Hört auf zu schreien!

Kinder sind bei Gewalt zuhause immer mitbetroffen

Kinder sind bei Gewalt in der Part­ner­schaft immer mitbe­trof­fen – gehen dabei aber oft verges­sen. Die Folgen für ihre Entwick­lung können schwer sein. Wichtig ist, dass betrof­fene Eltern früh­zei­tig handeln.

Tobi spürt noch vor dem ersten Wort: die Stim­mung zuhause ist nicht gut. Etwas ihm Bekann­tes liegt in der Luft wie ein schreck­li­cher Vorbote. Er weiss, was kommt, wenn sein Vater das Bier ausge­trun­ken hat. Er kennt den Ablauf, die Schreie, die Wut und die Angst. Wie Tobi geht es vielen Kindern. Im Kanton Zürich rückt die Polizei bis zu 20 Mal pro Tag wegen Streit in der Familie und häus­li­cher Gewalt aus. In vielen Fällen sind Kinder anwe­send.

Trau­ma­ti­sche Belas­tung für Kinder

Häus­li­che Gewalt hat für Kinder häufig schwere Folgen. Es kann zu trau­ma­ti­schen Belas­tun­gen führen und ihre soziale und psychi­sche Entwick­lung beein­träch­ti­gen. Beson­ders bei kleinen Kindern. «Je abhän­gi­ger ein Kind von seinen Eltern ist, umso verun­si­chern­der und beängs­ti­gen­der ist die Situa­tion und umso stärker wirkt sie sich auf die Entwick­lung des Kindes aus», sagt Juris­tin und Kinder­schutz­ex­per­tin Sandra Stössel.

Aber auch für ältere Kinder ist Gewalt zwischen den Eltern gravie­rend. Die Belas­tung kann unter anderem zu Angst, Aggres­si­vi­tät, Unruhe oder Nieder­ge­schla­gen­heit führen, zu Schuld­ge­füh­len oder schlech­ten Schul­leis­tun­gen. Nicht selten versu­chen Kinder, die Gewalt­si­tua­tion zu verhin­dern, indem sie sich ange­passt verhal­ten oder sich sogar vor den bedroh­ten Eltern­teil stellen.

Die Forschung zeigt, dass Mädchen und Jungen im glei­chen Masse betrof­fen sind. Dazu kommt, dass Kinder oft das Vorge­lebte über­neh­men. «Sie lernen, Probleme auf die gleiche Weise zu lösen und handeln später nach densel­ben Mustern wie ihre Eltern», sagt Sandra Stössel.

Kinder sind auch bei Gewalt in der Part­ner­schaft immer mitbe­trof­fen

«Part­ner­schafts­ge­walt ist deshalb so schlimm für Kinder, weil die Perso­nen, auf die sie sich am meisten verlas­sen, einan­der schaden», verdeut­licht Regula Kupper, Leite­rin des kjz Winter­thur. Sie befasst sich seit Langem mit häus­li­cher Gewalt. «Das Recht auf ein gewalt­freies Aufwach­sen bedeu­tet nicht nur, dass ein Kind keine aktive Gewalt erfährt, sondern auch, dass es in einem gewalt­freien Umfeld aufwach­sen kann», ergänzt Sandra Stössel.

Auch zeigen Studien, dass Part­ner­schafts­ge­walt früher oder später auch zu Gewalt gegen­über Kindern führen kann. «Das Tabu ist mit dem ersten Schlag gebro­chen», sagt Regula Kupper. Habe man sich daran gewöhnt, einen Konflikt in der Part­ner­schaft mit Gewalt zu lösen, könne das schnel­ler zu Gewalt gegen­über Kindern führen.

Ange­pass­tes Gewalt­schutz­ge­setz: neue Kinder­an­spra­che

Um Kinder bei Gewalt in der Familie verstärkt zu unter­stüt­zen und schüt­zen, wurde im Kanton Zürich im Sommer 2024 das Gewalt­schutz­ge­setz ange­passt. Neu besteht die soge­nannte Kinder­an­spra­che. Das heisst: Rückt die Polizei bei häus­li­cher Gewalt aus, werden alle betrof­fe­nen Fami­li­en­mit­glie­der an spezia­li­sierte Bera­tungs­stel­len über­wie­sen – neu auch Kinder und Jugend­li­che. Denn auch sie haben ein Recht auf Infor­ma­tion und Bera­tung. Die Bera­tun­gen werden von den Orga­ni­sa­tio­nen kokon und OKey durch­ge­führt. Die Kinder und Jugend­li­chen können dort mit Fach­per­so­nen über das Erlebte spre­chen.

Früh­zei­tig handeln

Ein lautes Wort, eine hitzige Diskus­sion – wann wird aus einem harm­lo­sen Streit eine Gewalt­si­tua­tion? Die Gewalt­spi­rale beginnt oft schon vor der körper­li­chen Gewalt zu drehen. Der Umgang mitein­an­der wird aggres­si­ver, Beschimp­fun­gen begin­nen. Deshalb ist es wichtig, früh­zei­tig zu handeln, um sich und seine Kinder zu schüt­zen.

Helfen kann:

  • Einsicht: Gewalt schadet immer. Es ist wichtig zu sehen, dass sich die Situa­tion ändern muss. #withyou bietet einen Frage­bo­gen an, um besser einschät­zen zu können, wie gesund die eigene Bezie­hung ist.
  • Kinder schüt­zen: Kinder müssen sich jeman­dem anver­trauen und über ihre Gefühle reden können. Dabei muss klar sein: Sie tragen keine Schuld oder Verant­wor­tung. Bera­tungs­stel­len wie kokon oder OKey sind für Kinder da. Die Stif­tung Kinder­schutz Schweiz hat eine Themen­mappe «Es soll aufhö­ren!» entwi­ckelt.
  • Hilfe holen: Es gibt ein breites Netz­werk an unter­stüt­zen­den Bera­tungs­stel­len für Opfer, Täter oder Täte­rin­nen sowie für Kinder. Mehr Infor­ma­tio­nen bei Stopp Häus­li­che Gewalt vom Kanton Zürich oder bei Häus­li­che Gewalt von feel-ok.ch.
  • Darüber reden: Wenn Freunde über die Situa­tion Bescheid wissen, können sie unter­stüt­zen. Zum Beispiel mit wert­freien Gesprä­chen. Auch können sie notfalls Hilfe holen.
  • Stra­te­gien zurecht­le­gen: Je nach Situa­tion können andere Stra­te­gien helfen. Bera­tungs­stel­len, wie die Kinder- und Jugend­hil­fe­zen­tren (kjz) im Kanton Zürich können dabei unter­stüt­zen, die passende zu finden.
    Einige Beispiele für Stra­te­gien: Wenn Streit aufkommt, die Wohnung verlas­sen. Sich erst tele­fo­nisch oder mit einer Text-Nach­richt austau­schen, ehe man sich wieder trifft. Die Nacht anderswo verbrin­gen, wenn man getrun­ken hat. Weitere mögli­che Stra­te­gien für betrof­fene Frauen und Mütter.
  • Betrof­fene unter­stüt­zen: Wenn man das Gefühl hat, jemand ist von häus­li­cher Gewalt betrof­fen, ist es wichtig, das anzu­spre­chen und auf Bera­tungs­stel­len aufmerk­sam machen. Dabei sollen die Betrof­fe­nen nicht verur­teilt, sondern dabei unter­stützt werden: Gewalt ist nie in Ordnung.

Regula Kupper

Regula Kupper leitet seit 2017 das kjz Winterthur. Sie arbeitet seit über 20 Jahren in der Kinder- und Jugendhilfe und führte u. a. acht Jahre lang eine Abteilung der Jugend- und Familienberatung. Regula Kupper studierte Soziale Arbeit und hat ein MAS in Sozialmanagement.

Sandra Stössel

Sandra Stössel hat sich über zwanzig Jahre lang für den Kindesschutz und die Kinderrechte eingesetzt, u. a. als Projektleiterin im Fachbereich Kinder- und Jugendhilfe beim Amt für Jugend und Berufsberatung und als Leiterin des Fachbereichs Kinder- und Jugendhilfe der Stadt Zürich. Sandra Stössel studierte Rechtswissenschaft und hat einen zusätzlichen Master in Kinderrechten.