10 Jahre Netz2

Die Hochs und Tiefs, die Freuden und Ärgernisse der Arbeit als Case Manager

Das Case-Manage­ment-Angebot Netz2 des Kantons Zürich wird 10 Jahre alt. Anläss­lich dieses Jubi­lä­ums haben wir uns mit Matthias Fusze­necker, Mitgrün­der und Leiter von Netz2 über die Entwick­lung des Ange­bots von den ersten Schrit­ten bis zum heuti­gen Tag unter­hal­ten. Er erzählt von der Arbeit ganz unter­schied­li­chen Jugend­li­chen und ihren verschie­de­nen Proble­men und von den Erfol­gen und Miss­erfol­gen. Sie lesen hier den ersten von zwei Teilen des grossen Inter­views.

Jugend­li­che, deren Fälle Ihr erfolg­reich abschliesst, sind fast drei Jahre in Eurer Betreu­ung. Ihr schliesst Fälle aber auch ab, bevor sie einen Lehr­ab­schluss in der Tasche haben. Welche Krite­rien sind da ausch­lag­ge­bend, damit Ihr jeman­den aus Eurer Obhut entlasst?
Matthias Fusze­necker: Unser Auftrag ist so defi­niert, dass wir Jugend­li­che, die unser Angebot nutzen, auf einen Sek-II-Abschluss hinfüh­ren, das heisst, dass sie eine Lehre abschlies­sen oder die Matura machen. Das ist die mess­bare Einheit, anhand derer unsere Arbeit bewer­tet wird. Als erstes machen wir mit Jugend­li­chen, die zu uns kommen ein Assess­ment. Dabei schauen wir mit ihnen zusam­men verschie­dene Lebens­be­rei­che ganz genau an. Wie sieht es fami­liär aus, in der Schule, welches sozia­les Netz haben sie, wie ist die Wohn­si­tua­tion, wie geht es ihnen gesund­heit­lich und so weiter. Wir analy­sie­ren ganz genau, wo es welche Probleme gibt und wo es gut läuft und wo ihre Stärken und Ressour­cen liegen. Diese Punkte über­prü­fen wir immer wieder, und schauen ob eine gute Entwick­lung statt­fin­det, ob der Weg stimmt und wo es Bedarf für konkrete Hilfe gibt. Wir erar­bei­ten mit ihnen und den Fach­stel­len zusam­men einen Hand­lungs­plan, in dem die nächs­ten Ziele und die dazu passen­den Mass­nah­men abge­bil­det sind. Beginnt ein Jugend­li­cher eine Lehre, schauen wir auch dort genau hin: wie ist die Bewer­tung beim Probe­zeit­ge­spräch, wie sieht das erste Zeugnis in der Schule aus, wo steht die Person nach dem ersten Lehr­jahr. Wenn dann aus unserer Sicht alles im grünen Bereich ist und die Jugend­li­chen keinen Unter­stüt­zungs­be­darf mehr haben, dann kontak­tie­ren wir alle bisher invol­vier­ten Perso­nen und Stellen und teilen ihnen mit, dass wir den Fall abschlies­sen. Das machen wir aber nur dann, wenn wir so sicher wie es halt möglich ist sind, dass er oder sie die Lehre abschlies­sen kann.

Gibt es auch Rück­keh­rer, die sich doch noch nicht sicher genug fühlen?
Sehr wenige. Wenn wir einen Fall abschlies­sen, dann sind wir schon sehr sicher, dass die Person stabil genug ist, die Ausbil­dung ohne unsere Beglei­tung abzu­schlies­sen. Aber klar, es gibt natür­lich immer wieder einmal Einzel­fälle, da sehen wir, dass sie ihre Ausbil­dung nicht erfolg­reich abschlies­sen konnten. Wir wissen ja, wann die Jugend­li­chen ihre Abschlüsse machen müssten und kontrol­lie­ren, ob das auch geklappt hat. Aber es passiert wirk­lich selten, dass sich Jugend­li­che, oder auch Lehr­lings­be­treuer, nach dem Abschluss unserer Betreu­ung wieder bei uns melden.

Ihr schreibt in einem Rück­blick auf die zehn Jahre Netz2, dass auch Jugend­li­che, die vorzei­tig die Betreu­ung abbre­chen, immer­hin rund ein Drittel, trotz­dem davon profi­tiert hätten. Woher wisst ihr das? Und wie haben sie profitiert?
Jugend­li­che, die zu uns kommen, haben viele Baustel­len. Da kommen welche mit Einkaufs­tü­ten­weise unge­öff­ne­ter Post, die seit Jahren nicht mehr ange­rührt wurde. Wir arbei­ten mit denen sehr inten­siv und machen ganz alters- und alltags­prak­ti­sche Dinge, wie ein Konto eröff­nen und Dauer­auf­träge einrich­ten, wir gehen mit ihnen auf die Ämter oder sorgen dafür, dass sie einen gülti­gen Ausweis besit­zen. Wir suchen eine Wohn­mög­lich­keit oder machen IV-Anmel­dun­gen – wir führen sie also in allen mögli­chen Berei­chen auf einen Weg, auf dem sie immer stabi­ler werden und in Rich­tung einer Ausbil­dung kommen. Und wenn dann jemand nach ein, zwei oder drei Jahren findet, er habe jetzt keine Lust mehr auf eine Ausbil­dung, dann schei­det er halt als Abbre­cher aus. Aber alles, was wir bis dahin gemein­sam erreicht haben, bleibt ja bestehen und hilft auf dem weite­ren Weg, davon bin ich über­zeugt. Ausser­dem haben wir mit dem Jugend­li­chen ein Netz gespannt, in dem er sich weiter­hin Hilfe und Unter­stüt­zung holen kann, wenn er sie braucht.

Gibt es auch Fälle, die ihr als verant­wort­li­che Case Manager abbrecht?
Das gibt es, aber sehr, sehr selten. Es gibt manch­mal Jugend­li­che, mit psych­ia­tri­schen Diagno­sen, bei denen man sagen muss, dass es keinen Sinn macht, wenn zu viele Perso­nen und Stellen invol­viert sind. Da versu­chen wir dann die Komple­xi­tät der Situa­tion zu redu­zie­ren, und den Fokus auf die wich­tigs­ten Berei­che zu legen und dann ziehen wir uns zurück, weil es unsere Koor­di­na­ti­ons­ar­beit nicht mehr braucht. Was auch vorkommt, ist, dass wir Jugend­li­che über eine längere Zeit trotz mehr­fa­cher Versu­che über alle verfüg­ba­ren Kanäle gar nicht mehr errei­chen können. In solchen Fällen schrei­ben wir einen Brief, dass wir sie mehr­fach nicht erreicht hätten und sie sicher einen guten Grund hätten, nicht darauf zu reagie­ren und wir ihren Fall abschlies­sen, aber dass sie sich jeder­zeit bei uns melden können, wenn sie doch wieder Hilfe in Anspruch nehmen möchten. Das sind aber die einzi­gen Gründe für einen Abbruch unse­rer­seits. Sonst nehmen wir die Jugend­li­chen so wie sie sind, mit all ihren Facet­ten und arbei­ten damit.

Löscht es einem da gar nie ab?
Was wir machen, ist, uns auf ganz kleine Schritte zu fokus­sie­ren. Wenn wir mit den jungen Menschen zu arbei­ten begin­nen, sind sie in so insta­bi­len Zustän­den und so verletz­lich, dass man ganz viel Geduld und einen langen Schnauf braucht, um über­haupt zu einer eini­ger­mas­sen funk­tio­nie­ren­den Zusam­men­ar­beit zu finden. Wir Case Manager, wir sind alles Opti­mis­ten und absolut über­zeugt von der Arbeit, die wir machen. Wir haben hier im Kanton Zürich ein tolles Angebot und ein sehr gutes Konzept entwi­ckelt, um eben gedul­dig sein zu dürfen. Es gibt keinen Druck, Fälle schnell abzu­schlies­sen oder Jugend­li­che auszu­schlies­sen, wenn sie sich nicht an konforme Regeln halten. Und das haben diese zehn Jahre deut­lich gezeigt: Es braucht oft einiges an Zeit, Geduld und Verständ­nis von allen Seiten, aber es lohnt sich.

Wird man auch mal wütend über Klien­ten, weil sie diese Chancen, die Ihr ihnen eröff­net, nicht packen?
Wütend ist viel­leicht der falsche Ausdruck. Es gibt immer wieder mal Momente, in denen unsere Geduld und unser Verständ­nis heraus­ge­for­dert werden. Da möcht man manch­mal in den Tisch beissen und denkt: Schon wieder nicht. Jetzt haben wir das doch schon hunderte Male bespro­chen. Es ist manch­mal harzig und will einfach nicht vorwärts gehen. Auf einen Schritt vorwärts geht’s drei, vier oder fünf Schritte zurück. Aber trotz­dem bin ich über­zeugt, dass die Geduld und der lange Atem, den wir haben dürfen, etwas bringt. Ich habe das in diesen zehn Jahren immer wieder gesehen: Wenn die Jugend­li­chen etwas zum besse­ren verän­dern können, dann wollen sie auch. Manch­mal können sie einfach noch nicht, oder nicht so schnell. Oder sie sehen noch nicht wie, weil sie noch so viele Probleme sehen und nach zu vielen schlech­ten Erfah­run­gen kein Vertrauen in sich und die Welt mehr haben.

Wie über­win­det man solche Ängste? Was könnt Ihr da unternehmen?
Wir zeigen ihnen immer wieder die Möglich­kei­ten auf, die exis­tie­ren und die sie haben. Und dann muss man ihnen einfach immer wieder mal neue Chancen eröff­nen, muss immer wieder mit ihnen und dem Netz an Helfern zusam­men­sit­zen und sie ermu­ti­gen etwas anderes zu versu­chen, eine weitere Chance zeigen. Manch­mal brau­chen sie wieder neue Möglich­kei­ten posi­tive Erfah­run­gen in einer passen­den Tages­struk­tur zu machen. Wichtig in unserer Arbeit ist es, realis­ti­sche Ziele für sie zu erken­nen und die dazu passen­den Mass­nah­men zu erar­bei­ten, damit sie in kleinen Schrit­ten neue und bessere Erfah­run­gen machen können.

Erfahrt Ihr Dank­bar­keit von den Jugend­li­chen, wenn sie es bis zum Lehr­ab­schluss geschafft haben?
Das kommt schon vor. Es gibt Jugend­li­chen, die – manch­mal Jahre später – anrufen und sich bedan­ken. Was wir aber immer machen, ist ein Abschluss­ge­spräch mit allen Jugend­li­chen, wenn sie ihren Abschluss geschafft haben und werten aus, was gut war und gehol­fen hat und was viel­leicht nicht. Was wir dabei sehr oft hören, ist Dank­bar­keit dafür, dass wir immer für sie da waren. «Ich konnte immer anrufen, Sie haben immer an mich geglaubt, haben mich moti­viert und mich wieder auf die Beine gestellt, egal wie schwie­rig es gerade war», so etwas sagen ganz viele. Dieses Feed­back zeigt, dass es sich lohnt dran zu bleiben und immer wieder zu steuern, anzu­schie­ben und den jungen Leuten zur Seite zu stehen.

Immer Friede, Freude, Eier­ku­chen wird aber kaum herr­schen. Die Jugend­li­chen reagie­ren sicher auch mal wütend und ableh­nend auf Euch?
Natür­lich, das gibt es genauso. Wir arbei­ten sehr eng mit ihnen zusam­men und sehen sehr tief in ihr Leben und ihre Probleme. Und da reagiert dann schon mal jemand unge­hal­ten und findet: «He, he, das geht Sie aber gar nichts an, das ist immer noch mein Leben, mischen Sie sich da nicht ein.» Aber wir sind halt nicht nur Vermitt­ler, Orga­ni­sa­to­ren oder Anwälte, sondern auch Pädago­gen. Dazu gehört auch, ihnen zu sagen, wenn sie sich nicht korrekt verhal­ten. Da hört dann schon mal einer, beim nächs­ten Termin solle er sich anstän­dig anzie­hen. Oder dass er gleich wieder nach Hause gehen und sich ausschla­fen soll und morgen wieder nüch­tern kommen soll. Aber wir schi­cken sie nicht einfach Weg ohne ein konkre­tes Angebot.

Ihr betreut bis zu 30 Jugend­li­che paral­lel. Wachsen einem da manche beson­ders ans Herzen und man fühlt mit ihren Erfol­gen und Miss­erfol­gen mit?
Das gibt es ganz sicher. Wenn du mit einem Jugend­li­chen lange zusam­men­ar­bei­test, entwi­ckelt sich eine trag­fä­hige Arbeits­be­zie­hung, man kennt die Person und sieht die Entwick­lung, die sie durch­macht. Da freuen wir uns natür­lich. Das sind oft Dinge, die für andere Jugend­li­che ganz normal wären, für unsere aber riesige Fort­schritte bedeu­ten: weniger zu kiffen, einen norma­len Tag-Nacht-Rhyth­mus einzu­hal­ten, Rech­nun­gen selbst zu bezah­len. Das bedeu­tet für uns und sie grosse Erfolge, die wir auch so benen­nen.

Und wie geht ihr mit Miss­erfol­gen um?
Frust gehört auch dazu: Wenn du jahre­lang mit einem Jugend­li­chen gear­bei­tet hast, mehr­mals eine Lehr­stelle gesucht und Dutzende Stunden in Gesprä­che inves­tiert hast, und dann kommt derje­nige im dritten Lehr­jahr, auf bestem Weg zum Abschluss zu dir und sagt, er habe keine Lust mehr auf einen Lehr­ab­schluss, er habe ein Angebot als Secu­rity für 3000 Franken im Monat erhal­ten und werde das jetzt machen, dann fragst du dich schon, wofür du das alles gemacht hast. Aber für genau solche Fälle gehen wir alle regel­mäs­sig in Inter­vi­sion und Super­vi­sion, um mit Kolle­gen und Aussen­ste­hen­den Fälle zu bespre­chen, die uns zu schaf­fen machen. Und in so einem Fall wie dem beschrie­be­nen, hilft das enorm. Da kann dir die Sicht der Kolle­gen in deiner Refle­xion weiter­hel­fen, weil du ja in diesen Jahren auch sehr viel mit dem Jugend­li­chen erreicht hast, ihn auf einen Weg gebracht hast, auf dem er nun alleine weiter­ge­hen kann. Wenn einem das bewusst gemacht wird, kann man auch mit solchen frus­trie­ren­den Fällen letzt­lich gut umgehen.

Verfolgt Euch so etwas nie in den Feier­abend oder übers Wochenende?
Nein, das sollte es nicht, kann aber in Einzel­fäl­len halt einmal vorkom­men. Wir sind aber alles erfah­rene Profis und wissen mit solchen Belas­tun­gen umzu­ge­hen. Da helfen eben die Inter­vi­sio­nen. Aber ich kann auch einfach zum Kolle­gen ins Büro gehen oder ihn anrufen und einmal das abladen, was mich gerade belas­tet und ich weiss, er versteht mich, weil er die Situa­tion kennt. Und wenn das mal raus ist, dann klappt das eigent­lich auch mit dem Abschal­ten gut und man kann es am Arbeits­platz zurück­las­sen.

Ich stelle mir diese Arbeit aber doch insge­samt als psychisch sehr anstren­gend und eben immer auch mal belas­tend vor. Kommt Ihr da nie an Grenzen, wo Ihr ans Aufhö­ren denkt?
Bis jetzt auf jeden Fall nicht. Wir sind ja bei Netz2 alle irgend­wie Pioniere, die das Angebot und unser Konzept selbst aufge­baut haben. Jeder hat das genauso mitge­stal­tet, wie wir es für sinn­voll halten. Finde mal eine Arbeits­stelle, die du von Grund auf aufbauen und immer mitge­stal­ten kannst und die dann so passt, dass du den Klien­ten best­mög­li­che Unter­stüt­zung anbie­ten kannst. Zudem ist Netz2 ein extrem nach­ge­frag­tes Angebot und wir sind erfolg­reich in der Arbeit mit den Jugend­li­chen. Das gibt einem ein sehr gutes Gefühl. Wir verfü­gen zudem über viele Instru­mente, um uns selbst zu über­prü­fen und abzu­si­chern in dem was wir tun. Wir müssen manche Aufga­ben auch zurück ins Netz­werk der invol­vier­ten Stellen geben, da wir selbst keine Thera­pie, Berufs­be­ra­tung oder medi­zi­ni­schen Abklä­run­gen anbie­ten. Da können wir uns selbst auch zurück­neh­men und schüt­zen. Wir haben alle unsere Fälle so umfas­send und detail­liert doku­men­tiert, dass jeder­zeit ein anderer Case Manager meine Fälle über­neh­men könnte, wenn ich ausfal­len würde. Wir bieten auch keine Rund-um-die-Uhr-Betreu­ung an. Wir bauen ja ein Netz­werk um die Jugend­li­chen herum auf, damit sie auch andere Ansprech­per­so­nen haben, die ihnen in konkre­ten Fällen helfen können.

Matthias Fusze­necker

Matthias Fuszenecker ist seit 2015 Leiter des Angebots Netz2 des Kantons Zürich. Er hat das Case Management von Grund auf mit aufgebaut und betreut seit 10 Jahren Jugendliche mit Mehrfach-Problematiken im Rahmen dieses Angebots. Er ist diplomierter Sozialpädagoge, Mediator und Case Manager.