Schulabsentismus

Wenn Kinder nicht mehr in die Schule gehen, fühlen sich Eltern oft hilflos

Wenn Kinder der Schule fern­blei­ben, setzt das ihr Umfeld meist unter enormen Druck. Verschie­dene Gründe können dahin­ter stecken, vieles hängt mitein­an­der zusam­men. Eine Lösung für alle gibt es nicht. Denise Ernst von der Anlauf­stelle «Mobile Inter­ven­tion bei Jugend­kri­sen» sagt: «Als Eltern sollten Sie achtsam sein und schnell Unter­stüt­zung holen.»

Denise Ernst, bei der «Mobilen Inter­ven­tion bei Jugend­kri­sen» (MIK) haben Sie oft mit Jugend­li­chen zu tun, die nicht mehr in die Schule gehen. Warum ist das Thema so anspruchs­voll?
Zum einen sind die Ursa­chen sehr indi­vi­du­ell und viel­fäl­tig: In manchen Fällen stecken hinter dem schul­ver­mei­den­den Verhal­ten eine Leis­tungs­angst, soziale Ängste, Mobbing oder depres­sive Verstim­mun­gen, in anderen flüch­ten sich Jugend­li­che in eine Paral­lel­welt und spielen stun­den­lang Compu­ter­spiele oder sind am Handy online und finden keine Moti­va­tion zur Schule zu gehen. In wieder anderen Fällen steht die Sorge um Fami­li­en­mit­glie­der im Fokus, zum Beispiel um eine kranke Mutter oder ein jünge­res Geschwis­ter, das betreut werden muss. Zum andern löst die Situa­tion einen grossen Druck auf die Betrof­fe­nen, ihre Fami­lien aber auch auf das Schul­sys­tem aus. Jugend­li­che haben Schul­pflicht, Eltern haben die Pflicht dafür zu sorgen, dass ihre Kinder diese wahr­neh­men. Schulen stehen in der Pflicht, die Jugend­li­chen zu beschu­len. Wenn diese Pflich­ten nicht erfüllt werden können, löst dies eine grosse Ohnmacht und oft auch Scham auf allen Seiten aus. Diese hindert viele Fami­lien daran, sich Hilfe zu holen.

Wie können die Fach­per­so­nen der Anlauf­stelle MIK die Jugend­li­chen und ihre Fami­lien unter­stüt­zen?
Wenn Kind und Eltern bereit sind, können wir unkom­pli­ziert, zeitnah und unab­hän­gig mit den Fami­lien arbei­ten. Wir haben zum Beispiel die Möglich­keit, sie zu Hause zu besu­chen, was ein grosser Vorteil ist. Auch können wir die Jugend­li­chen und ihre Themen ins Zentrum stellen und haben nicht in erster Linie die möglichst rasche Rück­kehr in die Schule im Fokus. Dies natür­lich auch, aber oft braucht es einen Schritt zurück, um zu erken­nen, wo die Jugend­li­chen Unter­stüt­zung brau­chen, was ihnen hilft und was sie daran hindert, zur Schule zu gehen. Die Schule bleibt dabei in der Verant­wor­tung, die Schul­pflicht einzu­for­dern. Dies ist sehr wichtig. Jugend­li­che müssen spüren, dass ihr Fern­blei­ben auffällt und sie in der Klasse fehlen.

Wie gehen Sie konkret vor?
Wir stellen stets die Jugend­li­chen und ihre Bedürf­nisse ins Zentrum. Von da aus richten wir den Blick auf Lösun­gen: Wer braucht was in diesem Fall? Brau­chen sie Unter­stüt­zung, ihre Bedürf­nisse zu formu­lie­ren? Gerade wenn Ängste im Spiel sind, gilt es, die rich­tige Balance zwischen Entlas­tung und Forde­rung zu finden: Druck zu redu­zie­ren, kann entlas­ten und Ener­gien frei­set­zen. Bei zu viel Scho­nung wiederum besteht die Gefahr, dass sich die Ängste verstär­ken und es den Jugend­li­chen nicht mehr gelingt, ihre Entwick­lungs­schritte zu meis­tern und den Weg in den Alltag zu finden. Wir versu­chen immer, die Familie als Ganzes zu stärken. Den einen Lösungs­weg gibt es aber nicht. Dafür sind die Hinter­gründe zu komplex und viel­fäl­tig.

Sie finden aber Lösun­gen?
Wir finden nicht immer auf Anhieb die passende Lösung. Die Gründe sind viel­fäl­tig und Schul­ab­sen­tis­mus ist ein Ausdruck davon. Je nach Ursa­chen braucht es andere Lösungs­wege. Gemein­sam suchen wir ein Jugend­coa­ching, eine Fami­li­en­be­glei­tung, ein Timeout, eine Thera­pie, einen vorüber­ge­hen­den Aufent­halt in einer Klinik.

Was braucht mein Kind, wenn es nicht mehr in die Schule geht?

Empfeh­lun­gen von Fach­per­so­nen der Anlauf­stelle MIK

Aufmerk­sam sein und schnell reagieren
Wenn Kinder öfter oder aus unkla­ren Gründen fehlen, sind das Hilfe­rufe. Warten Sie nicht lange ab, sonst könnten sich Ängste und Vermei­dungs­ver­hal­ten verfes­ti­gen.

Gespräch suchen und Verständ­nis zeigen
Fragen Sie ohne Druck nach: Was belas­tet dich? Was fehlt dir? Wo können wir dich unter­stüt­zen?

Balance finden zwischen Stärken und Entlas­ten
Gerade wenn Ängste im Spiel sind, brau­chen Kinder Stär­kung und Vertrauen, damit sich die Ängste durch zu starkes Schonen nicht verfes­ti­gen und der Schritt in den Alltag wieder gelingt.

Mit der Schule zusam­men­ar­bei­ten
Ändert sich nichts, wenden Sie sich schnell an die Ansprech­per­so­nen der Schule: die Schul­lei­te­rin, die Klas­sen­lehr­per­son, die Schul­so­zi­al­ar­bei­ten­den, die Schul­psy­cho­lo­gen. Auch die Fach­per­so­nen der Anlauf­stelle MIK sind für Sie da.

Unter­stüt­zung anneh­men
Das Thema ist belas­tend für alle. Der Druck von allen Seiten hoch. Verges­sen Sie nicht, sich auch selbst gut Sorge zu tragen und allen­falls Unter­stüt­zung anzu­neh­men.

Denise Ernst leitet seit 2023 die Anlaufstelle Mobile Intervention bei Jugendkrisen.

Denise Ernst

Denise Ernst leitet seit 2023 die Mobile Intervention bei Jugendkrisen. Sie hat eine Ausbildung in Sozialer Arbeit und Weiterbildungen in Public Management sowie Leadership und Organisationsentwicklung. Zuvor hat sie in der Kinder- und Jugendhilfe der Stadt Zürich gearbeitet.