Perfektionismus bei Kindern hat viele Gesichter
Samstag, 20. Juni 2020. In einem Workshop des Online-Elternbildungstages setzen sich Eltern mit «Perfektionismus bei Kindern» auseinander. Das Thema scheint Eltern umzutreiben, der Workshop war bereits Wochen vor der Durchführung des Elternbildungstages ausgebucht.
Viele der teilnehmenden Eltern erkennen Charakterzüge ihrer Kinder wieder, als Workshopleiterin Kathrin Berweger Konzelmann Kinder mit «perfektionistischen Tendenzen» beschreibt. So zum Beispiel:
Mia (11 Jahre, Name geändert) setzt ihre Ideen im bildnerischen Gestalten sehr geschickt und handwerklich gekonnt um. Sie arbeitet dabei äusserst exakt. Schon wenige Millimeter Abweichung stören sie mächtig. Was im gestalterischen Kontext zu wunderbaren, hochwertigen Projekten führt, verursacht im Schulkontext Schwierigkeiten. Dort fällt sie durch ein sehr langsames Arbeitstempo auf.
Michi (8 Jahre, Name geändert) ist ein sehr kreativer Denker. Eine Idee nach der anderen entspringt seinen Gedanken. In etwas schwierigeren Situationen denkt er jedoch schnell, dass er das nicht umsetzen könne. Dann ist auf einmal alles andere wichtiger und Michi weicht von seinen Ideen ab und auf andere Themen aus.
Die Workshopleiterin fasst die Merkmale folgendermassen zusammen:
- hoher Selbstanspruch
- Angst vor Fehlern und Fremdbeurteilung, Unsicherheit
- Ordnungsliebe
- Langsamkeit
- geringe Frustrationstoleranz
- geringe Übungsbereitschaft
- geringe Startmotivation
Schmunzelnd erläutert Kathrin Berweger, was mit Ordnungsliebe gemeint ist. «Viele Eltern lachen in der Beratung und sagen: ‹Nein, nein, das Zimmer meines Kindes ist überhaupt nicht ordentlich!› Allerdings muss sich dieser Wesenszug nicht zwangsläufig mit einem aufgeräumten Zimmer ausdrücken. Es kann sich auch dadurch zeigen, dass das Kind zum Beispiel geordnete Abläufe bevorzugt.»
Zwei Arten von Perfektionismus
Die Referentin erklärt den Eltern, dass es zwei Arten von Perfektionismus gibt: den «funktionalen» und den «dysfunktionalen» Perfektionismus. Viele der genannten Merkmale haben mit letzterem zu tun. Beide Versionen zeichnen sich durch perfektionistisches Streben ab: Streben nach Vollkommenheit, hohe Ansprüche an sich selbst und an das, was man tut. Was per se eigentlich keine schlechten Eigenschaften sind.
Die beiden unterscheiden sich jedoch in einem anderen Aspekt entscheidend: der funktionale Perfektionismus ist mit einer hohen Fehler- und Risikobereitschaft und dem Willen, intensiv zu üben und zu lernen, gekoppelt. Beim dysfunktionalen Perfektionismus spielt eine übertriebene Fehlervermeidung, eine Angst vor Fehlern, mit, die «perfektionistische Besorgnis»: Leistungszweifel, Fehlersensibilität, Angst vor Bewertung.
Vermeidungsstrategien
Beim dysfunktionalen Perfektionismus kann die Angst vor Fehlern und vor einer negativen (Selbst-)Bewertung zu diversen Vermeidungsstrategien führen. «Gelingt etwas nicht, sind die Kinder schnell frustriert oder reagieren sogar sehr wütend. Das Kind ist vielleicht schnell abgelenkt, scheint hartnäckig nicht zuzuhören oder es entzieht sich einer Situation», erläutert Kathrin Berweger, «oder es hat plötzlich ganz viele (andere) Ideen, die vom negativen Gefühl, etwas nicht zu können, ablenken.»
So kann eine Negativspirale entstehen: Das Kind denkt, dass es eine Aufgabe nicht kann, vermeidet die Situation konsequent und macht deshalb auch keine Lernerfolge − und schon denkt das Kind immer wieder «ich kann es ja sowieso nicht».
Was brauchen Kinder mit perfektionistischen Tendenzen?
Kathrin Berweger ermuntert die Eltern, aufmerksam die Signale des Kindes zu lesen und ihm zu helfen, mit seiner Gefühlswelt zurecht zu kommen. Und mit ihm alternative Wege und Lösungen zu suchen, damit es sich ermutigt und bestärkt neuen Herausforderungen stellen kann.
Zusammengefasst einige Anregungen
- Beobachtungen und Gefühle benennen
Benennen Sie, was Sie bei Ihrem Kind beobachten – wert- und urteilsfrei. «Ich sehe, du bist richtig frustriert, dass dir das nicht so gelingt, wie du es dir wünschst». «Das scheint jetzt eine unlösbare Situation für dich zu sein …». Geben Sie dem Kind wenn möglich Zeit, seine Gefühle etwas zu sortieren und dann selber eine Lösung für das Problem zu entwickeln. - Helfen, in Varianten zu denken
Wie könnte man das auch noch anders machen? Wie hättest du wieder Lust, da dran zu bleiben? Prüfen Sie gemeinsam Varianten. Ermutigen Sie Ihr Kind, etwas auszuprobieren – auch wenn es sich nicht sicher ist, ob es das schon kann. Falls das Kind blockiert ist, finden Sie gemeinsam heraus, was ihm helfen könnte. Kann die Aufgabe vereinfacht werden, damit der Anfang besser gelingt? Kann zuhause bereits etwas geübt werden, damit sich das Kind dann allenfalls in eine externe Situation hinein wagt? - Wann braucht es was?
Reden Sie mit Ihrem Kind darüber, dass je nach Situation unterschiedliche Vorgehensweisen passen. Soll etwas vor allem schnell gehen – und es ist gar nicht schlimm oder gehört sogar dazu, dass es nicht perfekt gemacht ist? Oder braucht es in einer anderen Situation eine ganz exakte, fehlerfreie Umsetzung? - Reise zu mehr Fehlertoleranz
Was würde passieren, wenn das jetzt nicht fehlerfrei daher kommt? Machen Sie sich mit Ihrem Kind auf eine Reise zu mehr Fehlertoleranz! Vielleicht entdecken Sie Situationen, in denen «Fehler machen» hilfreich oder auch lustig sein kann. Und erzählen Sie Ihrem Kind, wie Sie mit Ihren eigenen Fehlern umgehen. Wo sind Sie letztens grandios gescheitert? Auch uns Erwachsenen gelingt nicht immer alles. - Wie gehen Sie mit Ihren eigenen Ansprüchen um?
Wie erleben Sie es, wenn Ihnen Fehler passieren? Wo erleben Sie die eigenen Ansprüche als hemmend, wo als hilfreich? Manchmal fällt ja der Apfel nicht weit vom Stamm … Es gibt Situationen, in denen keine Fehler angesagt sind. Hohe (altersangepasste) Erwartungen an Kinder zu haben, kann sie anspornen. Fragen Sie sich jedoch, was Ihr Kind in seinem Lernprozess gerade braucht. In vielen Situationen ist die Motivation und die Freude am Lernen für Kinder das Wichtigste.