los.