Suchtberater Michael Bruder über Alkoholkonsum zu Corona-Zeiten

Besinnen statt berauschen

In Zeiten persön­li­cher oder gesell­schaft­li­cher Krisen steigt bei manch einem oder einer der Alko­hol­kon­sum. Das gilt gemäss Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion WHO auch für die aktu­elle Corona-Krise. Wenn nun unsere Alltags­ge­wohn­hei­ten wegfal­len, kann das auch neue Wege öffnen.

Wussten Sie, dass die Corona-Krise auch Auswir­kun­gen auf den Alko­hol­kon­sum der Bevöl­ke­rung hat?

Isola­tion, soziale Abkap­se­lung, Lange­weile, Unsi­cher­heit, Exis­tenz­ängste, Wegfall der Tages­struk­tur, Sorgen um Ange­hö­rige … Für viele hält die Corona-Krise auch persön­li­che Hürden bereit. Beson­ders für Sucht­ge­fähr­dete stellt diese Situa­tion eine Heraus­for­de­rung dar. Denn Alko­hol­kon­sum wird gerade in Zeiten persön­li­cher und gesell­schaft­li­cher Krisen vermehrt als Bewäl­ti­gungs­stra­te­gie genutzt. Da verwun­dert es nicht, dass die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion WHO schon zu Beginn des inzwi­schen fast welt­wei­ten Lock­downs vor einem erhöh­ten Alko­hol­kon­sum warnte.

… und die Probleme bleiben

Alkohol scheint auf den ersten Blick wie gemacht für diese Hürden. Er löst Ängste, entspannt, beru­higt und verbes­sert kurz­fris­tig die Stim­mung. Er löst aber keine Probleme. Er hilft nicht über die Hürden hinweg, sondern macht den Aufent­halt vor der Hürde und das Schauen darauf ein wenig erträg­li­cher. Um die Hürden zu meis­tern, benö­tigt es jedoch einen klaren Kopf. Dafür ist es hilf­rei­cher, eine Tages­struk­tur aufrecht­zu­er­hal­ten, für ausrei­chend Bewe­gung zu sorgen und in Kontakt mit Mitmen­schen zu bleiben.

Zudem wirkt sich über­mäs­si­ger Alko­hol­kon­sum ungüns­tig auf eine Infek­tion mit dem Coro­noavi­rus aus. Er schwächt das Immun­sys­tem, und Menschen mit einem schwa­chen Immun­sys­tem tragen ein höheres Risiko. Damit Bier und Wein Genuss­mit­tel bleiben und nicht gesund­heits­schäd­lich wirken, empfiehlt die Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion für einen Mann eine Ober­grenze von 24 Gramm Alkohol pro Tag. Das entspricht etwa einer Flasche Bier oder einem 0,25-Liter-Glas Wein. Für Frauen gilt die Hälfte dieser Menge. Zudem sollte pro Woche an mindes­tens zwei Tagen gänz­lich auf Alkohol verzich­tet werden.

Sich zu Hause neu erfah­ren

Durch die aktuell verän­der­ten Gege­ben­hei­ten machen viele Menschen neue Erfah­run­gen. Dies muss nicht nur Nega­ti­ves mit sich bringen. Wer gewohnt ist, jedes Wochen­ende Party mit Rausch­trin­ken zu machen oder andere Substan­zen zur Erhei­te­rung zu konsu­mie­ren, merkt viel­leicht, dass es sich auch gut ohne leben lässt. Für andere verrin­gert sich die Hektik des Alltags. Dies führt zu einer Entschleu­ni­gung und somit zur Stress­re­duk­tion. Wieder anderen gelingt es, sich durch die Einschrän­kun­gen besser abzu­gren­zen von den Erwar­tun­gen des Umfelds.

Die neue Soli­da­ri­tät bringt es zudem mit sich, dass sich verschol­len geglaubte Kontakte wieder melden, alte Freund­schaf­ten aufblü­hen, Menschen sich wieder umein­an­der kümmern. Der soziale Druck, ständig aktiv und erfolg­reich zu sein und viele soziale Kontakte zu pflegen, ist verschwun­den. Die Menschen sind wieder etwas glei­cher – auf sich selbst zurück­ge­wor­fen – mit ähnli­chen Sorgen.

Das kommt jenen zugute, die es eher schwer haben mit den oben­ge­nann­ten Idealen. Die nicht mit dem Tempo unserer Gesell­schaft mitge­hen wollen oder können, die vertraut damit sind, mit Einsam­keit zu leben. Wenn diese Menschen es manch­mal so empfan­den, dass sie zu wenig den gesell­schaft­li­chen Konven­tio­nen entspra­chen, erleben sie jetzt ihr Verhal­ten als gesell­schaft­li­che Norm und erfah­ren, dass es nütz­lich und in der aktu­el­len Situa­tion eine gute Über­le­bens­stra­te­gie sein kann. Sich auf sich selbst besin­nen, reflek­tie­ren, Ruhe finden – viel­leicht können wir ja alle etwas aus dieser Krise mitneh­men, das sucht­prä­ven­tiv wirkt.

Michael Bruder

Michael Bruder ist seit 2018 Suchtberater im Zentrum Breitenstein in Andelfingen. Zuvor war er über zwölf Jahre bei der Drogenhilfe Konstanz, wo er als Suchttherapeut und später auch als Geschäftsführer tätig war. Er hat Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule Freiburg studiert und den Master zum Suchttherapeuten in München abgeschlossen.

Die Sucht­be­ra­tung im Zentrum Brei­ten­stein hat sich auf die neuen Gege­ben­hei­ten in Zeiten von Corona einge­stellt. Norma­ler­weise ist für die Sucht­be­ra­tung der direkte Kontakt mit Menschen, die mit Sucht­pro­ble­men zu kämpfen haben oder deren Ange­hö­ri­gen, zentral. Auch das hat sich, wie so vieles, verän­dert. Die Bera­tun­gen finden zurzeit tele­fo­nisch, per Video­te­le­fo­nie oder per Mail statt. Was sich nicht verän­dert hat: Das Zentrum Brei­ten­stein ist weiter für Sie da. Melden Sie sich bei Fragen oder für einen Bera­tungs­ter­min.