Jugend unter Druck

Wenn die Auffangnetze Lücken haben

Jugend­li­che müssen viele Heraus­for­de­run­gen bewäl­ti­gen: hohe Anfor­de­run­gen in Schule und Gesell­schaft, die Schat­ten­sei­ten der digi­ta­len Welt, und, fast neben­bei noch, alles Neue, was die Puber­tät mit sich bringt. Wenn ihnen alles zu viel wird, finden sie aber oft nicht unmit­tel­bar die passende Unter­stüt­zung für ihre Situa­tion. Diese Erfah­rung musste die Familie von Julia (12) machen, als sie mit der suizid­ge­fähr­de­ten Tochter mehr­mals auf sich allein gestellt dastand.

«Ich war so gestresst, so am Anschlag. Irgend­wann sagte ich meinem Lehrer, dass ich mich selbst verletzte. Ich musste es einfach jeman­dem sagen. Mein Lehrer sagte, ich solle mich der Schul­psy­cho­lo­gin anver­trauen, und an ihre Worte erin­nere ich mich noch, wie wenn es gestern gewesen wäre: Wenn ich mich nun nicht beru­hige, müsse ich in die Psych­ia­trie einge­wie­sen werden. Das machte mir solche Angst. Zuhause setzten mich meine Eltern wortlos ins Auto. Sie sagten mir nicht, dass wir nun dort hinfah­ren würden. Ich fühlte mich so hinter­gan­gen. Von allen.»

Julia* war damals zwölf Jahre alt und litt in der Schule unter schwe­ren Schi­ka­nen. Kinder warfen mit Steinen nach ihr oder versteck­ten ihre Schuhe auf dem Amei­sen­hau­fen. Julia meldete die Gescheh­nisse. Doch die Lehr­per­so­nen erkann­ten ihre Not nicht. Julia zog sich mehr und mehr zurück, suchte andere Wege, um mit den Belas­tun­gen umzu­ge­hen. Sie begann, sich selbst zu verlet­zen, verbrachte immer mehr Zeit online. Auf Tiktok führte sie der Algo­rith­mus schliess­lich in eine Online-Welt, in der Schmerz und Schwe­res mitein­an­der geteilt wurde, eine Commu­nity mit «kranker Dynamik», wie Julia rück­bli­ckend sagt. Die «Bubble» sei zur gefähr­li­chen Echo­kam­mer jegli­cher nega­ti­ven Gefühle gewor­den, habe einan­der auf einer destruk­ti­ven Spirale voran­ge­trie­ben. «Es ging darum, wem es am schlech­tes­ten geht», erzählt Julia. «Und wenn es jeman­dem noch schlech­ter geht als dir, bist du es nicht wert, dass dir gehol­fen wird.»

Ein gif der Jugendlichen Julia, die sagt: Viele waren überfordert mit meiner psychischen Erkrankung. So gesehen machten es meine Eltern über all diese Jahre eigentlich extrem gut. Sie gaben mich nie auf und versuchten immer zu verstehen, was in mir vorging. Obwohl sie oft wahnsinnig gestresst waren. Und ich extrem gereizt zu ihnen.

Rück­bli­ckend ein Fehler

Julias Eltern merkten zwar, wie sich ihre Tochter immer mehr zurück­zog. Die Bild­schirm­zeit führte entspre­chend zu viel Streit. Sie wussten auch von Konflik­ten in der Schule. Doch Julias Leis­tun­gen waren weiter­hin gut, täusch­ten auch über die Belas­tun­gen hinweg. «Wir dachten, okay, sie wird jetzt ein Teen­ager. Wir müssen ihr den Raum lassen, auch selbst etwas aushal­ten», erzäh­len die Eltern.

Als die Schule anrief und meldete, Julia sei suizid­ge­fähr­det, war das ein Schock. «Es hiess, wenn wir unsere Tochter nicht innert Stunden in die Psych­ia­trie einwie­sen, würden sie die Kindes­schutz­be­hörde einschal­ten. Da kamen wir nicht auf die Idee, uns erst einmal in Ruhe mit Julia hinzu­set­zen. Rück­bli­ckend war das ein grosser Fehler. Wir waren in solcher Sorge und einfach so über­for­dert.»

Am Ende eines aufwüh­len­den Tages stand die Familie schliess­lich wieder zuhause. Die Abklä­run­gen in der Klinik ergaben zwar Belas­tun­gen, jedoch keine akute Lebens­ge­fähr­dung.

Auffang­netze mit Lücken

So wie Julias Eltern ergeht es vielen Fami­lien mit Jugend­li­chen, die in eine Krise geraten. Vieles spielt in der Puber­tät zusam­men, die Anfor­de­run­gen nehmen zu: Die Heran­wach­sen­den möchten sich finden, unab­hän­gig werden, aber auch gefal­len. Das kann ganz neue Gefühle von Unsi­cher­heit, Angst und Enttäu­schung auslö­sen. Gleich­zei­tig gehört es zur gesun­den Entwick­lung dazu, sich von den Eltern zurück­zu­zie­hen, sich auch mit ihnen zu reiben. Zu wissen, was alar­mie­ren muss und was nicht, kann für Eltern zur grossen Heraus­for­de­rung werden. Gerade Äusse­run­gen von Suizid­ge­dan­ken können enorm belas­ten und ohne fach­li­che Unter­stüt­zung an die Grenzen bringen. Gleich­zei­tig sind Notfall­stel­len viel­fach massiv über­las­tet und müssen sich auf drin­gendste Gefähr­dun­gen konzen­trie­ren. Während die vermeint­li­chen Hilfs­fo­ren in den Sozia­len Medien eine mäch­tige Paral­lel­welt bilden können.

«Ich kann nicht mehr»

Über persön­li­che Kontakte schaff­ten es die Eltern schliess­lich, Julia an eine Psycho­lo­gin zu vermit­teln. Doch Julias Vertrauen war nach dem Erleb­ten schwer ange­schla­gen. Sie machte zu, versuchte, mit ihren Belas­tun­gen wieder allein umzu­ge­hen, verletzte sich weiter selbst. Zurück in der Schule schlug sie sich zwar durch, schaffte gar den Wechsel ans Gymna­sium. Der neue Leis­tungs­druck und der Streit zuhause belas­te­ten sie aber mehr und mehr und sie begann, ihre Aussen­welt immer dunkler wahr­zu­neh­men. Eines Tages merkte sie: Es ist zu viel. Ohne Hilfe kann ich nicht mehr.

Julia zwang sich, sich noch einmal zu öffnen und ihrer Thera­peu­tin von ihren Suizid­ge­dan­ken zu erzäh­len. Diesmal gelang das Zusam­men­spiel. Die beiden bespra­chen gemein­sam, dass nichts falsch war, an dem, was sie sagte, solche Gedan­ken aber zu belas­tend sind, um sie allein bewäl­ti­gen zu können. Und vor allen Dingen: Wie es von grosser Stärke zeugt, um Hilfe zu fragen. Und wie wichtig es ist, gute Hilfe zu bekom­men. Darauf­hin verbrachte Julia drei Monate in einer Klinik.

Nach 90 Tagen im Alltag zurecht­fin­den

Der Tape­ten­wech­sel sei wichtig für sie gewesen, sagt Julia rück­bli­ckend. Aller­dings sind Klinik­auf­ent­halte beschränkt, in Julias Klinik auf 90 Tage. Danach gilt es, sich wieder im Alltag zurecht­zu­fin­den. «Man meint, die Welt sei wieder gut, wenn das Kind nach Hause kommt», erzählt Julias Vater. «Doch eigent­lich beginnt der Weg erst da.» Hinzu kam: Das Angebot, mit welchem Julia bei ihrem Austritt hätte beglei­tet werden sollen, wurde kurz darauf einge­stellt. Und eine Alter­na­tive war gerade nicht verfüg­bar. Ein zweites Mal standen die Eltern allein mit Julia da.

«Man läuft wie im Nebel, ruft Dutzende Leute an, muss wieder von vorne begin­nen, seinen Fall erklä­ren, Formu­lare ausfül­len», erzählt ihr Vater. «Als Eltern ist man völlig fertig.» Julias Mutter ergänzt: «Wir mussten immer wieder aufs Neue bewei­sen, dass wir bemühte Eltern sind, unsere Tochter lieben und sie unter­stüt­zen wollen. Dass wir selbst fast zusam­men­bra­chen und auch noch einen jünge­ren Sohn haben, inter­es­sierte nieman­den. Ich wäre kaputt­ge­gan­gen, wären mein Mann und ich nicht so ein starkes Team.»

Die Erwar­tun­gen nicht erfüllt

Wie wichtig eine gute Beglei­tung nach psychi­schen Belas­tun­gen wäre und wie viel Wissen im Umgang damit in der Gesell­schaft noch fehlt, zeigen Julias Erfah­run­gen zurück im Alltag: Sie schaffte zwar den Wieder­ein­stieg am Gymna­sium. Doch schien es den Lehr­per­so­nen an Erfah­rung mit der Situa­tion zu fehlen. «Ich hätte vor der ganzen Klasse erzäh­len sollen, wo ich war, im Musik­un­ter­richt vor allen vorsin­gen müssen», erzählt sie. «Das war alles wieder so ein Stress für mich.» Als Julia nicht auf Anhieb gute Noten schrieb, hiess es schliess­lich: Zu lange gefehlt, zu schlechte Noten, Probe­zeit nicht bestan­den. Aufgrund ihrer Erkran­kung zwei­fel­ten die Lehr­per­so­nen daran, dass sie die Leis­tung zukünf­tig erbrin­gen könne. Eine zweite Chance bekam Julia nicht. Doch wie geht es nach einem Verweis vom Gymna­sium schu­lisch weiter? Mit dieser Frage fühlte sich die Familie erneut alleine.

Die Bezie­hung zum Kind über alles stellen

Schliess­lich gelangte die Familie an die Anlauf­stelle «Mobile Inter­ven­tion bei Jugend­kri­sen», ein Angebot, das bei Zustän­dig­keits­lü­cken beigezo­gen werden kann. Die Fach­per­so­nen können die Fami­lien zum Beispiel zuhause besu­chen, vermit­teln zwischen den Betei­lig­ten, zeigen Möglich­kei­ten auf oder leisten Aufklä­rungs­ar­beit. «Zum ersten Mal fühlten wir uns als ganze Familie gesehen», erzäh­len Julias Eltern.

In gemein­sa­men Gesprä­chen konnten sie Abstand nehmen, den Fokus ganz auf die Familie richten und sich fragen, wofür kämpfen wir hier eigent­lich? «Plötz­lich sahen wir in solch einer Klar­heit: Die Thera­pien und Insti­tu­tio­nen, die Puber­tät, der Druck von der Schule – all das, was uns so belas­tete und beschäf­tigte, ist nur vorüber­ge­hend. Die Bezie­hung zu Julia dagegen soll ein Leben lang halten. Sie ist und bleibt das Wich­tigste, was wir haben.»

Als Familie konnten sie so eine neue Haltung entwi­ckeln: Entschei­dend ist allein, dass es Julia wieder gut geht. Fortan stell­ten die Eltern die Bezie­hung zum Kind über alles, bespra­chen jeden weite­ren Schritt als Familie. Gemein­sam reich­ten sie Rekurs ein gegen den Verweis vom Gymna­sium. Denn Julia hätte bleiben wollen. Eine Chance bekom­men wollen, zu zeigen, was sie kann, wenn sie gesund ist.

Der Entscheid von obers­ter Stelle lautete schliess­lich: Eine psychi­sche Erkran­kung sei kein recht­mäs­si­ger Grund für einen Schul­aus­schluss. Julia erhalte freie Wahl für einen Neuan­fang an allen Gymna­sien im Kanton.

Neuan­fang – durch neues Selbst­ver­ständ­nis

Zwei Jahre später wirkt Julia geerdet. Dass sie in ihrem jungen Leben schon mit viel Belas­tung umzu­ge­hen lernen musste, wird in ihren Erzäh­lun­gen spürbar. Gleich­zei­tig witzelt sie entspannt mit ihren Eltern. Wie sie da mitein­an­der sitzen, erweckt es den Eindruck eines ganz beson­de­ren Zusam­men­halts. Einer Art Neuord­nung aus der Not, einer Frische und Ruhe wie nach einem schwe­ren Sturm. An ihrer neuen Schule sei es ein ganz anderes Gefühl, erzählt Julia. Sie fühle sich von den Lehr­per­so­nen unter­stützt. Entschei­dend sei aber der innere Prozess, den sie durch­ge­macht habe: «Durch die Thera­pien habe ich ein tiefe­res Selbst­ver­ständ­nis entwi­ckelt. Ich weiss nun besser, wer ich bin und warum ich fühle, wie ich fühle.

Und Tiktok? Julia lacht. «Tiktok ist weit in den Hinter­grund gerückt. Und der Algo­rith­mus hat unter­des­sen gemerkt, dass ich an anderen Inhal­ten hängen bleibe. Inzwi­schen schaue ich Katzen­vi­deos.»

* Name durch die Redak­tion geän­dert

Sie brau­chen Unter­stüt­zung?

Julia ist nicht die einzige Jugend­li­che mit Suizid­ge­dan­ken. Wenn Eltern diese Gedan­ken hören, ist die Belas­tung für sie enorm. Damit solche Gedan­ken und Gefühle einge­ord­net werden können, ist es wichtig, mit den Jugend­li­chen im Austausch zu bleiben und wenn nötig fach­li­che Unter­stüt­zung zu holen.

Bei akuten Suizid­ge­dan­ken, wenden Sie sich direkt an die Notfall­stelle für Kinder und Jugend­li­che der Psych­ia­tri­schen Univer­si­täts­kli­nik Zürich. Die Fach­per­so­nen sind täglich und jeder­zeit erreich­bar unter: Tel. 058 384 66 66

Bei der Anlauf­stelle «Mobile Inter­ven­tion bei Jugend­kri­sen» finden Betrof­fene rasch und unkom­pli­ziert Bera­tung und Unter­stüt­zung. Das Team besteht aus erfah­re­nen Sozi­al­ar­bei­ten­den und Psycho­lo­gin­nen und Psycho­lo­gen. Das Angebot ist kosten­los.