Erziehungsexpertin Margrit Stamm

«Eltern können ihr Kind nicht stark machen. Kinder müssen selbst stark werden»

Eltern­sein ist ein Balan­ce­akt: Mütter und Väter wollen ihre Kinder fördern, ohne sie zu über­for­dern. Sie wollen Nähe und Gebor­gen­heit bieten, zugleich aber die Selbst­stän­dig­keit des Nach­wuch­ses fördern. Wie kann das gelin­gen? Darüber spricht Erzie­hungs- und Bildungs­wis­sen­schaft­le­rin Margrit Stamm im Inter­view.

Vom Schwimm­kurs über Musik­un­ter­richt bis zu Früh­eng­lisch: Es gibt enorm viele Förder­pro­gramme für Kinder. Margrit Stamm, dürfen Eltern ein Kind zu einem solchen Angebot verknur­ren, obwohl es das nicht will – weil sie finden, das wäre gut fürs Kind?
In Studien unseres Forschungs­in­sti­tuts Swiss Educa­tion zeigt sich immer wieder, dass Eltern denken: Für unser Kind wäre es gut, wenn es Ballett macht, ins Judo geht und so weiter. Man versucht dann, die Kinder zu etwas zu über­re­den – aber teil­weise sagen die Kinder halt: «Nein, ich möchte das nicht.» Das ist dann die erste Grat­wan­de­rung für die Eltern. Ich finde, gerade im Bereich des ausser­schu­li­schen Enga­ge­ments – Musik, Sport, Kunst – ist es wichtig, dass Kinder sagen dürfen, was sie wollen und was nicht, und dass Eltern auf diese Inter­es­sen achten. Denn oft genug über­tra­gen Eltern ihre eigenen Inter­es­sen oder das, was sie in ihrer eigenen Jugend nicht machen durften, auf ihren Nach­wuchs. Tennis am Mitt­woch, Fuss­ball am Donners­tag: Für viele Kinder wird das zum Frei­zeit­stress.

Es ist ein Balan­ce­akt: Eltern wollen ja nur das Beste für ihr Kind.
Ich muss die Eltern auch etwas in Schutz nehmen. Sie werden von den Schul­ver­ant­wort­li­chen, von den Medien und der Gesell­schaft ständig schul­dig gespro­chen. Es heisst immer, die Eltern seien zu ehrgei­zig, sie würden die Kinder über­for­dern. Sie sollen auch immer schuld sein, wenn sich das Kind nicht positiv entwi­ckelt. Aber Eltern sind nicht immer schuld. Oft geht verges­sen, dass die Schule heute sehr viel von den Eltern erwar­tet. Sie sollen ihre Kinder bitte bei den Haus­auf­ga­ben beglei­ten, sie unter­stüt­zen, wenn sie eine Power­point-Präsen­ta­tion vorbe­rei­ten müssen und so weiter. Da ist es nur logisch, dass sich Eltern verpflich­tet fühlen, ihr Kind zu unter­stüt­zen und es quasi auf die Bühne schie­ben, damit es bril­lie­ren kann. Wie sehr die Eltern selbst unter Druck stehen, ihr Kind in der Schule zu unter­stüt­zen, wird in unserer Gesell­schaft viel zu häufig über­se­hen. Weil viele Eltern berufs­tä­tig sind, wird das zu einer Heraus­for­de­rung, wie sie diese Anfor­de­rung mit ihrem knappen Zeit­bud­get über­haupt hinkrie­gen sollen.

Oft geht verges­sen, dass die Schulen heute sehr viel von den Eltern erwar­ten.

In einem Referat am kanto­na­len Eltern­bil­dungs­tag haben Sie jüngst gesagt: Eltern sollten ihrem Kind mehr zutrauen, es ein Stück weit loslas­sen. Können Sie erklä­ren, was Sie damit genau meinen?
Bis vor rund 20 Jahren wurden Kinder auto­ri­tär erzogen. Dieser Erzie­hungs­stil basierte nicht auf Vertrauen, sondern auf Angst und Bestra­fung. Die Bezie­hung zum Kind, wie wir sie heute pflegen, kam in der dama­li­gen Zeit zu kurz. Auch ich bin so aufge­wach­sen. Dafür durften wir noch selbst­stän­dig sein. Wir konnten uns in der Frei­zeit frei entfal­ten und wurden nicht dauernd über­wacht. Die Balance hat damals nicht gestimmt: viel Auto­ri­tät, wenig Vertrauen, wenig Gefühle. Heute ist es eigent­lich umge­kehrt: Die fürsorg­li­che, bedürf­nis­ori­en­tierte Erzie­hung ist stark ausge­prägt. Kinder erfah­ren viel Nähe, Vertrauen, Liebe und Fürsorge. Dafür ist der Raum für Selbst­stän­dig­keit teil­weise eng bemes­sen. Ich nenne das den Flügel­raum, weil es darum geht, seine Flügel zu entfal­ten. Manche Kinder dürfen sich heute nicht mehr von Eltern entfer­nen, sie werden dauer­kon­trol­liert. Sie haben zwar gute Wurzeln, aber zu wenig Selbst­stän­dig­keit. Zu wenig Raum für ihre Flügel. Die Balance stimmt also wieder nicht.

Was macht das mit Kindern, wenn sie so behütet aufwach­sen?
Ich spreche sogar von Über­be­hü­tung. Überall heisst es heute: Wir wollen starke Kinder. Aber ein Kind kann nicht stark werden, wenn es über­be­hü­tet erzogen wird. Eltern können ihr Kind nicht stark machen. Kinder müssen selbst stark werden. Und wirk­lich stark wird man nur, wenn man Flügel bekommt, wenn man selbst­stän­dig werden darf, wenn die Eltern einem etwas zutrauen. Dieses Zutrauen beinhal­tet auch, dass Eltern das Kind einmal allein auf den Spiel­platz gehen lassen, ohne dass sie es kontrol­lie­ren oder mit einer App tracken. Es gibt Kinder, die können Probleme nicht mehr selbst lösen, und oft wird ihnen auch nicht mehr zuge­traut, einen Konflikt mit anderen Kindern allein auszu­tra­gen. Die Eltern stehen immer beschüt­zend vor ihnen. Dabei wäre unser Ziel ja, aus Kindern mündige Menschen zu machen, die selbst­ver­ant­wort­lich, selbst­be­wusst und ziel­ori­en­tiert durchs Leben gehen.

Zusam­men­ge­fasst heisst das: Eltern sollten auch einmal einen Schritt Abstand nehmen und ihrem Kind sagen: «Du kriegst das schon allein hin. Versuch es mal.»
Auf jeden Fall. Eltern müssen schon früh kleine Schritte in diese Rich­tung wagen und immer im Blick haben, dass das Kind dadurch psycho­lo­gisch wider­stands­fä­hig werden soll. Ich bin selbst Mutter und weiss, dass das nicht immer einfach ist, weil man sich ständig um die Kinder sorgt. Wenn man sagt «Du schaffst das jetzt allein», erhält das Kind aber eine Chance auf ein Erfolgs­er­leb­nis.

Kinder erfah­ren viel Nähe, Vertrauen, Liebe und Fürsorge. Dafür ist der Raum für Selbst­stän­dig­keit teil­weise eng bemes­sen.

Können Sie ein Beispiel dafür machen?
Der zehn­jäh­rige Sohn hat draus­sen mit einem Freund Fuss­ball gespielt und dabei eine Scheibe in der Garage des Nach­barn einge­schla­gen. Üblich ist, dass die Mama oder der Papa zum Nach­barn geht und sich dafür entschul­digt. Ein erster kleiner Schritt zu mehr Selbst­stän­dig­keit könnte sein, dass die Eltern mit dem Sohn abma­chen: «Wir gehen zusam­men zum Nach­barn. Ich läute an der Tür, aber du erklärst ihm dann, was du gemacht hast, und entschul­digst dich. Ich stehe während­des­sen hinter dir.» Das kann man zu Hause auch üben. Das wäre ein kleines Beispiel für den Alltag. Wenn der Sohn das geschafft hat, ist es für ihn ein Gefühl des Erfolgs. So etwas meine ich mit «kleinen Schrit­ten»: Dass man etwas Distanz zum Kind entwi­ckeln und es mitein­be­zie­hen muss, auch in schwie­rige Situa­tio­nen. Dass es auch einmal selbst etwas tun muss, statt ihm alles abzu­neh­men.

Ab welchem Alter kann man mit Kindern auf Augen­höhe darüber disku­tie­ren, was sie gut finden oder was sie nicht machen wollen? Zum Teil wird das heute schon mit sehr kleinen Kindern gemacht – etwas, das Sie in Ihrem Podcast stark kriti­siert haben.
Das ist eine wich­tige Frage, die viele Eltern beschäf­tigt. Erst letzt­hin habe ich eine Freun­din getrof­fen, die Mutter ist und mit ihren Kindern an der Aare war. Ihre Tochter wollte dann unbe­dingt eine Glace haben, doch am Kiosk gab es eine lange Schlange. Daher hat die Mama gesagt: «Wir haben keine Zeit, um so lange zu warten. Es gibt heute keine Glace.» Darauf hat die Tochter mit einem Trotz­an­fall reagiert. Das zeigt: Kinder können schon früh ausdrü­cken, was sie wollen. Das Problem ist, dass Eltern bei der bedürf­nis­ori­en­tier­ten Erzie­hung auf Augen­höhe mit ihren Kindern reden wollen. Wenn aber der Papa seine kleine Tochter fragt, ob sie die nächs­ten 200 Meter lieber zu Fuss gehen oder mit dem Tram fahren möchte – das ist proble­ma­tisch. Denn mit solchen Fragen ist ein zwei- bis drei­jäh­ri­ges Kind in der Regel über­for­dert. Entwick­lungs­theo­re­tisch betrach­tet können Kinder viel­leicht ab fünf Jahren eine Entschei­dung treffen, die eini­ger­mas­sen objek­tiv ist.

Wichtig ist einfach, dass die Eltern sich auch getrauen, Regeln durch­zu­set­zen.

Wenn man immer diese Augen­höhe betont und alles mit den Kindern ausdis­ku­tie­ren will, verschlingt das enorm viel Zeit und Emotio­nen, denn die Kinder machen oft nicht mit, sie begin­nen zu schreien oder wollen irgend­et­was ganz anderes. Deshalb denke ich, dass in den ersten fünf bis acht Lebens­jah­ren eine Basis gelegt werden muss, in der Kinder spüren, dass sie zwar Gesprächs­part­ner sind und gefragt werden, aber dass die Eltern vorge­ben, was man macht und wie man sich verhal­ten soll. Es braucht gewisse Regeln und eine Hier­ar­chie. Das ist auch der Kern der soge­nann­ten auto­ri­ta­ti­ven Erzie­hung, die ich befür­worte: Dabei werden Kinder liebe­voll erzogen, mit Nähe und Fürsorge, bekom­men aber auch Leit­plan­ken in Form von Regeln gesetzt. Wichtig ist einfach, dass die Eltern sich auch getrauen, diese Regeln durch­zu­set­zen. Diese Phase bildet dann die Basis für die part­ner­schaft­li­che Erzie­hung, die in der mitt­le­ren Primar­schule bis zur Ober­stufe einset­zen kann. Später, wenn sie die Puber­tät durch­lau­fen haben, werden die Kinder respek­tive Jugend­li­chen dann langsam zu wirk­li­chen Part­ne­rin­nen und Part­nern auf Augen­höhe.

Margrit Stamm, emeritierte Professorin und Bildungsforscherin.

Margrit Stamm

Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg. Sie ist zudem Direktorin des Instituts Swiss Education, das in der Bildungsforschung tätig ist. Margrit Stamm hat mehrere Bücher verfasst und 2024 den Podcast «Education To Go» gestartet, in dem sie mit dem Journalisten und Radiomoderator Dominic Dillier Erziehungsfragen bespricht.