Alleinerziehender Pflegevater

«Als Reda mir Papi sagte, ist er für mich vom Göttibueb zum Sohn geworden»

Seit Anfang 2017 lebt Reda (11) bei Johan­nes Boesi­ger. Ihre Bezie­hung zuein­an­der ist über die Jahre auf beson­dere Weise gewach­sen: Zuerst ersetzte der Filme­ma­cher und Dreh­buch­au­tor als Götti den fehlen­den leib­li­chen Vater von Reda. Später schweisste sie ein tragi­sches Ereig­nis noch mehr zusam­men, so dass sie sich heute Vater und Sohn nennen.

Herr Boesi­ger, was waren die Umstände und die Moti­va­tion, dass Sie ein Pfle­ge­kind bei sich aufge­nom­men haben?
Ich war mit Redas Mutter eng befreun­det. Nach der Geburt von Reda 2012 wurde ich sein Götti. Da sein leib­li­cher Vater in den Wirren des Lebens verlo­ren gegan­gen ist, hatte ich schon damals eine sehr präsente Rolle. Ich wohnte zwar in London, pendelte aber oft zwischen Zürich und London hin und her.

Wie verlief die Geschichte weiter?
Redas Mutter erkrankte leider sehr schwer und verstarb schliess­lich 2017. Aufgrund der inten­si­ven Bezie­hung zu Reda war es für mich eine Selbst­ver­ständ­lich­keit, die Aufgabe eines Göttis in dieser Situa­tion wahr­zu­neh­men und fortan für ihn zu sorgen. Im Übrigen war dies auch der Wunsch seiner Mutter gewesen. Sie hat ihn münd­lich geäus­sert und schrift­lich hinter­las­sen. Es hat meiner­seits keine Moti­va­tion gebraucht; es war eine Selbst­ver­ständ­lich­keit.

Ein solches Ereig­nis brachte grosse Verän­de­run­gen mit sich …
Ja, klar. Als ich im Herbst 2016 von Zürich nach London zurück­flog, blickte ich aus dem Flug­zeug­fens­ter und sagte zu mir: «Ich bin schon ein privi­le­gier­ter Mensch. Ich habe drei erwach­sene Kinder, drei Enkel und einen wunder­ba­ren Götti­bub, den ich ohne grös­sere Verpflich­tun­gen treffen kann.» Nur wenige Monate später hat das Leben einen komplett anderen Lauf genom­men.

Ich habe die Behör­den als freund­lich, zuvor­kom­mend und koope­ra­tiv erlebt.

Wie haben Sie den Prozess zum bewil­lig­ten Pfle­ge­ver­hält­nis erlebt?
Der Prozess war ein sehr einfa­cher. Nach dem Ableben seiner Mutter war Reda unter der Obhut gewesen von mir, von der Familie meines grossen Sohnes und von Redas Gross­el­tern mütter­li­cher­seits. Zuerst fanden Sitzun­gen mit der KESB statt. So erfuhr die Behörde vom Willen der Mutter und davon, dass ich bereit war, nach zwölf­jäh­ri­gem Aufent­halt im Ausland zurück nach Zürich zu ziehen und mich fortan um den kleinen Mann zu kümmern. Nach ein paar Wochen Über­gangs­phase mit dem Vormund des Sozi­al­zen­trums Dorf­linde, Wohnungs­su­che und Umzug habe ich mich wieder in der Schweiz ange­mel­det und wurde dann zu Redas Pfle­ge­va­ter. Das waren unge­fähr zwei, drei Monate nach dem Ableben der Mutter.

Welche Erfah­run­gen haben Sie mit den Behör­den gemacht?
Ich habe die Behör­den als freund­lich, zuvor­kom­mend und koope­ra­tiv erlebt. Sie haben reali­siert, dass ich ein auslö­sen­der Faktor war bei der Refor­mie­rung der Vormund­schafts­be­hörde. Ich produ­zierte Anfang der Neun­zi­ger­jahre den Film «Kinder der Land­strasse» nach meinem Dreh­buch. Dieser Film hat zusam­men mit poli­ti­schen Entwick­lun­gen dazu geführt, dass sich die Vormund­schaft in der Schweiz änderte. Daraus ist die heutige KESB hervor­ge­gan­gen.

Wie hat Ihre Familie auf Reda reagiert?
Allesamt positiv und unter­stüt­zend. Meine Familie kannte Reda bereits sehr gut, weil ich, wie eingangs erwähnt, seit seiner Geburt stark mit ihm verbun­den war. Ich glaube auch, meine Familie war erleich­tert, dass ich bereit war, diesen Schritt zu gehen.

Für Reda war die Zeit unmit­tel­bar nach dem Tod seiner Mutter bestimmt schwie­rig. Konnte er sich gut in die neue Familie inte­grie­ren?
Reda hat sich von Anfang an sehr wohl gefühlt. Die ersten andert­halb Jahre nannte er mich noch Götti. Dann fragte er mich, ob er mich nicht Papi nennen dürfe. Das war natür­lich okay. Später kam er zu mir und sagte, ich sei für ihn jetzt auch ein biss­chen sein Mami. Reda darf sich aber von allen Seiten unter­stützt fühlen. Das Verhält­nis zu seinen Geschwis­tern, wie er sie heute nennt, ist extrem gut. Wenn jemand in der Schule mit ihm Streit sucht, sagt er gerne: «Mit mir musst du dich nicht anlegen. Sonst hole ich meinen Bruder und der ist dreis­sig Jahre älter als ich.»

Hat sich Ihre Bezie­hung zu Reda verän­dert, seit Sie sein Pfle­ge­va­ter sind?
Kurz und knapp gespro­chen: Spätes­tens als er mich fragte, ob er mir Papi sagen dürfe, ist er für mich endgül­tig vom Göttibueb zum wirk­li­chen Sohn gewor­den. Diese innere Trans­for­ma­tion hat auch bei mir statt­ge­fun­den.

Reda misst der fehlen­den biolo­gi­schen Verbin­dung zwischen uns keine so grosse Bedeu­tung zu wie andere.

Was waren die anfäng­li­chen Heraus­for­de­run­gen für Sie als Pfle­ge­va­ter?
Ich konnte meine beruf­li­che Tätig­keit und die väter­li­chen Pflich­ten nur schwer unter einen Hut bringen. Ich habe deshalb anfäng­lich kaum gear­bei­tet, sondern mich vor allem um Reda geküm­mert. Zusam­men mit dem Wohn­ort­wech­sel nach Zürich bedeu­tete dies für mich eine grosse Umstel­lung.

Wünsch­ten Sie sich in gewis­sen Situa­tio­nen mehr staat­li­che Unter­stüt­zung?
Nein. Ich habe die Unter­stüt­zung der Behör­den als sehr hilf­reich und umfas­send erfah­ren. Alles lief rund. Nach so einer tragi­schen Wende hat man einen Adre­na­lin-Schub, muss man einfach funk­tio­nie­ren und agieren. Bei mir tauchte zum Beispiel die Frage auf: Wie bekomme ich in Zürich so schnell eine Wohnung? Ich wandte mich an die Stadt­prä­si­den­tin, worauf sie mich an die Liegen­schafts­ver­wal­tung verwies. So tauchte unter anderen unsere jetzige Wohnung auf. Wir beide haben uns die Wohnung dann ange­schaut. Reda lief durch die Räume und sagte bei einem: «Das wird mein Zimmer.»

Konnten Sie sich inner­halb Ihrer Familie Unter­stüt­zung holen, wenn Sie sie benö­ti­gen?
Bis heute, ja. Das ist sehr wichtig, denn ich arbeite wieder mehr. Damit verbun­den sind auch Reisen ins Ausland. Während meinen Abwe­sen­hei­ten ist Reda voll­stän­dig einge­bet­tet in meine Patch­work­fa­mi­lie. Meine Ex-Frau mit ihren Kindern, mein älterer Sohn mit Familie, meine ältere Tochter und Redas Gross­mutter mütter­li­cher­seits wohnen alle im Umkreis von nur wenigen hundert Metern von hier. Die jüngste Tochter, die auch schon Mitte zwanzig ist, bezeich­net Reda als die «zweit­schönste Frau der Welt», nach seiner verstor­be­nen Mutter. Wir alle leben in einem Fami­li­en­kon­text, der geprägt ist von Wohl­wol­len, Unter­stüt­zung und Liebe. Wir verbrin­gen auch Ferien mitein­an­der.

Was denken Sie, welche Rolle spielen Sie nun im Leben von Reda?
Ich glaube, er betrach­tet mich nicht als seinen Pfle­ge­va­ter im eigent­li­chen Sinne, sondern als wirk­li­chen Vater. Das hängt auch damit zusam­men, dass er seinen leib­li­chen Vater kaum kennt. Er misst der fehlen­den biolo­gi­schen Verbin­dung zwischen uns keine so grosse Bedeu­tung zu wie andere. Ich bin einfach sein Papi. Punkt.

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