Eliane und Céline

Wenn Zusammenleben nicht guttut

Nach einem langen Leidens­weg fand Eliane endlich die rich­tige Hilfe für sich und Tochter Céline. Trotz aller Schwie­rig­kei­ten blicken die beiden heute hoff­nungs­voll nach vorne.

Eliane (50) lebt eigent­lich mit ihrer Tochter Céline (14) zusam­men. Aber Céline ist nicht da. Sie ist im Spital, noch eine ganze Weile. Es geht ihr besser. Und auch der Mutter geht es besser. Beiden geht es jedoch noch nicht gut genug. Die Geschichte ist eine schwie­rige. Es geht um eine Mutter und eine Tochter, die sich lieben und trotz­dem nicht mitein­an­der leben können. Weil sie sich gegen­sei­tig nicht guttun, sagt die Mutter. Die trau­rige Geschich­te be­inhaltet aber auch etwas Schönes. Deshalb möchte die Mutter darüber be­richten.

Eliane war lange eine enga­gierte, mutige Poli­zis­tin. Dann wurde sie Mutter – und eine Andere, Ängst­li­chere. Währ­­end sie in ihrer Wohnung in Nürens­dorf zu erzählen beginnt, blickt sie immer wieder aus dem Fenster, zum Wald und der Wiese hinüber. In dem Jahr, als ihre Tochter acht Jahre alt wurde, brach sie, die Mutter, zusam­men. Während einer Fahrt auf der Auto­bahn spürte sie plötz­lich, dass sie die Kontrolle über ih­r­en Körper verlor, und sie musste auf dem Pannen­strei­fen anhal­ten, konfron­tiert mit einer Panik­at­ta­cke. Post­trau­ma­ti­sche Belas­tungs­stö­rung lautete später die Diagnose. Und spätes­tens ab jetzt war wirk­lich nichts mehr wie zuvor.

Zuvor, das war: getrennt und prak­tisch allein­er­zie­hend, seit Céline fünf war, sowie enga­giert in dem Beruf, der sie oft auch Schlim­mes erleben liess. Beim Flug­zeug­ab­sturz im Novem­ber 2001 in Bassers­dorf etwa war sie als Erste vor Ort. Sie musste auch illegal einge­reiste Passa­giere vom Gefäng­nis ins Flug­zeug verfrach­ten und Verkehrs­un­fälle mit Todes­folge miter­le­ben. Nach dem Zusam­­menbruch suchte sie eine Krisen­in­ter­ven­tion auf und wies sich später selber in eine Klinik ein. Céline wohnte zuerst beim Vater, dann bei Elianes Mutter, dann noch­mals woanders – «meine Tochter erlebte in diesem Jahr viel Unsi­cher­heit», erzählt die Mutter, «auch weil ich immer wieder Rück­schläge hatte.» Schon zuvor war Céline wieder­holt in Ohnmacht gefallen, es kamen auch bei ihr Angstzustände dazu. Es war der Anfang einer langen, dunklen Zeit. Eliane kam nicht zurück auf die Beine, über Jahre hatte sie immer wieder Rück­schläge und keine stabile Arbeit. Nachdem Céline schliess­lich mit zwölf einen Zusam­men­bruch erlitt und darauf­hin der Schule fern­blieb, folgten mehrere Monate im Spital und danach in einem Heim – «Letz­te­res war der falsche Ort», sagt die Mutter rück­bli­ckend. Sie strebte für ihre Tochter eine andere Lösung an und geriet nun, selber noch immer nur ein Schat­ten ihrer selbst, in Konflikt mit Heim- und Schulverantwort­lichen. Hilfe holte sie keine, zu gross war ihre Angst, das kön­nte dazu führen, dass ihr Céline wegge­nommen würde. Sie hatte den Eindruck, dass niemand ihre Tochter verstehe, fühlte sich ohnmäch­tig und selber von allen missverstanden, selbst von Freun­den.

Bei einem der Treffen mit den Heim- und Schul­ver­ant­wort­li­chen war auch eine Sozi­al­ar­bei­te­rin des AJB anwe­send. «Sie sagte lange nichts. Aber als sie dann sprach, ganz bedäch­tig, konnte ich es kaum fassen: Sie nahm uns ernst! Und ihre leisen Worte hatten die Wirkung eines Trom­mel­schlags», sagt Eliane. Wie ein Anker, an dem sie sich fest­hal­ten könne, sei ihr die kompe­tente und fein­füh­lige Sozi­al­ar­bei­te­rin vorge­kom­men. Und plötz­lich konnte sie selber loslas­sen. An diesem Punkt der Geschichte ange­langt, faltet Eliane ihre Hände und atmet hörbar durch. «Dann schrieb ich der Sozi­al­ar­bei­te­rin einen langen Brief, in dem ich sie darum bat, Célines Beistän­din zu werden. Sie willigte ein. Jetzt redet sie mit den Schul- und Heim­ver­ant­wort­li­chen und trifft Entschei­dun­gen. Und sie macht es so gut, wie ich geahnt hatte. Ich bin so dankbar.»

Zurzeit ist Céline wieder im Spital, «in guter Behand­lung und in passen­der Gesell­schaft». Sie kommt auch am Wochen­ende nicht mehr nach Hause. Eliane vermisst sie dann, aber es stim­mt sie zuver­sicht­lich. Sie wusste längst, dass es – bei aller gegenseiti­gen Liebe – ihr und auch ihrer Tochter nicht guttat, wenn sie zusam­men­wohn­ten: «Die Stille zu Hause, es sind ja keine anderen Menschen da, und mein Ruhe­be­dürf­nis: Das war nichts für sie. Sie braucht noch immer viel Zuwen­dung und Austausch, sonst fällt sie schnell wieder in ein Loch.»

Mama, zieh diese Kappe aus, ich will mich nicht schämen müssen!»
«Sie reibt sich an mir! Endlich!

Es ist ein dunkler Tag im Winter, aber in der Stube wird die Stim­mung heller. Denn Eliane spürt Erleich­te­rung und Zu­versicht, seit sie loslas­sen konnte. «Jetzt sind wir auf der rich­ti­gen Schiene. Ich sehe Verän­de­run­gen. Kürz­lich schimpfte Céline: ‹Mama, zieh diese Kappe aus, ich will mich nicht schämen müssen!›» Eliane lacht: «Sie reibt sich an mir! Endlich!»

Es brauche gar nicht viel, damit es aufwärts­gehe, sagt Eliane noch, «eigent­lich geht es nur darum, dass da jemand ist, der einen ernst nimmt und versteht.»

Text: Esther Banz