Genitalbeschneidung bei Mädchen und Frauen: Wie mit dem Thema umgehen?
Über 200 Millionen Mädchen und Frauen weltweit sind von Genitalbeschneidung betroffen. Nadia Bisang setzte sich während mehrerer Jahre bei der Caritas Schweiz für die Prävention ein. Im Gespräch zeigt sie die Komplexität des Themas auf und gibt Tipps, wie man sich bei einem Verdacht gegenüber Betroffenen verhalten kann.
Nadia Bisang, Sie möchten für unser Gespräch den Begriff weibliche Genitalbeschneidung benutzen und nicht Verstümmelung. Warum?
Es gibt verschiedene Begriffe für die Beschneidung. Im juristischen Kontext spricht man von Genitalverstümmelung, um klar zu zeigen: Es handelt sich hierbei um Gewalt an Mädchen und Frauen. Das soll auch nicht mit Worten beschönigt werden. Genitalverstümmelung ist in der Schweiz per Gesetz verboten und strafbar. Bei meiner Arbeit habe ich allerdings gemerkt, dass ich Betroffene mit dem Wort vor den Kopf stosse. Sie sind mit der Tradition der Beschneidung aufgewachsen. Es gehört für sie zum Frau- und Muttersein dazu und sie haben deshalb kein schlechtes Selbstbild.
In der Schweiz ist das Bild ein anderes.
Wenn betroffene Frauen die Grenzen zu westlichen Ländern überquert haben, werden sie zum ersten Mal mit unserer Wahrnehmung konfrontiert. Eine Auseinandersetzung mit so gegensätzlichen Traditionen und Werten braucht Zeit. Wenn wir Betroffene als verstümmelt bezeichnen, stigmatisieren wir sie – und schreiben ihnen damit ein zweites Mal vor, welches Frauenbild sie zu erfüllen haben.
Welche Bedeutung hat die Tradition?
Aus gesellschaftlicher Sicht wird ein Mädchen durch Beschneidung ehrbar und heiratsfähig. Manchmal werden dafür ästhetische Gründe angegeben, vielfach auch religiöse. Wenn auch Imame zur Beschneidung aufrufen, vermischen sich Kultur und Religion. Doch es gibt keine Schriften, die die Beschneidung von Mädchen vorschreiben. Weder im Islam noch im Christentum. In Ländern, in denen die invasivste Form praktiziert wird, die sogenannte Infibulation, gilt die Beschneidung als Zeichen von Jungfräulichkeit bei der Hochzeit. Hintergründig geht es also um die Kontrolle der Sexualität der Frau.
Beschnittene Mädchen und Frauen gelten als ehrbar. Dennoch leiden viele an gesundheitlichen Folgeproblemen. Wie passt das zusammen?
Die Folgen für ihre Gesundheit sind auf jeden Fall gegenwärtig. Aber vielfach nehmen sie diese hin, erachten sie als normal; alle sind schliesslich davon betroffen. Alternativen sind keine Option. Die Tradition ist zudem so tief verankert und mit sozialen Normen verflochten, dass selbst Mütter der Unversehrtheit ihrer eigenen Töchter nichts Gutes abgewinnen können.
Die Folgen kann man allerdings nicht pauschalisieren. Je nach Land und Region wird die Tradition unterschiedlich gelebt. Es gibt verschiedene Formen der Beschneidung, die mit verschiedenen Werkzeugen, von Personen mit unterschiedlichem medizinischem Wissen und in unterschiedlichem Lebensalter durchgeführt werden. So unterscheiden sich auch die gesundheitlichen Auswirkungen. Es gibt invasive Formen mit schwerwiegenden Folgen bis hin zum Tod und solche, die selbst für eine Gynäkologin nicht einfach feststellbar sind.
Weibliche
Genitalverstümmelung ist …
… die teilweise oder vollständige Entfernung der äusseren weiblichen Genitalien oder eine andere Verletzung der weiblichen Genitalien aus nicht-medizinischen Gründen. Sie hat keine gesundheitlichen Vorteile, aber die unmittelbaren und langfristigen gesundheitlichen Folgen sind zahlreich: Dazu gehören Infektionen und abnorme Narbenbildung, lähmende Schmerzen oder der Tod. (WHO)
Wie sieht die Situation in der Schweiz aus?
Mittlerweile gibt es ein gut etabliertes Netzwerk und Communitys sowie spezialisierte Fachpersonen und Fachstellen. Wichtig ist mir, das Thema nicht als skandalöse, «fremde» Tradition zu verteufeln. So sind auch in Europa bis ins zwanzigste Jahrhundert medizinische Eingriffe an den Genitalien von Frauen belegt. Etwa mit der Idee, Hysterie oder Homosexualität zu heilen oder gegen Selbstbefriedigung vorzugehen. Ausserdem: Schauen wir bei uns einmal genauer hin – reden wir genug über Tabus und gesellschaftlichen Druck bei Schönheitsidealen? Natürlich ist kosmetische Genitalchirurgie vordergründig freiwillig – doch warum wünschen sich zum Beispiel junge Frauen in der Schweiz, dass ihre Vulvalippen anders aussehen? Die Zahlen dieser Eingriffe finde ich erschreckend hoch.
Haben Sie bei Ihrer Arbeit Veränderungen feststellen können?
In den letzten zwanzig Jahren gab es Fortschritte. Gleichzeitig kamen aber auch immer mehr Mädchen und Frauen aus den betroffenen Ländern in die Schweiz, weshalb die Zahlen dennoch anstiegen. Solche jahrhundertealten Traditionen zu ändern, ist immer schwierig. Ich denke aber, dass man von einem gewissen Wandel im Denken sprechen kann. In Eritrea beispielsweise gingen die Zahlen in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten enorm zurück. Wurden zuvor rund 90 Prozent der Mädchen beschnitten, spricht man heute noch etwa von einem Drittel. Diese Entwicklung gilt leider nicht für alle Länder, solche Erfolge sind aber ermutigend.
Welche Erfolge haben Sie bei Ihrer Präventionsarbeit erlebt?
Einige Frauen und Männer aus den entsprechenden Herkunftsländern engagieren sich seit über fünfzehn Jahren mit Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit – auch gegen Kritik aus den eigenen Gemeinschaften. Dabei habe ich auch Männer erleben dürfen, die bei der Geburt ihrer Kinder begriffen, wie stark ihre Frauen leiden mussten. Sie wollten das nicht und begannen sich stark zu engagieren. Einmal setzte sich ein junger Mann bei der Hochzeit dafür ein, dass seine Frau in der Schweiz medizinisch behandelt und von ihren Schmerzen befreit wird. Wenn sich Betroffene so mit uns zusammen engagieren und als Multiplikatoren wirken, Männer wie Frauen, ist das unglaublich wertvoll.
Wo wird weibliche Genitalbeschneidung als Tradition gelebt?
Die grosse Mehrheit der betroffenen Mädchen und Frauen lebt im westlichen und nordöstlichen Afrika, wo in manchen Gebieten über neunzig Prozent der weiblichen Bevölkerung beschnitten sind. Auch im Nahen Osten ist die Praxis verbreitet. In der Schweiz spricht man von ungefähr 22 000 betroffenen oder gefährdeten Mädchen und Frauen.
Wie wichtig ist der Einbezug von Männern?
Sehr wichtig. Männer werden als Ehemänner direkt mit dem Thema konfrontiert und haben als Väter die Verantwortung, ihre Kinder zu schützen. Zudem sind sie oft noch mit ihren Herkunftsfamilien in Kontakt, die sie unter Druck setzen, die Traditionen aufrechtzuhalten. Gerade wenn sie mit ihren Familien in den Ferien zurück nach Hause gehen, kann der Druck vor Ort enorm hoch werden. Sie sollen deshalb nicht nur über die gesundheitlichen Folgen und die rechtliche Situation in der Schweiz Bescheid wissen, sondern auch darin gestärkt werden, eine eigene Haltung einzunehmen.
Wie sehen die Behandlungsmöglichkeiten aus?
Die medizinische Behandlung wird in der Schweiz von der Krankenkasse übernommen. Meiner Erfahrung nach unterzieht sich jedoch nur ein kleiner Teil der Betroffenen einer Behandlung. Das Thema hat für die Frauen keine Priorität. Sie leben schon lange so und haben einen Weg gefunden, damit umzugehen. Viele haben Fluchtgeschichten hinter sich, die oft viel traumatisierender sind. Nun geht es darum, dass ihre Kinder in der Schweiz in Sicherheit aufwachsen können.
Was würden Sie empfehlen, wenn jemand mit dem Thema in Berührung kommt? Zum Beispiel Eltern, deren Kinder Spielkameradinnen aus betroffenen Ländern haben.
Es ist immer eine Gratwanderung zwischen nicht vorschnell urteilen und trotzdem nicht wegschauen. Wenn die Mädchen hier leben und aufgewachsen sind, ist davon auszugehen, dass sie selbst keine Beschneidung erlebt haben. Bei einem unguten Gefühl, sind in erster Linie Hintergrundwissen und ein vertrauensvoller Kontakt wichtig. Mitleid oder Verurteilung sind nicht angebracht. Am besten wendet man sich an eine Fachstelle und reflektiert, ob und wie man im Einzelfall vorgehen kann.
Information und Beratung
Das Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz maedchenbeschneidung.ch setzt sich für den Schutz von gefährdeten Mädchen und Frauen vor weiblicher Genitalbeschneidung ein.
Weitere Informationen für Fachpersonen
- Leitfaden zu weiblicher Genitalbeschneidung und Kindesschutz (Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz)
- Leitfaden für die professionelle Beratung im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich (Nadia Bisang, 2019)