Zwei Young Carers erzählen

«Ich wünschte mir nichts auf den Geburtstag – um meine Mutter zu entlasten»

Lydia und Gill sind eigentlich zwei ganz normale junge Menschen, die ihrem Studium nachgehen. Was die beiden von anderen unterscheidet: Sie zählen zu den sogenannten Young Carers. Denn beide betreuten seit ihrer Kindheit enge Angehörige. Die beiden erzählen von Herausforderungen und der grossen Verantwortung.

Ab wann wussten eure Freundinnen und Freunde über eure Situation Bescheid?
Gill: Ich habe erst ab einem gewissen Alter begonnen, mein Umfeld einzuweihen. Enge Freunde merkten es ohne dass wir darüber gesprochen haben und vor allem merkten es auch die Eltern in meinem Bekanntenkreis.

Lydia: Gerade als Kind habe ich oft gedacht, dass dies normal sei und alle eine solche Last zu tragen haben. Dieses Bild zerbrach jedoch beim Besuch von Freunden, wo ich dann beispielsweise auch für meine fürsorgliche Art gelobt wurde. Ich war irgendwie gefangen zwischen Normalität und einem Gefühl, dass man doch irgendwie ein Ausnahmefall ist. Als ich dann als Jugendliche andere Young Carers kennenlernte, konnte ich mich zum ersten Mal mit anderen Personen auf der gleichen Ebene austauschen und sah, dass ich zwar kein Einzelfall bin, aber dass was wir leisten dennoch aussergewöhnlich ist.

Was für Aufgaben musstet ihr übernehmen?
Gill: Bei mir war es so, dass meine Mutter alleinerziehend war und grosse finanzielle Sorgen hatte, was die Situation zusätzlich erschwert hat. Ich machte es mir dann zur Aufgabe, sie zu entlasten, indem ich ihr Dinge nicht erzählte. In der Oberstufe und im Gymnasium sagte ich ihr beispielsweise nichts von den Schulbüchern, die ich bezahlen musste und beschaffte mir das Geld mit Nebenjobs selber. Oder ich wünschte mir nichts auf den Geburtstag und verzichtete auf Nachhilfe für die Gymi-Vorbereitung.

Lydia: Meine Mutter war lange schwer depressiv. So musste ich mich bereits von klein auf um Tätigkeiten im Haushalt kümmern, Arzttermine vereinbaren und meine Mutter begleiten oder dafür sorgen, dass ich frische Wäsche und etwas zu essen hatte. Es waren viele kleine Dinge, die auf lange Sicht eine grosse Belastung und Herausforderung darstellten.

Wie erkenne ich einen Young Carer?

Young Carers gehen unterschiedlich mit den Herausforderungen in ihrem Alltag um. Sie sind daher nicht immer einfach zu erkennen. Es gibt aber mögliche Anzeichen:

Die jungen Personen …

  • haben Eltern, Grosseltern oder Geschwister, die körperlich oder psychisch krank oder beeinträchtigt sind.
  • sind besorgt über das Familienmitglied und in häufigem Kontakt.
  • wirken reifer als viele Gleichaltrige.
  • zeigen äusserst hilfsbereites, emphatisches Verhalten.
  • sind Erwachsenen gegenüber auffallend selbstbewusst.
  • stellen eigene Bedürfnisse oft zurück.
  • zeigen Aggression, Wut – oder umgekehrt, sind sehr unauffällig und angepasst.
  • sind häufig müde, unkonzentriert oder abwesend.
  • zeigen Schwankungen in ihren Leistungen, etwa in der Schule oder Lehre.
  • sind oft verspätet oder nehmen an ausserschulischen Aktivitäten nicht teil.
  • haben körperliche Beschwerden, etwa Rückenschmerzen von der Pflegearbeit.

Habt ihr Unterstützung aus eurem Umfeld erhalten?
Gill: Meine Freunde unterstützten mich vor allem emotional. Sie wussten, dass ich mehr zu tun hatte als sie, und waren zum Beispiel manchmal nachsichtiger oder fragten nach meinem Befinden. Oft durfte ich auch mit anderen Familien mit in die Ferien, da dies mit meiner Mutter nicht möglich war.

Lydia: Die emotionale Unterstützung gab es bei mir auch. Vor allem von Gleichaltrigen, die meine Situation verstanden. Von der Erwachsenenwelt fühlte ich mich aber irgendwie abgeschirmt und ich erachtete es nicht als meine Aufgabe, nach Hilfe oder Unterstützung zu fragen. Es gab aber auch Eltern von Kolleginnen und Kollegen die zwar nicht darüber redeten, mich jedoch zum Abendessen oder zum Übernachten einluden. Das war auch sehr viel Wert.

Hättet ihr euch in manchen Situationen mehr Unterstützung erhofft?
Lydia: Ich studiere Erziehungswissenschaften und bin im Nachhinein manchmal etwas schockiert, wie die Lehrpersonen früher mit mir und anderen in der gleichen Situation umgingen. Sie erwarteten trotz der Umstände, dass wir mit den anderen im gleichen Tempo mitzogen, was jedoch gar nicht möglich war. Vor allem gegen Schluss meiner Schullaufbahn gab es aber auch solche, die mich sehr unterstützten.

Ich empfand es nie als Last, meiner Mutter zu helfen. Ich war einfach etwas überfordert, gerade auch aufgrund meines Alters.

Lydia

Gill: Ich hatte auch viele Lehrerinnen und Lehrer die verständnisvoll waren. Dennoch fühlte ich mich manchmal hilflos. Wir waren nur Mutter und Sohn und konnten beispielsweise vor Behörden oder der Schulleitung nicht in einer starken Verhandlungsposition auftreten. Manchmal hätte ich mir gewünscht, dass ich direkt ansprechen kann, was los ist, ohne mich schämen zu müssen.

Hatte eure Rolle als Young Carers auch Auswirkungen auf die Schule und die Ausbildung?
Lydia: Meine Noten waren nicht die besten und ich konnte oft die Hausaufgaben nicht machen. Zudem war niemand da, um mich zu unterstützen, wenn ich etwas nicht verstand. Ich konnte aber dennoch meinen Schulabschluss machen und bin nun im Studium. Manchmal gab es aber schon Tage, an denen es schwer war. Als Jugendliche muss man ja auch erstmal mit sich selber klarkommen.

Gill: Als ich volljährig wurde, erhielt ich wegen eines Fehlers bei den Behörden keine Alimenten-Bevorschussung mehr. Damals musste ich meinen Vater anzeigen und fehlte wegen dem zusätzlichen Zeitaufwand teilweise auch in der Schule. Ich war stark beansprucht und entsprechend ziemlich schlecht in der Schule. Mit der Zeit entspannte sich die Situation wieder. Teilweise war es aber schon schwierig.

Hat die zusätzliche Verantwortung etwas bei euch verändert?
Lydia: Ich empfand es nie als Last, meiner Mutter zu helfen. Ich war einfach etwas überfordert, gerade auch aufgrund meines Alters. Heute bin ich aber trotzdem gerne für meine Leute da und habe dadurch auch besondere Stärken entwickelt, die ich nicht mehr verlieren werde.

Gill: Wenn man nicht so behütet aufwächst, ist man in gewisser Hinsicht reifer als Freunde im selben Alter. Zum Teil sind es ganz einfache Dinge, beispielsweise dass man weiss, welche Kosten alle auf einen zukommen, oder was es finanziell bedeutet, alleine zu wohnen. Ich habe Kollegen, die heute noch nicht wissen, was eine Prämienverbilligung ist. Da hilft es mir schon, dass ich weiss, worauf ich alles achten muss.

Die Fragen stellte Gina Forte im Podcast «durchstart insights», in dem Jugendliche und Menschen in deren Helfernetz über Probleme, Chancen und Lösungen diskutieren. Forte ist Case Managerin und Job Coach bei durchstart, einem Anbieter von Programmen, um eine nachhaltige Anschlusslösung auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Die Aussagen von Lydia und Gill wurden in der schriftlichen Form gekürzt und überarbeitet. Die ganze Podcast-Episode mit den Young Carern.