Weibliche Genitalverstümmelung: Wie mit dem Thema umgehen?
Jedes Jahr findet am 6. Februar der Internationale Tag für Nulltoleranz gegenüber weiblicher Genitalverstümmelung statt. Auch in der Schweiz sind Mädchen und Frauen von Beschneidung betroffen. Nadia Bisang setzte sich während mehrerer Jahre bei der Caritas Schweiz für die Prävention ein. Sie plädiert dafür: Nicht wegsehen, die Komplexität des Themas dabei aber respektvoll im Blick haben.
Nadia Bisang, Sie bevorzugen es, in unserem Gespräch von weiblicher Genitalbeschneidung und nicht von Verstümmelung zu sprechen. Warum?
Nadia Bisang: Es gibt verschiedene Begrifflichkeiten, wobei ich bei deren Verwendung die Sensibilität für den Kontext wichtig finde. Im juristischen Bereich spricht man von Genitalverstümmelung, um klar zu zeigen: Es handelt sich hierbei um Gewalt an Mädchen und Frauen. Diese ist in der Schweiz per Gesetz verboten und strafbar, das soll auch nicht mit Begriffen beschönigt werden. In meiner Arbeit mit Betroffenen habe ich allerdings gemerkt, dass ich die Frauen damit vor den Kopf stosse. Sie sind mit dieser Tradition aufgewachsen und haben gelernt, dass sie die Beschneidung zu etwas Ehrbarem macht. Es gehört für sie zum Frau- und Muttersein dazu, sie haben deshalb kein schlechtes Selbstbild. Erst wenn sie die Grenzen zu westlichen Ländern überquert haben, werden sie zum ersten Mal mit unserer Wahrnehmung davon konfrontiert. Doch eine solche Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Vorstellungen und eigenen Traditionen braucht Zeit. Wenn wir Betroffene als verstümmelt bezeichnen, stigmatisieren wir sie – und schreiben ihnen damit ein zweites Mal vor, wie sie sich selbst zu verstehen haben.
Auch wenn es als ehrbar gilt – mit den negativen Folgen sind die Mädchen und Frauen aber dennoch oft konfrontiert. Wie passt das zusammen?
Die gesundheitlichen Folgen sind auf jeden Fall präsent. Aber vielfach nehmen sie diese hin, erachten sie als normal; alle haben schliesslich diese Folgen. Ausserdem sind Alternativen gar nicht erst eine Option. Je länger ich in dem Bereich gearbeitet habe, desto mehr habe ich aber gesehen: Man kann die Folgen nicht pauschalisieren. Je nach Land und Region wird die Tradition sehr unterschiedlich gelebt. Es gibt verschiedene Formen der Beschneidung, die mit verschiedenen Werkzeugen, von Personen mit unterschiedlichem medizinischem Wissen und in unterschiedlichem Lebensalter durchgeführt werden. So sind auch die gesundheitlichen Folgen sehr unterschiedlich. Es gibt invasive Formen mit schwerwiegenden Folgen bis zum Tod und solche, die selbst für eine Gynäkologin nicht einfach feststellbar sind.
Man kann die Folgen nicht pauschalisieren. Je nach Land und Region wird die Tradition sehr unterschiedlich gelebt.
Was ist der Grund für diese Tradition?
Vordergründig hat es mit der Rolle von Mädchen und Frauen zu tun. Die Beschneidung macht ein Mädchen ehrbar, heiratsfähig und gesellschaftlich akzeptiert. Dabei werden manchmal ästhetische Gründe vorgegeben, vielfach auch religiöse. Doch es gibt keine Schriften, weder im Islam noch im Christentum, die die Beschneidung von Mädchen vorschreiben würden. Da es aber Imame gibt, die dazu aufrufen, vermischen sich Kultur und Religion. Grundsätzlich geht es allerdings um die Kontrolle der Sexualität der Frau. In Ländern, in denen die invasivste Form praktiziert wird, die sogenannte Infibulation, gilt die Beschneidung für einen Mann beispielsweise auch als Zeichen von Jungfräulichkeit bei der Hochzeit. Dieses Bild vom Frausein ist oft so tief verankert und mit sozialen Normen verflochten, dass selbst Mütter Mühe damit haben, der Unversehrtheit ihrer Töchter Gutes abzugewinnen.
Wie sieht die Situation in der Schweiz aus?
Die grosse Mehrheit der betroffenen Mädchen und Frauen lebt im westlichen und nordöstlichen Afrika, wo in manchen Gebieten über neunzig Prozent der weiblichen Bevölkerung beschnitten sind. Doch auch im Nahen Osten ist die Praxis verbreitet. Durch die Migration leben auch Migrantinnen aus diesen Gebieten in der Schweiz, gemäss Schätzungen spricht man von ungefähr 22 000 betroffenen oder gefährdeten Mädchen und Frauen. Durch Fluchtbewegungen aus diesen Ländern wurden wir in der Schweiz auf das Thema aufmerksam, oft zuerst im Gesundheitswesen, wo unser medizinisches Personal zu Beginn meist schockiert war. Allmählich begann man, das Thema aufzugreifen, Fachpersonen auszubilden und Präventionsarbeit zu leisten. Heute gibt es ein gut etabliertes Netzwerk und Communitys sowie spezialisierte Fachpersonen und Fachstellen.
Haben Sie in den letzten Jahren Veränderungen feststellen können?
In den letzten zwanzig Jahren konnten grosse Fortschritte verzeichnet werden. Gleichzeitig kamen aber auch immer mehr Mädchen und Frauen aus den betroffenen Ländern in die Schweiz, weshalb die Zahlen dennoch anstiegen. Solche jahrhundertealten Traditionen zu ändern, ist natürlich immer schwierig. Ich denke aber schon, dass man auch von einem gewissen Wandel im Denken sprechen kann. In Eritrea beispielsweise gingen die Zahlen in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten enorm zurück. Wurden zuvor rund 90 Prozent der Mädchen beschnitten, spricht man heute noch etwa von einem Drittel. Diese Entwicklung gilt leider nicht für alle Länder, solche Erfolge sind aber natürlich sehr ermutigend.
Jahrhundertealte Traditionen zu ändern ist natürlich immer schwierig. Ich denke aber schon, dass man von einem gewissen Wandel im Denken sprechen kann.
Gab es auch Veränderungen bei Ihrer Präventionsarbeit?
Auch da habe ich Wandel beobachten können. Einige Frauen und Männer aus entsprechenden Herkunftsländern engagieren sich seit über fünfzehn Jahren mit Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit – auch gegen Kritik aus den eigenen Gemeinschaften. Dabei habe ich auch Männer erleben dürfen, die beispielsweise bei den Geburten ihrer Kinder begriffen, wie stark ihre Frauen leiden mussten. Sie wollten das nicht und begannen sich stark zu engagieren. Einmal habe ich auch einen jungen Mann erlebt, der sich bei der Heirat dafür eingesetzt hat, dass seine Frau in der Schweiz medizinisch behandelt und von ihren Schmerzen befreit werden konnte. Wenn sich Betroffene so mit uns zusammen engagieren und als Multiplikatoren wirken, Männer wie Frauen, ist das unglaublich wertvoll.
Wie sehen die Behandlungsmöglichkeiten in der Schweiz aus?
Es gibt die Möglichkeit von medizinischer Behandlung und operativen Eingriffen. Diese werden von der Krankenkasse übernommen. Meiner Erfahrung nach unterzieht sich jedoch nur ein kleiner Teil der Betroffenen einer Behandlung. Das Thema ist für die Frauen nicht prioritär, sie leben schon lange so und haben einen Weg gefunden, damit umzugehen. Viele haben Fluchtgeschichten hinter sich, die oft viel traumatisierender sind. Nun geht es um die eigene Zukunft in der Schweiz, ihre Kinder und darum, dass diese in Sicherheit aufwachsen können.
Wie wichtig ist der Einbezug von Männern in der Thematik?
Sehr wichtig. Männer haben als Ehemänner auch mit dem Thema zu tun und als Väter die Verantwortung, ihre Kinder zu schützen. Zudem sind sie oft noch mit ihren Herkunftsfamilien in Kontakt, die sie unter Druck setzen, die Traditionen aufrechtzuhalten. Sie sollen deshalb nicht nur Hintergrundwissen zu den Folgen und zur rechtlichen Situation in der Schweiz haben, sondern auch darin gestärkt werden, ihre eigene Haltung entwickeln zu dürfen. Gerade auch wenn sie mit ihren Familien zurück in die Ferien gehen, kann der Druck vor Ort enorm gross werden. Da ist es wichtig, dass Mütter wie Väter gestärkt sind und im Wissen um ihre Verantwortung gegenüber den Kindern zurück in ihre Herkunftsländer gehen können.
Auch Männer sollen darin gestärkt werden, ihre eigene Haltung entwickeln zu dürfen.
Reden Betroffene untereinander darüber oder ist es mehr ein gesellschaftlicher Druck, dem man sich stillschweigend beugt?
In meiner Erfahrung findet kaum Austausch dazu statt. In Familien wird selten darüber gesprochen, vor allem nicht über das eigene Erleben oder gesundheitliche Probleme. Es ist ein Tabuthema. Wichtig ist mir aber, Beschneidungen trotzdem nicht nur als skandalöse Tradition aus dem «fernen Afrika» zu behandeln. Schauen wir doch einmal bei uns genauer hin – reden wir genug über Tabus und gesellschaftlichen Druck? Nicht im selben Ausmass, aber auch in Europa haben wir eine Geschichte mit der Beschneidung von Frauen. So sind bis ins zwanzigste Jahrhundert medizinische Eingriffe an den Genitalien von Frauen belegt, etwa mit der Idee, Hysterie oder Homosexualität zu heilen oder gegen Selbstbefriedigung vorzugehen. Ausserdem dürfen wir auch bei unseren heutigen Schönheitsidealen kritisch hinschauen: Natürlich ist bei uns kosmetische Genitalchirurgie vordergründig freiwillig – doch woher wissen junge Frauen, dass ihre Schamlippen anders auszusehen haben? Die Zahlen dieser Eingriffe finde ich bereits erschreckend hoch.
Was würden Sie empfehlen, wenn jemand mit dem Thema in Berührung kommt? Zum Beispiel Eltern, deren Kinder Spielkameradinnen aus betroffenen Ländern haben.
Es ist immer eine Gratwanderung zwischen nicht wegschauen und nicht vorschnell urteilen. Denn wenn die Mädchen hier leben und aufgewachsen sind, ist davon auszugehen, dass sie selbst keine Beschneidung erlebt haben. Auch Mitleid oder Verurteilung sind nicht angebracht. Wenn man handeln möchte, sind daher in erster Linie Hintergrundwissen, Vertrauen und direkter Kontakt wichtig. Am besten wendet man sich aber immer zuerst an eine Fachstelle und reflektiert, ob und wie man im Einzelfall vorgehen könnte.
Information und Beratung
Das Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz www.maedchenbeschneidung.ch setzt sich für den Schutz von gefährdeten Mädchen und Frauen vor weiblicher Genitalbeschneidung ein.
Weitere Informationen für Fachpersonen
- Leitfaden zu weiblicher Genitalbeschneidung und Kindesschutz (Netzwerk gegen Mädchenbeschneidung Schweiz)
- Leitfaden für die professionelle Beratung im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich (Nadia Bisang, 2019)