Szenen einer Erziehung

Grenzen setzen, überschreiten und verschieben – Alltag in jeder Familie

Kleine und grosse Ausein­an­der­set­zun­gen gehören zum Alltag einer jeden Familie. Kinder machen nicht, was die Eltern von ihnen wollen. Teen­ager loten ihre Grenzen aus und über­tre­ten dabei regel­mäs­sig die eigenen und dieje­ni­gen ihrer Eltern. Wir haben Alltags­sze­na­rien zusam­men­ge­tra­gen, in denen man als Eltern vor der Frage steht, wie man Regeln und Grenzen soll, was passie­ren soll, wenn sich Kinder nicht daran halten und wie es beim nächs­ten Mal viel­leicht für beide Seiten besser klappt. Eltern­bild­ner Martin Gessler erklärt, wie man diese Situa­tio­nen anpa­cken kann.

Der Streit um Bild­schirm­zeit

Unsere Tochter (5) darf am Wochen­ende morgens auf dem Tablet jeweils eine Weile spielen. Sobald ich ihr dann aber sage, dass jetzt genug ist und sie es wegle­gen soll, kommt es zum Streit. Für eine klare Zeit­li­mite ist sie doch noch zu jung, aber auf meinen Hinweis reagiert sie auch nicht. Wenn ich ihr das Tablet einfach wegnehme, bekommt sie einen Wutanfall.
Martin Gessler:
In Ihrer Familie haben Sie sich erfolg­reich mit Ihrer Tochter auf die Regel geei­nigt, dass sie nur am Wochen­ende spielt. Weniger klar ist, wann die Spiel­zeit um ist, was regel­mäs­sig zu Streit führt. Über­le­gen Sie sich doch einmal, welchen unge­fäh­ren Zeit­rah­men Sie ange­mes­sen finden. Dann können Sie diesen gemein­sam in einen Zeit­be­griff über­set­zen, den das Kind versteht (eine Sanduhr oder die Dauer eines Musik­stücks verste­hen Kinder viel früher als eine Digi­tal­an­zeige). Sie können auch nach Spiel­si­tua­tio­nen suchen, in denen es dem Kind leich­ter fällt, aufzu­hö­ren, als unmit­tel­bar nach einem verlo­re­nen Spiel oder vor dem grossen Finale. Hilf­reich kann auch eine «Vorwarn­zeit» sein (Wecker, Uhr, Musik­stück), welche dem Kind die Umstel­lung erleich­tert. Denken Sie daran, wie ungern Erwach­sene beim Spielen unter­bro­chen werden. Suchen Sie gemein­sam nach Über­gangs­ri­tua­len, die es Ihrer Tochter erleich­tern, sich einer anderen Beschäf­ti­gung zu widmen (ein Glas Wasser trinken, eine Minute im Zimmer herum­hüp­fen oder -tanzen).

Das morgend­li­che Trödeln

Mein Sohn (7) trödelt jeden Morgen unsäg­lich lange herum und wir bekom­men ständig Stress, um pünkt­lich in der Schule zu sein. Früher aufste­hen bringt nichts, dann trödelt er einfach länger, und wenn ich ihn unter­stüt­zen will, geht das Geschrei los, weil er sich alleine bereit machen will. Wie kann ich ihm beibrin­gen, vorwärts zu machen, ohne ihm ständig irgend­wel­che Dinge anzu­dro­hen – was ich auch nicht will?
«Sälber mache.» Kinder wollen selb­stän­dig Dinge bewäl­ti­gen und in ihren Bemü­hun­gen zur Selb­stän­dig­keit ernst genom­men werden. Kinder brau­chen unsere Unter­stüt­zung, aber wenn wir die Lösung vorschrei­ben, geben wir dem Kind zu verste­hen, dass wir seinen Anstren­gun­gen zur Selb­stän­dig­keit nicht trauen. Damit gerät es noch mehr in Stress und reagiert mit Wider­stand. Ich würde einem Sieben­jäh­ri­gen zumuten, selber die Verant­wor­tung zu über­neh­men, recht­zei­tig in der Schule zu sein. Sie können mit ihm zusam­men über­le­gen, welche Unter­stüt­zung er dazu braucht: Viel­leicht eine Zeit­an­gabe durch Sie oder einen Wecker? Oder eine Check­liste, was er in welcher Reihen­folge am Morgen erle­di­gen muss? Solange wir Eltern uns allein für die Pünkt­lich­keit verant­wort­lich fühlen, sind wir im Stress, und das Kind fühlt sich nicht betei­ligt. Recht­zei­tig in der Klasse zu erschei­nen, liegt aber zum grossen Teil in der Verant­wor­tung des Kindes. Denn auch wenn wir es genü­gend früh losschi­cken, kann es sich auf dem Schul­weg ablen­ken lassen und trotz­dem zu spät kommen.

Die Strafe ohne Lern­ef­fekt

Unsere Kinder (4 und 6) sind rich­tige Ener­gie­bün­del. Wir wollen aber nicht, dass sie in der Wohnung herum­ren­nen. Dabei gab es schon Unfälle mit Verlet­zun­gen und Sachen sind zu Bruch gegan­gen. Sie halten sich aber über­haupt nicht daran, und wenn wir sie als Konse­quenz für eine Weile in ihr Zimmer schi­cken, brüllt der Ältere herum und der Jüngere weint. Das hält sie aber nicht davon ab, wie die Wilden rumzu­ren­nen, kaum sind sie wieder draussen.
Als Eltern haben Sie die Verant­wor­tung für die Sicher­heit Ihrer Kinder und die wollen sie sorg­fäl­tig wahr­neh­men. Setzen Sie sich in einem ruhigen Moment mit ihren Kindern zusam­men, schil­dern Sie Ihre Befürch­tun­gen. Und fragen Sie Ihre Kinder, was sie in diesen Momen­ten bewegt hat: Sind sie wütend oder enttäuscht und suchen ein Ventil, um Dampf abzu­las­sen? Ist ihnen lang­wei­lig und sie brau­chen «Action»? Dafür gäbe es sicher andere Lösun­gen, die Sie mit den Kindern heraus­fin­den können. Lassen Sie Ihre Kinder Vorschläge machen, was die Konse­quen­zen sind, wenn sie die neuen Abma­chun­gen nicht einhal­ten. Und bespre­chen Sie mit Ihren Kindern nach einer gewis­sen Zeit, was an der neuen Regel gut funk­tio­niert und was weniger.

Wenn wir selber wütend sind, ist es sinn­voll, den Kontakt mit dem Kind für einen Moment zu unter­bre­chen. Viel­leicht entspannt sich die Situa­tion schnel­ler, wenn Sie sich selber zurück­zu­zie­hen, anstatt das Kind wegzu­schi­cken, weil das rasch als Schuld­zu­wei­sung verstan­den wird: Selber ein Timeout zu nehmen, ist etwas anderes, als den anderen auf die Straf­bank zu schi­cken.

Elter­li­che Unei­nig­keit in Erzie­hungs­fra­gen

Meine Frau und ich sind uns über­haupt nicht einig darüber, was unsere Tochter (6) alles machen darf. Ich bin eher vorsich­tig und möchte nicht, dass sie z. B. mit schar­fen Küchen­mes­sern hantiert oder auf dem Spiel­platz alleine auf Klet­ter­ge­rüs­ten herum­turnt. Meine Frau findet, ich müsse mehr Vertrauen haben und die Kleine ihre Erfah­run­gen machen lassen. Wenn ich mit der Kleinen unter­wegs bin, hört sie so natür­lich über­haupt nicht mehr auf mich und findet: «Bei Mami darf ich das.» Wie finden wir zu einem Konsens?
Ja, es braucht einen Konsens in der Erzie­hung. Nur sind Mütter und Väter Persön­lich­kei­ten mit unter­schied­li­chen Tempe­ra­men­ten und Prägun­gen. Wie sollen sie da im Fami­li­en­all­tag stets glei­cher Meinung sein? Deshalb kann der einzige gesunde Konsens für Eltern heissen: Wir sind uns einig, dass es in Ordnung ist, nicht einer Meinung zu sein. Dann ist es kein Problem für Ihr Kind, sich an unter­schied­li­che Erzie­hungs­nor­men zu halten.

Nur wenn die Eltern (heim­lich) darum kämpfen, wer die «rich­tige» Erzie­hungs­hal­tung hat, wird die Aussage «Bei Mami darf ich das» zu einem Argu­ment. Sie als Vater könnten beispiels­weise antwor­ten: «Ja, bei Mami darfst du das, und das ist ok so. Aber wenn du und ich zusam­men sind, dann möchte ich das nicht, weil mir das zu gefähr­lich ist.» Gut möglich, dass Sie das Kind vorerst enttäu­schen, aber Sie schaf­fen damit Klar­heit: Sie stehen zu ihrer Erzie­hungs­hal­tung und Sie akzep­tie­ren jene der Mutter.

Ein gele­gent­li­cher Austausch zwischen den Eltern kann auch nicht schaden. Aufgrund welcher Erfah­run­gen oder Über­le­gun­gen haben Sie welche Erzie­hungs­vor­stel­lun­gen? So fördern Sie das gegen­sei­tige Verständ­nis und eine gemein­same Haltung.

Der Ziga­ret­ten-Streit

Ich habe unsere Tochter (14) vor einigen Wochen mit Ziga­ret­ten erwischt. Sie hat dafür eine Woche Handy­ver­bot bekom­men. Ich will sie aber eigent­lich nicht bestra­fen müssen. Wie stelle ich es an, dass sie einsieht, dass sie nicht rauchen darf?
Eine Aufgabe von verant­wor­tungs­vol­len Eltern ist es, ihre Kinder vor Gefah­ren zu schüt­zen. Eine zweite Aufgabe ist es, die Kinder zur Selbst­ver­ant­wor­tung und Selb­stän­dig­keit zu führen. Und für diese zweite Aufgabe helfen Verbote und Strafen kaum. Dann sind wir Eltern nichts weiter als Poli­zis­ten, die die Einhal­tung der Regeln kontrol­lie­ren. Und die Kinder reagie­ren entwe­der unter­wür­fig oder gehen in den offenen Wider­stand und brechen die Regeln bewusst.

Teen­ager sind nicht durch Einsicht gesteu­ert, sondern durch eine Gross­hirn­rinde, die im Umbau ist. Neugierde treibt sie an und ihr Erleb­nis­hun­ger lässt sich nicht mit vernunft­ba­sier­ten Argu­men­ten stillen.

Ein anderer Weg könnte sein: Wir Eltern gehen respekt­voll in Kontakt mit unseren Jugend­li­chen. Wir erklä­ren, warum wir gegen etwas sind, zeigen unsere Ängste auf. Das wird Ihre Tochter nicht unbe­dingt vom Rauchen abhal­ten, aber sie spürt Ihr persön­li­ches Anlie­gen und diese Präsenz von Ihnen als Eltern wirkt viel nach­hal­ti­ger als eine unper­sön­li­che gesell­schaft­li­che Konven­tion. Sie öffnen damit eine Türe, Sie bleiben im Kontakt mit Ihrer Tochter, mit der Aussicht, das auch weiter­hin zu bleiben, in guten wie in schwie­ri­gen Zeiten.

Der zu lange Ausgang

Unser Sohn (16) hält sich nie an unsere Ausgangs­zei­ten und kommt fast immer viel zu spät nach Hause. Er verwei­gert sich jegli­chen Gesprä­chen und einsper­ren können und wollen wir ihn nicht. Das Einzige, was viel­leicht wirken würde, wäre ein Handy- oder Play­sta­tion-Entzug. Sollten wir es damit versu­chen? Irgend­eine Konse­quenz muss sein Fehl­ver­hal­ten doch haben.
Das Zusam­men­le­ben mit wort­kar­gen Teen­agern, die womög­lich immer eine leicht mürri­sche und abwei­sende Haltung zeigen, ist eine Heraus­for­de­rung. Sie fordern Vertrauen und Selb­stän­dig­keit, ihr Verhal­ten ermun­tert uns Eltern aber nicht dazu.

Jugend­li­che müssen aber eigene Wege gehen, Fehler machen und Erfah­run­gen sammeln können, um dadurch klüger und verant­wor­tungs­be­wuss­ter zu werden. Wir unter­stüt­zen sie in diesem Lern­pro­zess, wenn wir sie in die Verant­wor­tung einbin­den. Fürch­ten Sie, dass Ihr Sohn zu wenig schläft? Oder zu spät kommt? Dann teilen Sie ihm Ihre Befürch­tung mit, als Sorge, und nicht als Vorwurf oder Appell. Es lohnt sich, die Ausgangs­zei­ten zusam­men mit Ihrem Sohn auszu­han­deln und zusam­men die Konse­quen­zen fest­zu­le­gen, wenn er zu spät ist.

Jugend­li­che sind durch­aus bereit, Regeln einzu­hal­ten. Aber dazu müssen sie bei der Entschei­dung mit einbe­zo­gen werden. Aufdik­tierte Regeln mag niemand, ganz gleich wie alt man ist, und man wird viel Energie dafür verwen­den, sie zu sabo­tie­ren und auszu­he­beln.

Die Schule-Frei­zeit-Balance

Meine Tochter (15) hat zu viel um die Ohren. Sie ist im Gymi, spielt Saxo­phon, ist Pfadi­lei­te­rin und spielt Volley­ball. Zwischen all den Hobbys vernach­läs­sigt sie die Schule sträf­lich und ihre Noten leiden darun­ter. Ich habe sie vor die Wahl gestellt, entwe­der zurück in die Sek oder sie muss eines ihrer Hobbys aufge­ben, damit die Noten besser werden. Volley­ball ist jetzt zwar gestri­chen, aber seither herrscht eisiges Schwei­gen zwischen uns.
Entschei­dun­gen treffen, Konse­quen­zen tragen: Solche Erfah­run­gen machen Jugend­li­che zu selbst- und verant­wor­tungs­wuss­ten Menschen! Sie haben Ihrer Tochter die Wahl gelas­sen und sie hat sich entschie­den. Dass Ihre Tochter sich nun zurück­zieht, hängt viel­leicht mit ihrer Enttäu­schung zusam­men, dass sie auf etwas verzich­ten muss. Auch das ist ein wich­ti­ger Lern­pro­zess.

Viel­leicht braucht Ihre Tochter noch etwas darüber hinaus, eine Unter­stüt­zung, die sich nicht nur an der Schul­leis­tung und an den Konse­quen­zen orien­tiert. Enttäu­schung braucht Trost. Ein gelieb­tes Hobby aufzu­ge­ben bedeu­tet Abschied nehmen und stimmt traurig. Harte Entschei­dun­gen treffen zu müssen, tut weh und dieser Schmerz muss irgendwo Platz haben. Wie und bei welcher Gele­gen­heit können Sie Ihrer Tochter Wohl­wol­len und Verständ­nis zeigen – und Ihren Respekt vor ihrem Enga­ge­ment und ihrer Begeis­te­rungs­fä­hig­keit? Ein Lächeln, ein gemein­sa­mes freu­di­ges Erleb­nis, das Lieb­lings­des­sert, ein Begeg­nung, die beide Seiten berührt? Jugend­li­che müssen ihre eigenen Wege gehen. Es ist ein Geschenk für sie, wenn unser Wohl­wol­len und unser «Segen» sie auf diesem Weg beglei­tet.

Martin Gessler

Martin Gessler arbeitet als Eltern- und Erwachsenenbildner bei der Geschäftsstelle Elternbildung im Amt für Jugend und Berufsberatung. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Entwicklung und Durchführung von Elternbildungskursen zu allgemeinen Erziehungsthemen und für Mütter und Väter in Trennung oder Scheidung.

«Viele Eltern fühlen sich grund­sätz­lich im Dilemma: Alles verbie­ten will man nicht, weil das Kind in der Welt Erfah­run­gen sammeln muss. Aber wie setzt man Regeln um, die das Kind von sich aus akzep­tiert?

Wir Erwach­se­nen halten uns auch nicht immer frei­wil­lig und aus innerer Über­zeu­gung an Regeln, sondern weil wir sie als gesell­schaft­li­che Verein­ba­rung hinneh­men oder weil sie gesetz­lich vorge­schrie­ben sind.

Auf die Familie über­tra­gen heisst das: Der Anspruch, dass Kinder immer einsich­tig und frei­wil­lig Fami­li­en­re­geln befol­gen, ist eine Illu­sion und eine Über­for­de­rung für Kinder wie Eltern. Wir können als Eltern unser Kind nicht vor schmerz­haf­ten Erfah­run­gen bewah­ren, auch wenn uns das selber weh tut. Familie ist ein Teil der Welt, in der die Kinder hinein­wach­sen müssen. Immer wieder schei­tern sie, sind enttäuscht und müssen sich in mühsa­men Lern­pro­zes­sen Fähig­kei­ten erar­bei­ten, wie z. B. laufen lernen, mit Messer und Gabel essen, mit einer Schere schnei­den und – das wohl Schwie­rigste – die eigenen Gefühle steuern.

Eltern tragen die Verant­wor­tung in der Familie, Kinder sind nicht gleich­be­rech­tigt. Aber sie sind viel eher bereit, zu koope­rie­ren und die gemein­sam erstell­ten Regeln einzu­hal­ten, wenn sie mitspre­chen dürfen: Wer erlebt, dass eigene Anlie­gen ange­hört und Gefühle respek­tiert werden, kann gelas­sen bleiben. Er oder sie wird viel weniger mit Wutaus­brü­chen reagie­ren, um sich ernst genom­men zu fühlen.»